Cover




Geheimnis
alle Rechte bei mir


Es regnet. Wahrlich kein schönes Wetter, um auf dem Friedhof zu sein.
Ella ist es egal. Sie ist ganz weit weg. Der Wirklichkeit für einen Moment entschwunden, so wie sie es damals vor etwa fünf Jahren manchmal getan hatte. Sie fühlt seine starken Hände auf ihrem Körper, die kraftvollen Stöße, die sie so sehr brauchte, um im Jetzt zu bestehen und meint für eine Moment seinen herben männlichen Duft zu riechen. Tränen rinnen über ihr Gesicht.
Sie kann ihn nicht vergessen.
Ihn.
Den Wahnsinn.
Sie fühlt sich hin und hergerissen zwischen dem Wahn und dem Sinn.
Sie schließt ihre Augen und hält ihr Gesicht dem Regen entgegen. Ihre Tränen vermischen sich mit den Tropfen des Himmels.
Warum musstest du mich mit diesem Geheimnis alleine lassen

, flüstert sie.

***



"Ich liebe dich, Ella. Weißt du überhaupt, wie sehr ich dich liebe?" Tobias stand hinter ihr und schmiegte sich gierig an sie, während sie noch ein wenig Lippenstift auflegte. "Und wie gut du riechst."
"Nicht jetzt, Tobi. Du weißt, wenn ich zu meiner Mutter fahre, bin ich für so was nicht zu haben." Sie schauten sich über den Spiegel in die Augen. "Weißt du überhaupt, wie schlimm das ist, wenn dich deine eigene Mutter nicht mehr erkennt? Wenn sie dich mit Erna, meine Liebe, anspricht? Es ist alles so furchtbar, Tobias. Du könntest ja auch mal mitkommen." Ellas Ton klang anklagend und hart. Sie wusste genau, dass Tobias niemals mit ihr ins Pflegeheim fahren würde. Niemals. Er konnte mit der Krankheit ihrer Mutter nichts anfangen. Was aber viel schlimmer für Ella war, er hatte ihre Mutter eigentlich schon immer ignoriert. In der Hinsicht fühlte sie sich von ihm im Stich gelassen. Immer mehr. Seit 2 Jahren besonders. Das machte sie unglaublich wütend. Wie konnte er jetzt, wo er doch ganz genau wusste, dass sie in wenigen Minuten zu ihrer Mutter fahren würde, ans Vögeln denken? Und das er daran dachte, dass hatte sie gerade an ihrem Hinterteil allzu deutlich gespürt. Aber so richtig böse konnte sie ihm dennoch nicht sein.
Wenn er wüsste, dachte sie.
Sanft schob sie ihn von sich und gab ihm ein kleines Abschiedsküsschen zu seiner und vor allem zu ihrer eigenen Beruhigung. "Bis später. Und denke daran, dass dir heute keiner das Abendessen macht."
Tobias nickte nur kurz. Er wusste, dass Ella in der Sache, ihrer Mutter betreffend, nachtragend war und er wusste auch, dass sie Recht hatte. Aber er konnte und wollte nicht über seinen Schatten springen. Auch nicht ihr zu liebe. Er hatte schon immer seinen eigenen Willen und Ella wollte ihn mit seinem eigenen Willen. Sie hatte schließlich von Anfang an gewusst, dass er in seiner Art nicht einfach war und auf was sie sich da einlassen würde. Da musste sie nun wohl oder übel durch, dachte er ihr nachwinkend. Verstellen, nein, das würde er sich nie und nimmer.

Ella fuhr langsam vom Hof, bog nach links ab und fuhr Richtung Pflegeheim. Sie hielt jedoch nicht an, sondern fuhr weiter, raus aus der Stadt.
Einmal im Monat fuhr sie einfach am Pflegeheim vorbei. Für vier Stunden floh sie aus ihrem Alltag, entzog sich jeglicher Verantwortung, wollte nicht im Hier und Jetzt sein.
Sie nahm sich einfach das Recht dazu.
Weil sie es brauchte.

Ella war zu früh. Sie stieg aus und lehnte sich ans Auto. Sie atmete tief ein und aus und wartete auf einen Mann, der nicht ihrer war.
Sie blinzelte in die Sonne und ließ sich wärmen.
Ungeduldig schaute sie alle fünf Minuten auf die Uhr.
Der blanke Wahnsinn, dachte sie auf einmal.
Wie konnte es nur dazu kommen?
Und warum musste es ausgerechnet Robert sein? Robert, der Mann ihrer Freundin.
Nun wurde Ella doch ärgerlich.
Warum musste sie sich ausgerechnet jetzt mit diesen Fragen quälen?
Und warum überhaupt?
Sie hatte es doch die ganze Zeit nicht getan.
Sie stöhnte unwillig und drehte die Musik ein wenig lauter, hoffte ihre Gedanken damit verscheuchen zu können. Es gelang ihr nicht so recht.
Sie dachte zurück an den Anfang.

Vor fast einem Jahr begann alles. Ausgerechnet auf dem Polterabend der beiden Freunde. Ella fühlte sich für die Bewirtung der Gäste zuständig. Wein und Bier musste aus dem Keller geholt werden. Sie war froh, dem Trubel für kurze Zeit entfliehen zu können. Die Ruhe im Keller tat ihr gut. Sie war schon den ganzen Tag in Gedanken bei ihrer Mutter, machte sich große Sorgen um ihre Gesundheit. Tobias war ihr keine Hilfe. Er wollte von der ganzen Sache nichts hören und sehen.
Ella lehnte sich erschöpft mit geschlossenen Augen an die kühle Wand und atmete tief durch. Ja, sie war traurig und sie fühlte sich auf einmal so unglaublich einsam.
Plötzlich stand Robert vor ihr.
Ganz dicht.
Sie schaute in ein verzweifeltes Gesicht und erkannte ihre eigene Verzweiflung darin wider. So wie Robert sie anschaute, ahnte sie, dass ihn irgendetwas quälte und sie war sich sicher, dass auch er ihren Kummer in ihren Augen warhnahm.
Verzweiflung traf sich unten im Keller und stand sich gegenüber.
Ella schrie nach Halt, den sie durch ihren Mann nicht bekommen würde und Robert schrie nach Freiheit, die ihm seiner Meinung nach durch die Hochzeit wegzubrechen drohte.
Ihre verzweifelten Blicke trafen sich und hielten sich fest.
Stille des Verstehens.
Gemeinsamkeit des Augenblicks.
Gleichzeitig spürten sie, dass der jeweils andere mit seinem Leben haderte. Dieses Wissen trieb sie aufeinander zu. Als wenn sie dem Anderen ein Stück von seiner Angst nehmen wollten, nur um die eigene Angst dadurch nicht spüren zu müssen.
Es geschah ohne Ankündigung.
Aus dem Augenblick heraus.
Keiner konnte etwas dagegen tun. Sie hielten sich wie zwei Ertrinkene in einer festen Umarmung mit der Hoffnung, Rettung durch den anderen zu bekommen.
Sie verstanden sich in ihrer Not und sie fühlten sich beide unglaublich gut dabei.
Stumme Lippenbekenntnisse.
Klammernde Hände.
Gierig und voller Hingabe.
Ohne Worte.
Sie spürte, wie sie aus der Umarmung Kraft schöpfte. Genau im richtigen Moment war er für sie zur Stelle, gab ihr den Halt den sie brauchte.
Er genoss bei der Umarmung ein unheimliches Freiheitsgefühl.
Genau im richtigen Moment war sie für ihn zur Stelle, nahm ihm die Angst durch eine Ehe festgenagelt zu sein.
Sie trieben in den Wahnsinn.
Schwerelos.
Gedankenlos.
Wahnsinn, den sie so sehr brauchten in diesem Moment.
Sie setzten einen Anker für dieses wahnsinnige Gefühl der Verbundenheit.
Beide.
Und wann immer sie dieses Gefühl brauchten, riefen sie sich herbei.
Und sie fingen an, den Wahnsinn zu pflegen.

Ella kickte einen Stein zur Seite.
Verdammt.
Verdammter Wahnsinn.
Heute hatte sie tatsächlich zum ersten mal ein schlechtes Gewissen. Sie musste unbedingt mit Robert darüber reden.
Robert hatte jedoch gar kein Verständnis dafür. Er wollte mit Ella darüber nicht diskutieren.
"Ella. Warum? Lass uns diese Freiheit. Mir geht es so gut damit. Es hat doch keine Bedeutung in bezug auf unsere Partner. Da sind wir uns doch einig. Ich liebe Sophie. Und du liebst Tobias. Das mit uns, das ist unsere Magie, unser Wahnsinn. Wir brauchen das doch für uns. Jeder für sich. Du weißt es. Sei weiter gedankenlos. Du brauchst kein schlechtes Gewissen deswegen zu haben. Mach es nicht kaputt."
Doch Ella gab nicht klein bei. Konnte ihre Bedenken einfach nicht mehr beiseite schieben. War irgendwie nicht mehr frei für dieses wahnsinnige Spiel jenseits der Gegenwart. War an diesem Tag für Robert kein Teufelsweib mehr, sondern eine schlaffe Puppe, schwer beladen mit Gedanken.
Robert wurde wütend.
Sie trennten sich im Streit.
Das vermeintliche magische Verständnis, das sie zusammengeführt hatte und das das Geheimnis trug, verlor an Stärke und trieb sie auseinander.
Ella fuhr traurig nach Hause. Sie fühlte, dass sie alles kaputt gemacht hatte, dass es nie wieder so sein würde, wie es mal war. Das hatte sie nicht gewollt. Der Wahnsinn verlor seinen Sinn.
Oder bekam einen Sinn?
Wurde Wahn?
Warum musste sie aber auch anfangen darüber nachzudenken?
Sie spürte, dass es dem Zauber die Kraft nahm.
Die Leichtigkeit, die Gedankenlosigkeit des Wahnsinns war dahin.
Nun würde alles eine Bedeutung bekommen.
Nun würde sie anfangen müssen, sich zu verstellen.
Nun würde der Wahnsinn einen Namen bekommen.

Ella versuchte sich am Abend hinter ein Buch zu verstecken. Sie war froh, dass Fußballabend war und Tobias ganz im Fernseher versunken war.
Sie musste andauernd an Robert denken. Alles wurde tatsächlich mit einem Schlag anders.
Dann klingelte das Telefon.
Wenige Minuten später stand Ella im Türrahmen, unfähig ein Wort zu sagen. Sie glaubte sich verhört zu haben und wollte die Worte ihrer Freundin nicht wiederholen müssen.
Robert ist tot.
Motorradunfall.
Komm bitte.

Mit zitternden Knien und völlg leer im Kopf kam Ella spät abends bei Sophie an.
Wie sollte sie ihrer Freundin nur beistehen?
Angst lähmte sie und legte sich bleischwer um ihren Körper. Steif und unbeholfen kam sie sich vor. Sie war ratlos, wie noch nie in ihrem Leben.
Ella hatte eiskalte Hände und einen trockenen Mund.
Sophie weinte leise vor sich hin.
Auf dem Tisch lagen Tabletten und... Ella stockte der Atem...ein Ultraschallbild. Der Tisch in der Essecke war festlich geschmückt. Die Kerzen brannten noch.
Ellas Gedanken überschlugen sich. Ein Kind war das Allerletzte was er wollte. Die Ehe engte ihn sowieso schon ein. Ist er etwa deswegen Hals über Kopf in seinen Tod gerast? Wegen dem Kind?
Ella wagte es kaum Sophie anzuschauen.
"Es sollte so ein schöner Abend werden, Ella. Ich habe sein Lieblingsessen gekocht. Du weißt, ich koche nicht gerne. Aber es hat alles geklappt." Es huschte ein kleines Lächeln über Sophies Gesicht. "Ich war heute beim Arzt. Ich bin schwanger. Endlich hat es geklappt, Ella. Wir bekommen ein Baby. Verstehst du, ein Baby." Sophie nahm das Ultraschallbild vom Tisch und rückte ganz dicht an Ella heran. "Schau hier. Siehst du, hier. Ganz klein und winzig." Stolz lag in ihrer leisen Stimme.
Ella konnte beim besten Willen nichts erkennen. Sie konnte aber auch nichts sagen. In ihrer Kehle steckte ein Schrei, den sie mit aller Gewalt versuchte zu unterdrücken. Plötzlich meinte sie Robert an sich zu riechen. Ruckartig wich sie von Sophie ab und sprang vom Sofa auf. Sie konnte immer noch nicht in Sophies Gesicht schauen, wäre am liebsten davongerannt.
Was haben wir nur getan?
Mit schnellen Schritten ging Ella zum Fenster und schaute ins Nirgendwo. Wie aus weiter Ferne hörte sie Sophie weiterreden.
"Es sollte eine Überraschung werden. Ella. Ich wollte mir ganz sicher sein, deswegen habe ich euch allen noch nichts gesagt. Kannst du mir verzeihen, dass ich dich nicht eingeweiht habe? Weißt du wie schwer es ist ein Geheimnis für sich zu behalten?"
Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Ella musste schlucken und sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie konnte ihren Schmerz kaum aushalten. Sie biss sich mit aller Kraft auf die Lippen, um einen anderen Schmerz spüren zu müssen. Langsam wandte sie sich Sophie wieder zu. Wie im Nebel saß sie vor ihr. Sie konnte ihrer Freundin weder Halt noch sonst was geben. Sie hatte noch immer kein Wort zu ihr gesagt.
Sophie schien es aber auch irgendwie nicht zu erwarten. Sie war noch nicht fertig, sie musste ihrer Freundin doch alles erzählen. Sie musste es jemanden erzählen. Wie dankbar war sie, dass ihre Freundin so schnell kommen konnte.
"Aber Robert kam nicht. Dann fiel mir ein, dass heute ja der dritte Mittwoch im Monat ist. Da kommt Robert ja immer etwas später nach Hause. Das hatte ich total vergessen. Bisschen geärgert habe ich mich schon über mich, denn nun würde das Essen kalt werden. Aber er kam einfach nicht. Er ging auch nicht an sein Handy. "
Nun fing Sophie wieder an, heftiger zu weinen. Damit konnte Ella irgendwie mehr anfangen. Die gefasste Sophie kam ihr fast schon unheimlich vor. Nun nahm sie Sophie das erste mal in den Arm und hielt sie ganz fest. Sie war froh, dass sie ihr dabei nicht in die Augen schauen musste. Schweigend blieb jeder in seinen Gedanken hängen.
Mit leichter Verzögerung kamen Sophies letzten Worte bei Ella an.
Er kam einfach nicht.
Ella riss ihre Augen, auf um sie dann sofort wieder mit einem langen Stöhnen zu schließen. Das bedeutete, dass er auf dem Weg nach Hause den Unfall hatte. Dass er wegen ihr die Kontrolle verloren hatte, nicht wegen dem Kind. Ella musste einen Würgereiz unterdrücken. Langsam löste sie sich aus der Umarmung ihre Freundin und schaute ihr gequält in die Augen.
Nein, sie konnte nichts sagen. Nicht jetzt.
"Ella. Nun ist er tot. Einfach tot. Ella, verstehst du? Und er weiß nichts von dem Kind. Er hätte sich so darüber gefreut. Ich weiß es." Sophie legte vorsichtig das Ultraschallbild wieder zurück auf den Tisch, dass sie immer noch in den Händen hielt. Ihr Blick war star. Sie weinte leise vor sich hin. Dann nahm sie plötzlich Ellas Hand und legte sie behutsam auf ihren Bauch. Leise, gefasst und gut vernehmlich sagte sie.
"Ella. Du musst immer für mich da sein. Ich möchte, dass du Patentante für unser Baby wirst. Ihr zwei habt euch doch auch immer gut verstanden, du und Robert. Er hat nie schlecht von dir gesprochen. Ich brauche dich jetzt."
Ella war völlig überfordert mit allem und alles was sie in dem Moment konnte, war, wie eine Schwachsinnige zu nicken.

***



Das Geheinmnis macht ihr das Leben fast unmöglich. Tag für Tag.
Jahr für Jahr.
Sie trägt es in sich.
Schwer.
Wie ein Stein.
Kalt und hart.
Die Krankheit ihrer Mutter dient ihr als Alibi für ihre gedrückte Stimmung. Sie hasst sich für ihre Verlogenheit, fühlt sich wie eine Verbrecherin. Sie findet keinen Ausweg heraus.
Wahnsinn.
Sie kann sich diese wahnsinnige Affäre, geboren aus einem Kuss der Verzweiflung, nicht verzeihen. Sie fühlt sich schuldig an Roberts Tod und kann mit keinem darüber reden.
Mit niemanden.
Nur am Grab flüstert sie immer wieder die gleichen Worte.
Warum musstest du mich mit diesem Geheimnis alleine lassen?



Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.05.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /