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Als das Gewitter begann, ging ich runter zum Strand. Zwischen meinem Haus und dem Meer liegen keine drei Minuten Fußweg. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, nur das tosende Meer und der blitzdurchzuckte Himmel. Der Donner war ohrenbetäubend.
Alles in allem meine Welt.
Der Regen störte mich nicht.
Hier konnte ich weinen.
Ich ließ mich in den nassen Sand fallen und schaute in den dunklen Horizont.
Vergangenheit und Gegenwart scheinen bei mir eins zu sein. Selbst die Zukunft mischt sich ständig ein.
Ich rede in Gedanken mit ihr.
Und ich rede mit mir.
Und ich rede in Gedanken mit dritten Personen.
Alle sollen es wissen.
Ich bin verzweifelt.
Meine Gedanken sind wieder ganz bei ihr.
Wie ein Film laufen die Szenen ständig in meinem Kopf ab.
Ich kenne diesen Film in und auswendig. War ich doch dabei. Bin ich doch dabei.
Und ich kann mich meiner Rolle einfach nicht mehr entziehen.
Die Hauptrolle spielt natürlich sie.
Immer.

Sie kam durch die Tür und mein Atem setzte aus. Niemals hätte ich gedacht, dass so etwas möglich wäre. Nach über 30 Jahren verliebte ich mich auf den ersten Blick in die Frau, die mich damals als Mädchen so fasziniert hatte. Die, die mich nicht wollte. Die, die mich nicht ein einziges mal beachtet hatte.
Unglaublich.
Plötzlich stand sie vor mir.
Meine stille Jugendliebe.
Lächelnd reichte sie mir die Hand.
Wie ein langersehntes Geschenk hielt ich sie viel zu lange fest, aus Angst alles ganz schnell wieder verlieren zu können. Ich taumelte in meinen Gefühlen und verlor für einen kurzen Augenblick den Boden unter den Füßen.
Glücklicherweise hatte sie Nachsicht mit mir.
Sie lächelte.
Die Liebe schlug ein wie der Blitz.
Sofort und unwiderruflich.
Ich musste sie dauern anschauen. Ich kam mir vor, wie ein Idiot.
Sie hörte mir zu, lächelte mich an, zog ihren Arm nicht weg, als ich sie zaghaft berührte. Nein, sie wies mich nach all den Jahren nicht zurück.
Sie erzählte von sich, von ihren Kindern, ihrem tollen Ehemann. Ich wollte es nicht hören.
Ich hörte es nicht.
Ich hörte nur ihre Stimme.
Und versank in ihren Augen.
Sah ihre Blicke.
Der Augenblick war so schön.
Ich wusste, ich würde ihn nie vergessen.
Den Augenblick.
Und sie.
Niemals.
Ich wollte die Zeit anhalten. Suchte verzweifelt nach Worten.
Ich war leer und voll von Liebe.
Beim Abschied lächelte sie, wie sie überhaupt die ganze Zeit immerzu nur gelächelt hatte. Ich umarmte sie und unsere Lippen berührten sich für einen kurzen Moment. Ich hatte es mir so sehr gewünscht.
Diese Frau gehörte zu mir. Ich durfte sie nicht ein zweites Mal verlieren.

Tränen rannen über mein Gesicht. An dieser Stelle musste ich immer weinen.
Die Gedanken an sie tun weh.
Ich weiß manchmal nicht, wo ich bin.
Selbstgespräche bestimmen meinen Tag.
Meine Frau ließ sich scheiden.
Mein Sohn kommt immer seltener zu Besuch.
Meine Freunde finden mich merkwürdig und sagen, dass sie die Geschichten nicht mehr hören wollen.
Meine Hände graben sich tief in den nassen Sand. Mir ist bewusst, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis mein Körper auf die Bilder reagieren wird. Meine Hände dürfen nicht hier, nein, nicht hier.
Dieser kleine Kuss.
Ich kann ihn nicht vergessen.

Tagelang konnte ich nicht schlafen. Ich spürte immer wieder ihre Lippen auf meinen. Ein kleiner Kuss. Nicht erwidert. Den Mund nur hingehalten. Aber trotzdem. Sie hatte es nicht nur so gemacht. Nein. Sie musste auch etwas für mich empfunden haben. Ganz bestimmt.
Ich hatte mich verliebt. Ich konnte es nicht leugnen. Ich wollte es nicht leugnen.
Ich fand ihre Nummer heraus und rief sie an.
Ich musste es ihr sagen.
Ich liebe dich, sagte ich.
Einfach nur diese drei so wichtigen und ehrlichen Worte.
Ich liebe dich.
Sie war nicht überrascht über meine Offenheit. Fiel nicht aus allen Wolken. Sie hörte mir zu. Aufmerksam.
Ich war überglücklich.
Wir redeten lange.
Ihre Stimme klang in meinen Ohren wie Musik.
Aber was redete sie nur die ganze Zeit?
Verdammt, sie sollte mir meine Hoffnung nicht nehmen.
Warum tat sie das?
Ich bettelte, wie ein kleines Kind. Wollte sie jeden Tag anrufen. Ich musste wenigstens ihre Stimme hören.
Wenigstens das.
Ein Mal im Monat, sagte sie.
Ein Mal im Monat.
Und wir telefonierten tatsächlich.
Ein Mal im Monat.
Ich hielt mich an ihre Bestimmungen. Ich wartete täglich sehnsüchtig auf den vierten Sonntag.
Und dann sagte ich ihr ständig, dass ich sie liebe.
Und ständig überhörte ich ihre Worte.
Sie schimpfte mit mir, wollte den Kontakt abbrechen, wenn ich nicht endlich damit aufhören würde. Sie wollte eine Freundin sein.
Nein.
Ich wollte sie.
Ich stellte mir vor, wie sie morgens aufsteht, wie sie frühstückt. Ich wollte neben ihr sein. Ihr übers Haar streichen, ihren Duft einatmen, von ihrer Haut kosten. Immer und überall.
Ich wurde wahnsinnig.
Ich war wahnsinnig.
Ich bin wahnsinnig.
Ich werde wahnsinnig sein.
Das einzige, was ich hatte, war ihre Stimme zu hören.
Und das wollte sie mir wegnehmen.
Nein.
Niemals.
Wie konnte sie nur so herzlos sein?
Ich versuchte, sie nicht mehr anzurufen. Es war eine Qual.
Ich versuchte, nicht an sie zu denken.
Und tatsächlich verblassten die Bilder.
Ich wurde krank. Krank vor Sehnsucht.
Ich musste zur Besinnung kommen.
Sagte es mir immer wieder.
Ich begann zu trinken und ertrank.
Ich verlor die Gefühle und war verloren.
Sie war weg.
Für lange Zeit.
Ich war kein Mensch mehr.
Ich flüchtete mich in Arbeit.
Ich renovierte mein Haus.
Für uns.
Mit ihren Lieblingsfarben. Ganz nach ihrem Geschmack. Ein großes Bad. Nicht nur Dusche, auch Badewanne. Große Fenster. Viel Platz und Sonne. Mit Blick aufs Meer. Es wird ihr gefallen.
Sie kann kommen.
Sie war nie weg gewesen.
Ich hatte mir immer nur was vorgemacht.
Die ganze Zeit.
Als wenn ich das nicht wüsste.
Ihr könnt mir sagen was ihr wollt.
Ich liebe sie.

Langsam ziehe ich meine Hände aus dem feuchten Sand. Ich streife meine Sachen vom Körper und tauche ab ins tiefe Nass. Kühle meine Gedanken, verschaffe meinem Körper Linderung und versuche für einen kurzen Moment zu vergessen.
Abtauchen.
Wie gerne würde ich mich in die Arme des Meeres legen.
Ich tauche aber wieder auf.
Wie lange noch?
Nackt stehe ich am Strand und denke an vorgestern.
Ich fühle mich so verloren, mehr tot als lebendig.

Ich rief sie an.
Ein gutes Jahr war seit unserem letzten Telefonat vergangen.
Ich sagte ihr, dass das Haus fertig sei und dass ich auf sie warte.
Immer.
Sie kann mir meine Hoffnung nicht nehmen.
Niemals.

Mein Gott bin ich erschöpft.
Der Himmel ist wieder hell geworden. Das Gewitter ist gänzlich vorbei.
Vor mir liegt das Meer und hinter mir steht mein Haus.
Unser Haus.

Sie sagte mir,
ich solle mich nicht quälen,
die Zeit für was Sinnvolleres nutzen
und sie, wie ein Gewitter an meinem Leben vorbeiziehen lassen.
Knall, bum, peng und vorbei.
Denkt sie so?
Das ist doch verrückt.
Sie ist verrückt.
Ich liebe Gewitter.

 

Er schreit es in die Stille hinein.
Die Sonne rutscht vor Schreck ganz vom Himmel und geht in Deckung. Die Möwen flattern verschreckt mit aufgerissenen Augen davon und das Meer runzelt die Stirn.

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Texte: Text alle Rechte beim Autoren
Bildmaterialien: Cover alle Rechte beim Autoren
Tag der Veröffentlichung: 01.09.2012

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