Regen.
Feiner Nieselregen.
Zu wenig für den Regenschirm.
Zu viel, um die Frisur zu ruinieren.
Was soll´s, dachte Vera. Es war Samstag und sie musste nicht raus. Sie kochte sich einen zweiten Kaffee.
Sie hatte Zeit.
Viel Zeit.
Gedankenverloren betrachtete sie den Tanz der Regentropfen auf der Fensterscheibe. Es wirkte einschläfernd auf sie und als plötzlich das Telefon klingelte, verschüttete sie erschrocken ihren Kaffee.
Nicht jetzt, stöhnte sie verärgert.
Verdammt, Tim sollte sie endlich in Ruhe lassen.
Unwillig erhob sie sich und nahm ab.
„Ja?“
„Mama, ich kann nicht mehr.“
„Suse?“
„Ja.“
„Mein Gott, Suse. Wo bist du?“
„Hier.“
„Hier, in Berlin?“
„Ja. Komm zum Hauptbahnhof. Bitte.“
Abrupt war das Gespräch beendet.
Suse, murmelte Vera. Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe.
Suse.
Ihre Tochter.
Fast acht Jahre war sie weg. Schickte anfangs alle paar Monate Karten mit Grüßen aus aller Welt. Mir geht es gut. Suche mich nicht. Ich liebe dich.
Dann wurden die Abstände größer und größer. Aber die Karten kamen irgendwie doch in einer Regelmäßigkeit. Vera verging vor Angst. Jahr für Jahr.
Und nun war sie da.
Auf dem Hauptbahnhof.
Plötzlich und unerwartet.
Wie aus dem Nichts.
Und sie konnte nicht mehr.
Was sollte das bedeuten?
Vera blickte auf den Telefonhörer in ihrer Hand. Das unaufhörliche Tut, Tut, Tut klang wie eine unheilvolle Melodie. Ihre Gedanken überschlugen sich.
Vera, beruhige dich.
Ihr war zum Erbrechen übel und es war ihr unbegreiflich, wie sie ohne Unfall zum Hauptbahnhof kam.
So viele Menschen.
Wie sollte sie Suse hier nur finden?
Wie sah sie nur aus nach so langer Zeit?
Suse, zeig dich.
Plötzlich merkte sie, dass sie unglaubliche Angst hatte. Ihre Hände waren eiskalt. Ihr Atem ging stoßweise.
Mein Gott, Vera, beherrsch dich.
Dann wurde sie schlagartig wütend. Sie hätte am liebsten geschrien.
Was erlaubte sich Suse eigentlich?
Jahrelang war sie weg und nun versteckte sie sich hier im vollen Hauptbahnhof und ließ sich suchen.
Das konnte doch wohl nicht wahr sein.
Verzweifelt suchte Vera jeden Winkel ab. Dann blieb ihr Blick an einer Frau hängen.
Nein, nein, nein.
Tränen traten ihr in die Augen, die Kehle schnürte sich ihr noch weiter zu, sie hörte nichts mehr um sich herum und war unfähig, sich auch nur einen Schritt vorwärts zu bewegen.
Suse.
Abgemagert und abgerissen lehnte sie an einem Pfeiler.
Ungläubig schaute Vera zu Suse.
Hatte sie nicht gerade vor ein paar Wochen eine Karte von ihr aus Wien bekommen?
Mir geht es gut.
Sah so, mir geht es gut, die ganze Zeit aus?
Vera starrte ihre Tochter entsetzt an und konnte nicht glauben, was sie sah. Sie hoffte irgendwie, dass sie sich irrte. Doch dann trafen sich ihre Blicke und es gab keinen Zweifel mehr. Sie stürzte zu ihrer Tochter und nahm sie in ihre Arme.
So vertraut und doch so fremd.
„Suse.“
„Halt mich einfach nur fest, Mama.“
„Lass uns nach Hause fahren.“
„Nein.“
„Nein?“
„Ich habe Hunger.“
Ja,natürlich, dachte Vera. So wie sie aussah, musste sie ja seit Tagen nichts mehr gegessen haben. Sie hob den schäbigen Rucksack auf und führte ihre Tochter in die nächste Imbissstube. Fassungslos saß sie ihr gegenüber und quälte sich bei ihrem Anblick. Sie war unfähig irgend etwas zu sagen. Statt dessen nahm sie die schmutzigen Hände ihrer Tochter. Kraftlos fühlten sie sich an. Vera hatte Angst sie zu zerdrücken.
„Er hat dich betrogen mit meiner Lehrerin,“ sagte Suse unvermittelt, ohne ihre Mutter anzuschauen.
„Was?“, hauchte Vera überrascht.
„Ich habe es die ganze Zeit gewusst. Aber ich durfte es dir nicht sagen. Sie hatten mich in der Hand. Was meinst du, woher plötzlich meine guten Zensuren kamen? Deswegen wollte ich nach dem Abi nach Frankreich als Aupair-Mädchen.“
„Oh nein.“ Vera war schockiert. Dann hatte Tim also viel länger als zugegeben dieses Verhältnis. Dieser Mistkerl. Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen. Es traf sie tief. Mit Macht hielt sie ihre Tränen zurück. Suse. Tim. Beide hatten sie damals verlassen.
„Meine Jobs im Ausland haben mir gut getan. Ich habe viele Freunde gefunden, alles Mögliche gemacht und mir ging es finanziell auch immer gut.“ Suse schaute ihre Mutter immer noch nicht an. Sie sprach gegen die Wand. Leise und stockend.
Für Vera klangen die Worte plötzlich hohl und leer. Was sie sah und hörte stimmte einfach nicht überein. Klang falsch. Sie wollte irgendwie etwas anderes hören.
Aber was?
Was hatte sie erwartet?
Wie hatte sie sich überhaupt ein Wiedersehen vorgestellt?
Plötzlich konnte Vera nicht mehr an sich halten.
„Und hast du auch nur einmal eine Sekunde lang daran gedacht, wie es mir dabei ging? Kannst du dir vorstellen, was ich für Ängste ausgestanden habe all die Zeit? Meinst du deine Karten ohne Adresse haben mich beruhigt?“ Es brach einfach so aus ihr heraus und es war ihr egal was die Leute um sie herum dachten. Das war einfach alles zu viel auf einmal für sie.
Suse nickte unaufhörlich mit abgewandten Blick. „Ich habe immer an dich gedacht, Mama. Und auch an Papa. Aber ich wollte mich damals einfach nicht zwischen euch entscheiden müssen,“ sagte Suse immer leiser werdend.
„Aber deswegen musstest du doch nicht acht lange Jahre wegbleiben,“ erwiderte Vera nun nicht mehr so aufgebracht, aber immer noch anklagend. „Übrigens dein Vater und ich, wir haben uns vor sechs Jahren getrennt,“ fügte sie dann leise hinzu.
„Das wundert mich nicht. Es tut mir leid für Euch, ehrlich.“ Suse stocherte weiter in ihrem Essen herum. Obwohl sie angeblich großen Hunger hatte, brachte sie keinen Bissen herunter.
Vera wurde sich nun dessen bewusst und nahm auch wahr, dass Suse leicht zitterte.
Und wie sah sie überhaupt aus?
Ausgemergelt, klein und zerbrechlich,traurig und leblos.
Und da machte sie ihr Vorhaltungen, anstatt zu fragen, wie sie in diesen Zustand gekommen ist? Mein Gott, dachte Vera erschrocken, ich kann nicht. Die Angst vor der Wahrheit lähmt mich.
Zaghaft griff sie wieder nach Suses Händen.
Haltgebend.
Haltsuchend.
Und sie suchte immer noch ihren Blick. Aber Suse war nicht bereit, sich ihr zuzuwenden. Vera war am Verzweifeln.
„Suse, wo lebst du gerade?“ Tränen füllten ihre Augen.
„Das willst du nicht wirklich wissen,“ brachte sie leise hervor. Sie zog ihre Hände weg, versteckte sie unter ihrem weiten Pulli und schwieg.
„Sag es mir, bitte.“ Vera konnte die Pause kaum aushalten. Immer deutlicher sah sie nun, wie schlecht es ihrer Tochter ging.
Erstarrt waren ihre Gesichter.
Fanden nicht den Weg zueinander.
Endlich fing Suse langsam und leise an zu erzählen.
Das alles schwappte wie eine kalte Dusche über Vera. Sie erfuhr, dass Suse mit einem Künstler zusammen war, der ihr die Welt zu Füßen legte. Sie ließ sich blenden von Ruhm und Reichtum. Gab sich hin und vergaß sich selbst. Irgendwann interessierte er sich nur noch sporadisch für sie und ließ sie langsam fallen. Und sie fiel langsam und stetig immer tiefer, ohne es selbst zu merken.
„Ich wollte es einfach nicht wahrhaben. Hoffte viel zu lange, dass er zurückkommt. Ich fing an zu trinken. Suchte Halt bei seinen Freunden. Ich fand keine richtige Arbeit. Hatte wenig Geld. Aber das Schlimmste ist, dass ich nicht mehr aufhören kann zu trinken. Und nun ertrinke ich im Suff. Mama, ich schäme mich so.“ Mit hängenden Kopf saß Suse da und fing immer mehr an zu zittern.
Vera zerriss es das Herz. Lange Zeit saßen sie schweigend nebeneinander. In Vera tobten die Gefühle. Sie war gleichzeitig irgendwie glücklich, wütend, traurig, aber vor allem hilflos. Sie wollte ihre Tochter gleichzeitig streicheln und schütteln. Warum-Fragen schossen ihr durch den Kopf. Sie fühlte sich wie ein Hampelmann, der unkoordiniert herumzappelte, der nicht wusste, wie und wohin er sich bewegen sollte, was zu tun war. Sie konnte einfach keinen klaren Gedanken fassen.
Aber als sie dann wieder ihrer zitternden Tochter gewahr wurde, wurde ihr auf einmal schlagartig bewusst, dass sie viel zu sehr mit ihren eigenen Schmerzen und Ängsten kämpfte.
Suse hatte sie gerufen, weil sie
nicht mehr konnte.
Und was machte sie?
Sie setzte sich vor ihr hin und konnte selbst nicht mehr.
Nein, sie durfte jetzt nicht schwach sein.
Nicht jetzt.
Sie musste handeln.
Sofort.
Aber wie?
Was sollte sie sagen?
Was sollte sie tun?
Wie konnte sie ihre Tochter erreichen?
Alles kam so plötzlich und unerwartet.
Vera fühlte sich in diesem Moment so unglaublich überfordert.
„Suse, lass uns nach Hause fahren. Wir werden schon irgendeinen Weg finden. In Ruhe. Nicht hier.“ Aber schon beim Sprechen merkte sie, dass das irgendwie nicht die richtigen Worte waren. Sie klangen so hilflos und schwach, so wie sie sich fühlte. Langsam erhob sie sich und sammelte unbeholfen die Sachen ein. Am liebsten hätte sie einfach nur geweint.
Plötzlich griff Suse nach dem Arm ihrer Mutter und schaute ihr endlich in die Augen. „Nein. Nicht nach Hause. Bring mich in eine Klinik. Ich will einen Entzug machen. Das ist das Einzige, was mir helfen kann.“
Suses augenblickliche Entschlossenheit löste schlagartig Veras Erstarrung. Mit einem mal fühlte sie sich sicher.
Sicher in sich und sicher für Suse.
Erleichtert atmete sie tief ein und aus und nickte Suse aufmunternd zu. Nun konnte es ihr gar nicht mehr schnell genug gehen. Kraftvoll schob sie Suse zum Ausgang.
Die Straßen waren noch nass, aber es hatte endlich aufgehört zu regnen.
Texte: Text alle Rechte beim Autoren
Bildmaterialien: Cover alle Rechte beim Autoren
Tag der Veröffentlichung: 06.05.2012
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