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Möwenschiss kleckste plötzlich neben Claudia auf die Kaimauer. Erschrocken wich sie einen Schritt zur Seite und schaute kopfschüttelnd dem Übeltäter hinterher. Sie atmete tief durch.
Es klang wie ein Stöhnen.
Das offene Meer.
Sie konnte heute absolut keinen Gefallen an ihm finden. Schaumkronen hüpften ungeordnet und wild durcheinander.
Noch 35 Minuten.
Sie wollte in der Zeit des Wartens Ruhe finden.
Hatte extra alles so eingeplant.
Das Meer jedoch, aufgewühlt und düster, gab ihr keine Kraft.
Im Gegenteil.
Es beunruhigte sie.
In sich gekehrt und fröstelnd suchte sie sich ein windgeschütztes Plätzchen am Fuße des Leuchtturmes am Ende der Mole. Ab und zu kamen ein paar Touristen. Sie blieben jedoch nicht lange. Zu kalt und ungemütlich war es an diesem 3. April.
Claudia schloss die Augen.
Hörte das Meer in tiefen Tönen dahin brummeln, kam sich vor, wie in einem schlechten Konzert. Immer mehr drängte es ihr seine Unruhe auf. Ihr Atem wurde holprig und brachte sie zeitweilig aus dem Gleichgewicht.
Noch 10 Minuten.
Ihre Anspannung wuchs.
Sie schimpfte innerlich über den Wind, der ihr das Haar zerzauste und ihr kalt übers Gesicht blies und sie wandte sich abrupt vom Meer ab, das ihr immer mehr missfiel.
...
Für einen kurzen Moment erinnerte sie sich an den Tag vor 57 Jahren. Sie sah sich als 13 jähriges Mädchen in ihrem hellblauen Kleidchen. Warm und schön war es an diesem Tag. Nicht so wie heute. 12 Tage waren sie ein kleines Liebespaar, mit Händchenhalten und schüchternen Küssen. Eine Urlaubsliebe, die sich nach einiger Zeit wieder verlor. Sie hatte von damals alle Briefe und Postkarten von ihm aufgehoben. Sie liegen in ihrer kleinen Schatztruhe, die sie einmal im Jahr öffnet.
Bei den Gedanken wurde ihr ganz warm ums Herz. Sie lächelte still in sich hinein. Endlich stellte sich wieder die Vorfreude ein, die sie seit Tagen empfand.
Wer hätte gedacht, dass sie sich dann 17 Jahre später zufällig, genau an diesem Ort wieder treffen würden? Diesmal beide glücklich verheiratet. Aber sie spürten, dass da noch was war von der zarten jungen Liebe. Von damals. Sie sahen in ihren Augen, diese stille Sehnsucht. Sie konnten sich beide nicht zurückhalten. An diesem Tag. Es hätte nicht sein dürfen und es konnte und durfte nicht weitergehen. Sie trafen ein Abkommen. Wenigstens das. Alle 3 Jahre wollten sie sich am 03. April an dem Ort, wo einmal alles angefangen hatte, treffen. Der Tag sollte nur für sie zwei reserviert sein.
...
Und nun war es wieder soweit.
Claudia schaute auf ihre Uhr.
Er war zu spät.
Sie zog ihren Schal enger um ihren Hals. Ihre kleinen Hände zitterten.
Und das Meer stöhnte unaufhörlich diese dunkle Melodie.
Schließlich fiel ihr Blick auf eine Frau in einem roten Mantel, die sie zu beobachten schien und nun langsam auf sie zukam.
“Sie sind Claudia?”
“Ja.”
“Ich bin seine Tochter und soll Ihnen dieses Päckchen und den Brief bringen.”
Claudia spürte sofort das Unheilvolle, was jeden Moment über sie hereinbrechen würde. Es nahm ihr schlagartig den Atem.
Die Frau in dem roten Mantel erfüllte erbarmungslos ihre Aufgabe.
“Ich weiß von Ihnen und ihren Treffen mit meinem Vater. Er ist vor 5 Monaten gestorben.”
Eine Welle zerschellte an der Kaimauer. Es dröhnte wie ein Paukenschlag in Claudias Ohren. Gischt hüllte sie ein. Gab ihr Vorwand für die Tränen, die sie wegwischen musste.
“Er muss sie sehr geliebt haben. Meine Mutter empfand seine Liebe jedenfalls immer als halbherzig.”
Claudia hörte die Worte an sich vorbeirauschen. Sie schluckte die aufkommende Übelkeit herunter, wollte was sagen, konnte aber keinen klaren Gedanken fassen.
Möwen kreischten über ihr.
Der Mund vor ihr formte Worte, die der Wind davontrug und als Claudia endlich wieder normal atmen konnte, war die Frau im roten Mantel nur noch als kleiner roter Punkt für sie sichtbar.
Tränen sammelten sich im Schal und nässten ihr Kinn.
Jegliche Kraft verließ ihren Körper.
Das Päckchen fiel ihr aus den Händen.
Bewegungslos stand sie im Wind.
Konnte und wollte es nicht begreifen.
Sie starrte auf das Päckchen neben ihren Füßen. Obenauf klemmte ein Brief. Den müsste sie lesen, dachte sie. Der war für sie. Sie konnte es einfach nicht fassen Das konnte doch unmöglich stimmen, was die Frau in dem roten Mantel ihr gerade gesagt hatte.
Aber sie war Claudia.
Benommen hob sie das Päckchen auf und legte es vor sich auf die Kaimauer. Ihre Briefe und Postkarten aus der Jugendzeit vermutete sie darin. Was sonst? Der Wind zerrte an dem Päckchen der Vergangenheit und schob es immer näher an den Rand des Abgrunds.
Gerade noch rechtzeitig streckte Claudia ihre kalte Hand nach ihm aus und drückte es mit schmerzverzerrtem Gesicht an sich.
Sie musste den Brief lesen. Lange betrachtete sie ihn in ihren Händen und öffnete ihn schließlich schweren Herzens.


Liebste Claudia.
Das letzte Jahr war sehr schwer für mich. Und so langsam weiß ich, dass ich es bis zu unserem Wiedersehen nicht mehr schaffen werde. Wenn es so sein wird, wird meine Tochter zu Dir kommen und Dir meine Nachricht bringen.
Weine nicht, wir wussten beide, dass irgendwann einer von uns nicht mehr kommen könnte.
In der letzten Zeit denke ich immer wieder an unsere Treffen. An dein Lächeln.
Liebe Claudia, nun gestehe ich es Dir, ein Teil meines Herzens hat dich immer geliebt.
Ich habe es gefühlt.
Sagen konnte ich es dir jedoch nie.
Aber vielleicht wäre alles zwischen uns auch nie so schön gewesen, wenn ich es dir gesagt hätte. Diese drei Wörter hätten auch alles zerstören können. Ich glaube, wir hätten mit dieser Liebe im Alltag nicht bestehen können.
Denn zwischen uns, das war eine ganz besondere Liebe.
Ein zauberhaftes Märchen.
Ein Leben lang.
Ich hoffe, dass du es genauso empfunden hast und immer noch empfindest.
Glaub mir, bis zu meinem letzten Tag habe ich immer an dich gedacht.
In Liebe
Sören


Verzweifelt schaute Claudia auf das Meer.
Auf das Meer, das schon die ganze Zeit tief und unaufhörlich stöhnte.
Auf das Meer, das schon die ganze Zeit auf und ab schaukelte.
Nun stöhnte sie mit und nun schaukelte sie mit.
Sie begab sich in seine Arme und ließ sich von ihm hin und her wiegen.
Es kam ihr ein wenig tröstlich vor.
Das schaukelnde Meer.
Du hast es die ganze Zeit gewusst, hauchte sie ihm plötzlich überwältigt entgegen und ertrunken im Schmerz öffnete sie  in Gedanken ihre Schatztruhe.

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Texte: Text und Cover alle Rechte beim Autoren
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2011

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