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Mit voller Wucht knallte Lilly die Kühlschranktür zu. Was hatte sie denn erwartet? Das sich ihr Fach von alleine füllen würde?
Sie hatte Hunger. Erbärmlichen Hunger. Am liebsten hätte sie sich an den Sachen ihrer zwei Mitbewohner vergriffen. Aber das konnte sie nicht schon wieder tun. Die Jungs hatten schon oft genug Nachsicht mit ihr. Und sie hatten vor allem das nötige Geld.
Geld, Geld, Geld, schrie Lilly und haute mit der Handfläche auf den Tisch.
Der Schmerz war größer als erwartet. Laut stöhnend schüttelte sie ihre Hand und verzog das Gesicht. Ihr war zum Heulen zumute.
Schmerz, Hunger und überhaupt.
Erschöpft ließ sie sich auf den Küchenstuhl sinken. Kurz schloss sie die Augen, damit die Tränen keine Chance hatten.
Sie wusste, dass sie unbedingt einen Job brauchte. Ohne Geld brauchte sie gar nicht erst weiter zu studieren. Mit Erschrecken musste sie feststellen, dass ihre eigenen Geldreserven viel zu schnell aufgebraucht waren. Kindergeld, war das Einzige, was ihr von staatlicher Seite zustand. Nur damit alleine würde sie es aber nicht schaffen. Das wusste sie von Anfang an. Nur, dass ihr Geld so schnell weg sein würde, dass hätte sie nicht vermutet. Und ihre Eltern um Geld zu bitten, kam überhaupt nicht in Frage. Ihr Stolz verbot es ihr.
Niemals.
Vergiss es Lilly.
Im Streit hatten sie sich getrennt.
Sie sollte das Geschäft, den Traum ihrer Eltern, weiterführen.
In der Kleinstadt.
Es war alles angerichtet für sie.
Nur für sie.
Immer nur das Beste.
Sie hatte es versucht, den vorgezeichneten Weg zu gehen. Sie wollte eine brave Tochter sein. Aber es ging nicht. Sie war unglücklich in allem was sie tat. Ihre Eltern hatten kein Blick dafür und Lilly fand, dass sie kein Recht hatten, ihr solche schweren Vorwürfe zu machen.
Im tiefsten Herzen wollte Lilly schon immer Rechtsanwältin werden und die große weite Welt kennen lernen.
Nicht umsonst hatte sie ihr Abitur mit Bestnoten bestanden.
Nicht umsonst hatte sie auf vieles verzichtet.
Nicht umsonst hatte sie ihren Freund verlassen.
Letztendlich hatte sie ihren Willen durchgesetzt und nun saß sie hier alleine in Berlin, ohne Geld und mit Hunger im Bauch.
Tränen der Wut stiegen ihr nun doch in die Augen.
Und dann klangen ihr wieder die Worte ihrer Eltern in den Ohren: das schaffst du nie und nimmer.
Sie musste ihn finden. Den Job. Den Job, der sie über Wasser halten würde. Unbedingt. Nichts wäre schlimmer für sie, als wieder nach Hause zurück zu ihren Eltern zu müssen.
Niemals.
Sie wurde immer wütender und ungehaltener über ihre Situation. Sie merkte richtig, wie es in ihr brodelte und ehe sie sich versah, fegte sie mit einer kraftvollen Handbewegung das benutzte Geschirr vom Tisch. Fassungslos verharrte sie in der Bewegung, ließ das Geschepper nachklingen und starrte minutenlang auf die Scherben.
Schöne Scheiße, dachte sie
Scherben bringen Glück, flüsterte sie.
Ich muss was tun, hämmerte es dann in ihrem Kopf. Ich muss was tun, murmelte sie leise vor sich hin. Immer wieder die gleichen Worte. Wie ein Singsang flossen sie ihr schließlich aus dem Mund und ihr Oberkörper schaukelte hin und her.
Jammervolles Katzengejaule.
Plötzlich sprang sie ruckartig auf. Sie hasste es, wenn sie sich derartig gehen ließ. Sie räumte die Scherben vom Boden und verließ die Wohnung.

Ziellos fuhr sie durch Berlin, ließ sich von den Massen einfach mitziehen und fand sich immer wieder in ihr völlig unbekannten Ecken wieder. Sie meinte was zu suchen, wusste aber nicht so recht, wo sie es finden könnte. Der Hunger in ihrem Bauch holte sie zurück.
Hunger.
Dieses Gefühl hatte sie in letzter Zeit öfter. Sie hätte nie gedacht, dass Hunger so quälend sein konnte und sie hätte nie gedacht, dass Hunger einmal ihr Wegbegleiter werden würde. Sie musste sich unbedingt etwas zu essen kaufen. Sparen war ja schön und gut, aber übertreiben durfte sie es auch nicht.
Während sie ganz langsam und bedächtig die Pizza aß, stellte sie überrascht fest, dass sie während der zwei Monate überhaupt das erste mal zur späten Abendzeit in der Stadt war. Sonst lernte sie oder ging frühzeitig zu Bett, weil sie sich eh nichts leisten konnte.
Fasziniert von den Klängen, Gerüchen und Farben betrachtete sie ihre Umgebung genauer. Die friedliche Atmosphäre überwältigte sie und plötzlich war sie froh, hier zu sein. Unwillkürlich überzog ein breites Lächeln ihr Gesicht. Verträumt ließ sie ihren Blick umherschweifen und verweilte in dem schönen Augenblick.
Nun schien es ihr fast unmöglich, in dieser großen Stadt keinen Job zu finden. Sie musste sich nur endlich mal in Bewegung setzen. So richtig ernsthaft hatte sie sich ja nun wirklich noch nicht darum bemüht, musste sie sich kleinlaut eingestehen. Schlagartig wurde ihr aber klar, dass sie nur in den Abend- oder Nachtstunden arbeiten konnte. Wann denn sonst?
Jobben als Servicekraft in der Gastronomie? Sie betrachtete die Kellnerin, die gestresst zwischen den Tischen hin und her lief. Oh, nein. Das konnte sie sich nicht vorstellen, dazu war sie nicht geeignet. Was dann?
In Gedanken versunken fuhr Lilly abermals kreuz und quer durch Berlin. Gegen den Strom und mit dem Strom wieder zurück in das Zentrum. Hier fing nun endlich das Nachtleben an zu pulsieren. Das Nachtleben mit seiner bunten Reklame, der knisternden Erotik und all seiner Geilheit. Schüchtern betrat Lilly den ihr unbekannten Raum der großen Stadt und wagte sich hinein. Sie konnte dem Reiz des Unbekannten nicht widerstehen. Sie wurde gelockt und gerufen. Sie ließ sich verführen und fing langsam an zu genießen. Sie nahm Blickkontakt auf, spitzte die Ohren und folgte unbemerkt einer Gruppe junger Leute, die in einen Nachtclub wollten. Eintritt frei für Frauen, kam ihr ganz gelegen. Versteckt in einer Nische, nah beim Eingang, beobachtete sie das wilde Treiben.
Ihr wurde heiß.
Es roch verführerisch.
Sie fühlte sich angenehm gehalten. Angehalten zu bleiben.
Gebannt schaute sie auf die kleine Bühne, wo drei Mädels ihre spärlich bekleideten Körper der Menge tanzend präsentierten. Die erotische Atmosphäre knisterte in der Luft und Lilly hielt den Atem an. Ihr Blick war gefangen. Ihr Körper reagierte.
In ihrer Kindheit hatte sie jahrelang getanzt.
Sie verspürte Lust.
Lust auf Bewegung.
Sie nahm innerlich den Rhythmus auf und fing an, die Mädels zu begutachten. Da fehlte aber irgendetwas. Lilly spürte es sofort. Einfallslos und lustlos bewegten sie ihre Körper. Mehr als rumschütteln war das nicht.
Das kann ich aber besser, flüsterte sie.
“Und, traust du dich auch?”
Erschrocken drehte sich Lilly zu dem Mann um, der sie angesprochen hatte. Sie schaute in zwei herausfordernde Augen. Bevor sie überhaupt antworten konnte, sprach er provozierend weiter. “Da hinten ist die Umkleide und hinten rechts ist noch eine Stange frei. Sie gehört dir, wenn du dich traust.” Ein breites Grinsen begleiteten seine Worte.
Der Geschäftsführer, der zufällig Lillys Worte gehört hatte, sah mit seinem Kennerblick sofort, dass sie es konnte. Hatte sie sich doch dem Rhythmus unbewusst hingegeben. Und wie! Wenn sie sich wirklich traute, da war er sich sicher, würde er sich nicht mit ihr blamieren.
Lilly stockte der Atem. So durfte man ihr nicht kommen. Sie herausfordern und dabei noch angrinsen. Da war doch tatsächlich wieder einer, der ihr sagen wollte, dass sie etwas nicht schaffen würde. Das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen. Sie wollte, nein sie musste es ihm beweisen.
Lilly blitzte ihn kämpferisch an und ging wortlos, ohne weiter nachzudenken, in die Umkleidekabine. Als sie die Kostüme an der Kleiderstange sah, wurde ihr erst richtig bewusst, auf was sie sich da eingelassen hatte. Warum musste sie nur immer so rechthaberisch sein und sich so leicht provozieren lassen? Von Panik ergriffen suchte sie nach einer Fluchtmöglichkeit. Es gab keine. Entweder zurück, geradewegs in die Arme des Herausforderers oder rauf auf die Bühne.
Lilly stieß laut ihre Luft aus und atmete tief durch. Sie riskierte einen Blick hinter den Vorhang. Sie erinnerte sich an die unzähligen Auftritte aus ihrer Kinderzeit, an ihre Begabung und Freude am Tanzen. So etwas verlernt man nicht, so etwas hat man im Blut, dachte sie. Und plötzlich überkam sie wieder diese große Lust zum Tanzen. Aber musste es ausgerechnet halbnackt an einer Stange sein?
Dann sah sie aber den grinsenden Gesichtsausdruck vor sich, der nichts weiter als Zweifel an ihrer Person auszudrücken schien. Das musste sie sich nicht geben. Sie hatte die Herausforderung angenommen und sie würde es jetzt auch auf Teufel komm raus durchziehen. Sie würde sich nie verzeihen, wenn sie jetzt kneifen würde. Die Genugtuung würde sie ihm einfach nicht gönnen.
Lilly wählte ein nicht allzu freizügiges Kostüm und ging selbstsicher auf die Bühne. Sie sagte sich, dass ihre Aufgabe lediglich darin bestünde, sich besser zu bewegen als die drei Mädels. Und sie wusste, dass sie das schaffen würde.

Und dann sah sie sie.
Die Stange.
Ihre Stange.
Und dann hörte sie sie.
Die Musik.
Ihre Musik.
Und dann spürte sie sie.
Die erotische Lust.
Ihre erotische Lust.
Und dann hörte sie seine Stimme.
Komm her zu mir.


Fass mich an.
Ich bin dein.


Ben?
Du hast mir gefehlt.


Irritiert ging sie auf ihn zu.
Zaghaft griff sie nach ihm.
Hielt ihn in ihrer Hand.
Er fühlte sich gut an.
Wärme breitete sich in ihr aus.
Schüchtern schaute sie ihn an.
Umkreiste ihn und betrachtete ihn von allen Seiten.
Warum hast du mich verlassen?


Ich musste dich verlassen. Kannst du mir verzeihen?
Komm her zu mir. Näher.


Mit einem Lächeln im Gesicht, nahm sie sein Angebot an. Sie wollte ihn spüren. Durfte sie ihm trauen? Wollte er sie wirklich? Nach allem was sie ihm angetan hatte?
Ich halte dich. Komm schon. Hab keine Angst.


Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Vertrauensvoll ließ sie sich in seine Arme sinken. Hielt ihn ganz fest und umklammerte ihn. Sie spürte, dass er sie begehrte.
Und sie? War sie bereit?
Sie begann ein Spiel mit ihm.
Liebesspiel nach Noten.
Fangen und sich einfangen lassen.
Zaghaft.
Sinnlich.
Sehnsuchtsvoll.
Nähe und Distanz.
Lustvoll.
Geheimnisvoll.
Abheben und fliegen.
Sie hörte ihn flehen.
Lauf nicht weg.


Ich bin ja da.
Ich will dich.
Komm. Komm. Komm.


Mehr Leidenschaft.


Das geht noch besser.


Du machst mich verrückt.


Sie ließ sich gehen.
Immer mehr.
Schlängelnd.
Spreizend.
Sie öffnete ihr Herz und gab ihren Körper.
Sie tanzte ihre Leidenschaft voller Hingabe mit ihm.
Bis zum Ende.
Warum hast du mich verlassen?


Quäl mich nicht.

Zitternd saß Lilly in der Garderobe. Auf dem Boden lagen die ihr zugesteckten Hausdollars, die beim Umziehen aus dem Kostüm geflattert waren.
Sie war fassungslos.
Berauscht.
Was war das?
Glücksgefühl und Schmerz in einem. Sie konnte weder auf das eine noch auf das andere reagieren. Sie schwebte genau dazwischen.
Sie konnte weder weinen noch lachen.
Ben.
Sie wusste es.
Sie liebte ihn noch immer. Nach all den Jahren. Doch nun war es zu spät.
Ein tiefer Seufzer gab der Stille eine traurige Note.
Lilly blieb regungslos sitzen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf die Papierscheine.
Man hatte sie bezahlt.
Für ihre Performance.
Ja, sie war gut. Sehr gut sogar. Besser als die anderen.
Sie hatte recht behalten.
Sie hatte gewonnen.
Der Geschäftsführer kam gleich zu ihr, klopfte ihr auf die Schultern und sagte, dass sie den Job hätte.
Den Job.
Aber wollte sie ihn?
Diesen Job?
Würde sie dann nicht immer wieder, diese Geschichte tanzen müssen? Ihre Liebesgeschichte, die keine mehr war. Würde sie diesen Schmerz noch ein zweites mal ertragen wollen und können? Oder könnte sie andere Geschichten tanzen? Wäre sie dazu fähig?
Sie war sich nicht sicher.
Aber sie war sich sicher, dass sie dann auch so fad und stumpfsinnig, wie die drei Mädels rüberkommen würde.
Wollte sie das?
Und überhaupt!
Aber wer interessierte sich schon für sie. Sie war ein Nichts in dieser großen Stadt.
Benommen nahm sie die Hausdollars und ging in das Büro des Geschäftsführers.
Morgen könnte sie sich endlich was anständiges zu essen kaufen.


Impressum

Texte: Text und Cover alle Rechte beim Autoren
Tag der Veröffentlichung: 30.09.2011

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