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Verdammt. Musste das denn ausgerechnet jetzt im größten Umzugsstress passieren. Cora stöhnte laut und stieß vor Wut mit dem Fuß gegen den Inhalt der Kiste, der ihr so nach und nach vor die Füße purzelte. Schon beim Anheben der Kiste ahnte sie, dass das so kommen könnte. Warum mussten aber auch immer ihre schlimmsten Vorahnungen erfüllt werden?
Und warum ausgerechnet diese Kiste?
Seit 10 Jahren stand sie unberührt, versteckt und vergessen in der Kammer. Und nun lagen sie vor ihr. Ihre Tagebücher und Fotoalben. Aufgeblättert und wild durcheinander.
Cora stand wie angewurzelt vor dem unordentlichen Haufen. Dem Teil ihres Lebens, der sich für sie immer fremd angefühlt hatte, der seit ihrem letzten Umzug vor 10 Jahren eingepackt war in einer einzigen Kiste.
Damals, als sie nach dem Studium das erste mal weit weg von ihrer Familie war, kam in ihr erstmals das Gefühl auf, befreit zu sein. Irritiert hatte es sie, dieses Gefühl. Aber es fühlte sich gut an und sie begann sich ein völlig neues Leben aufzubauen. Verbiss sich in ihre Arbeit, suchte und fand Freunde und ließ so nach und nach alles hinter sich. Nun sollte die Kiste aber wieder mit, wie damals.
Unberührt.

Nein. Nein. Nein. Den Gefallen tu ich euch nicht. Nein. Ich fange jetzt nicht an, in euch zu lesen und ich schaue mir jetzt auch keine Fotos an. Ich hole einfach eine neue Kiste und packe euch wieder ein.



Abrupt wandte sie sich von ihrer Vergangenheit ab. Sie hatte Angst, dass sie schwach werden könnte, dass sie einen Blick riskieren würde. Für einen kurzen Augenblick erwog sie deshalb die Möglichkeit, ihre Nachbarin zu bitten, alles wieder für sie einzusammeln. Nur damit sie nicht in Versuchung kam. Sie wollte nicht über ihre Erinnerungen stolpern müssen.
Nicht jetzt.
Und eigentlich überhaupt nicht mehr.

Sei nicht albern, Cora. Das schaffst du alleine.



Aber Cora konnte nicht. Sie fühlte sich schlagartig gelähmt beim Anblick des Chaos vor ihren Füßen. Tief atmete sie ein und aus. Obwohl sie wusste, dass sie bis morgen noch so viel zu tun hatte, ging sie in die Küche, goss sich ein Glas Wein ein und setzte sich an den Küchentisch. Stocksteif saß sie da. Die alten Tagebücher und Fotoalben erzeugten in ihr ein Gefühl der Ohnmacht. Leichtes Zittern überfiel sie. Kälte machte sich breit in ihrem Inneren. Es überraschte sie, dass sie so heftig reagierte. Sie verschränkte ihre Hände ineinander und drückte sie ganz fest zusammen, als wenn sie Halt in sich selbst suchte.

Nicht jetzt. Ich will mich nicht jetzt damit auseinandersetzen müssen.



Jahrelang hatte sie mit Erfolg alles vor sich und in sich versteckt. Hatte endlich ihren Frieden gefunden. Und nun das.
Zögernd stand sie auf, holte einen neuen Karton und ging zurück in den Flur. Mit kalten Händen fing sie an, alles in den Karton zu stopfen. Schnell. Mit abgewandten Blick.
Aber dann sah sie es aus dem Augenwinkel heraus.
Ihr Einschulungsbild.
Da standen sie alle. Ihre Eltern und ihre zwei jüngeren Geschwister, Tanten, Onkels, Cousinen, Oma und Opa. Sie, die Hauptfigur, stand abseits, ganz rechts. Traurig, mit hängenden Schultern.
Cora seufzte tief als sie sich so neben ihrer Familie sah. Und nun musste sie auch auf die anderen Bilder schauen. Im Zeitlupentempo griffen ihre Hände danach. Mit Erschrecken stellte sie fest, dass sie kaum zu finden war und wenn, dann nur als Randfigur.

Nun komm schon. Du gehörst doch auch dazu.



Cora hörte plötzlich wieder diese Worte. Sie hallten in ihrem Kopf. Klangen nicht echt. Starr wurde ihr Blick, tief in sich gerichtet.
Damals.
Benachteiligt kam sie sich ihren Geschwistern gegenüber vor, ungerecht behandelt. Ständig.
Fühlte sich einsam und verlassen.
Ungeliebt und ungewollt.
Der Störenfried.

Warum nur? Was habe ich nur getan?



Cora dröhnte der Kopf. Da war sie wieder diese Frage, die sie sich so oft gestellt hatte. Sie würde sich alles nur einbilden, beteuerten ihr die Eltern immer wieder. Aber sie merkte doch, dass sie anders behandelt wurde. Sah Blicke, die sie nicht deuten konnte. Nein, das hatte sie sich nicht eingebildet, das spürte sie. Immer und immer wieder.
Und auch jetzt beim Betrachten der Bilder zog sich in ihr wieder alles zusammen, wurde sie wieder ganz klein und hilflos und sie spürte mit einem mal wieder diese tiefe Traurigkeit in sich.
Und genau das wollte sie nie wieder spüren.
Und genau deswegen hatte sie versucht alles zu vergessen und für sich einen eigenen Weg zu finden.
Und bis vor wenigen Minuten hatte auch alles wunderbar geklappt mit dieser Verdrängung.

Was fehlt mir nur? Was hat mir immer gefehlt?



Cora fing an zu weinen. Wie lange hatte sie das nicht getan. Nun ließ sie es zu. Wehrte sich nicht dagegen. Im Gegenteil sie wollte es sogar. Laut schniefend nahm sie eins ihrer Tagebücher zu Hand. Als sie ihre krakelige Kinderhandschrift sah, musste sie kurzzeitig schmunzeln. Doch der Schmerz holte sie schnell wieder ein. Geschwärzte Zeichnungen sprangen ihr entgegen, traurige Gedichte, verziert mit Tränen. Und die Frage, Mama und Papa, warum liebt ihr Timmy und Nele mehr als mich, machte sich breit auf fast allen Seiten.
Cora starrte minutenlang auf die Wörter, bevor sie das kleine grüne Tagebuch wutentbrannt an die Wand knallte.
Noch so eine unbeantwortete Frage aus ihrer Kinder- und Jugendzeit.
Vergessen wollte sie sie.
Rigoros verdrängt hatte sie sie.
Mit Erfolg.
Und nun war sie wieder da.
Würde sie wieder quälen.
Würde ihr wieder schlaflose Nächte bescheren.
Würde in ihr wieder das ständige Gefühl hervorrufen, ungeliebt zu sein in ihrer Familie. Es würde sie wieder wahnsinnig machen. Mit einem Schlag waren all ihre Wunden wieder aufgebrochen und der Schmerz, den sie lange nicht gespürt hatte, überwältigte sie.
Alles würde wieder von vorne anfangen.

Und nur, weil die blöde Kiste mir alles vor die Füße geschmissen hat. So eine bodenlose Frechheit von ihr.



Cora schüttelte sich und fluchte leise vor sich hin. Unruhig lief sie in der Küche hin und her und aufgewühlt wie sie war, rief sie ihre Mutter an. Konfrontierte sie mit ihrem Schmerz. Offenbarte ihr ihre tiefsten Gefühle. Überschüttetet sie mit all ihren Kindheitserinnerungen, die sich tief in ihr eingeprägt hatten und nun wieder da waren. Stellte Fragen über Fragen.
Sie wollte alles los werden.
Alles.
Wollte nicht mehr über ihre Vergangenheit stolpern müssen.
Wer sonst, wenn nicht ihre Mutter, konnte ihr eine Antwort geben.
Plötzlich hörte sie ihre Mutter am Ende der Leitung schluchzen. Überrascht hielt Cora inne. Sie wagte kaum zu atmen.
Und dann ergriff ihre Mutter endlich das Wort.
Zaghaft.
Leise.
Erklärend.
Cora nickte tonlos zum Abschied.
Die Worte donnerten wie ein Schnellzug an ihr vorbei.
Kaum zu fassen.
Doch plötzlich machte alles einen Sinn.
Sie hatte sich nie getäuscht in ihren Gefühlen.
Man hatte sie getäuscht.
Man war jahrelang kinderlos.
Man hatte sie adoptiert.
Man bekam dann, plötzlich doch noch, die eigenen Kinder.
Man hatte schlicht und einfach den Zeitpunkt verpasst, es ihr zu sagen.
Dass mit der Adoption.
Cora brach innerlich zusammen.
Man hätte ihr den ganzen Schmerz, ihre Ängste und ihre Zweifel ersparen können.
Man hätte ihr einfach nur die Wahrheit sagen müssen.
Und man hätte ihr vor allem nicht verschweigen dürfen, dass ihre leiblichen Eltern tot waren.
Nun war also alles geklärt.
Mit einem einzigen Telefonat.
Cora rollte sich auf der Couch wie ein Baby zusammen.
In Gedanken spielte sie das Spiel, ich packe meinen Koffer und nehme mit ...

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Texte: Text und Coveralle Rechte beim Autoren
Tag der Veröffentlichung: 06.01.2012

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