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Verzeih

 

 

 
Tina schaute aus dem Fenster. Weiß verschneit lag der große Garten vor ihr. Im Vogelhaus tummelten sich die Vögel und zankten sich um die Körner. Sie müsste heute noch neues Futter austreuen, dachte sie. Es war kalt draußen.
Als sie hinter sich ein leises Schnaufen hörte, wurde ihr schmerzhaft bewusst, dass sie sich im elterlichen Schlafzimmer befand.
Sie schloss die Augen. Weg war die winterliche Idylle, an der sie sich gerade noch erfreut hatte. Sie sträubte sich dagegen, sich umzudrehen. Sie wollte ihre kranke Mutter nicht sehen.
Sie wollte sie weder so sehen, noch wollte sie bei ihr sein. Jahrelang hatte sie sich vor diesem Augenblick gefürchtet, die letzte Hilfe im Leben ihrer Mutter sein zu müssen. Und nun war es geschehen und sie konnte sich nicht wehren.
Sie atmete tief ein und aus. Sie fühlte sich wieder hilflos wie ein Kind, einsam und verlassen. So, wie sie sich immer neben ihrer Mutter gefühlt hatte.
Kraftlos drehte sie sich um und schaute zu ihr.
Mutter.
Ein kleines Bündel lag vor ihr. Zerbrechlich. Dünne Ärmchen lagen auf der Bettdecke. Zurechtgelegt, wie zum letzten Gebet.
Müde Augen schauten sie an.
Sie bettelten nach Liebe.
Liebe.
Wo soll ich sie nur hernehmen, die Liebe, schrie es Tinas Kopf.
Was verlangst du jetzt nur von mir?
Mutter.
Warum hast du mich immer allein gelassen?
Mutter.
Warum fühlte ich mich immer einsam?
Mutter.
Warum kam dir nicht einmal in den Sinn, mich zu fragen, wie es mir geht, oder, ob ich etwas brauche.
Mutter.
Warum hast du immer an mir vorbei geschaut und darauf vertraut, dass ich alles alleine kann, und dass ich mit allem alleine zurecht komme?
Mutter.
Diese Fragen hätte Tina ihrer Mutter am liebsten ins Gesicht geschrien.
Hier und jetzt auf der Stelle.
Sie hätte sie am liebsten gerüttelt, als wenn sie sie damit zur Besinnung bringen würde. Mutter, wo warst du nur die ganze Zeit?
Nicht bei mir.
Bei mir nicht.

Langsam ging sie zum Bett. Sie wischte ihr behutsam den Schweiß von der Stirn. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment. Angst spiegelte sich in ihren Augen wider. In den Augen ihrer Mutter.
Tina wollte ihr gerne einen liebevollen Blick zur Beruhigung schenken. Sie versuchte es und sie hoffte, dass es ihr gelingen würde. So, wie es ihr immer gelungen war, ihre Mutter zu täuschen. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter ihre wahren Gefühle, jetzt am Ende zu spüren bekam.
Tina hatte, so weit sie sich zurückerinnern konnte, unter der Lieblosigkeit ihrer Mutter gelitten. Sie hatte sich angestrengt es zu ertragen. Sie ertrug es und schwieg. War augenscheinlich ein liebes Mädchen.
Tina brach innerlich zusammen als sie plötzlich die feucht warme Hand ihrer Mutter auf ihrem Arm spürte.
Ach Mutter, hättest du mich doch nur einmal festgehalten, weinte ihre Seele.
Sie musste die Augen schließen, um die Tränen zurück zu halten.
Tiefe Traurigkeit überschwemmte sie. Traurigkeit darüber, weil sie lediglich Trauer empfand. Eine Trauer, die sie für jeden anderen Menschen auch empfunden hätte.
Diese Erkenntnis traf sie mit voller Wucht und war doppelt schwer zu ertragen. Hätte sie nicht anders empfinden müssen? In Liebe?
Sie ist doch meine Mutter.
Meine Mutter.
Mutter.
Langsam legte sie die Hand ihrer Mutter wieder zurück auf die Bettdecke.
Ein tiefer Schmerz durchzuckte Tinas Körper. Sie fragte sich, was ihre Mutter wohl dachte. Ohne ein Wort zu sagen ging sie zurück ans Fenster. Sie blieb für ihre Mutter in Reichweite, wollte ihr somit ihre Nähe bekunden.
Innerlich jedoch zeriss es sie. Sie wollte weg und wieder machte sich in ihr der Wunsch breit, ihrer Mutter ihre ganze Wut ins Gesicht zu schreien.
Aber hatte sie nicht selbst all die Jahre geschwiegen, ihre Qualen versteckt, sich ihrer Mutter nie anvertraut und später alles aufgegeben?
Ja, das hatte sie.
Sie hatte sich immer mehr von ihr zurückgezogen. Besuchte sie nur noch wenn nötig und verschwand dann völlig in ihr eigenes Leben. Andere Menschen waren für sie wichtiger. Manchmal hatte sie sie sogar vergessen.
So wie sie allein gelassen wurde, so ließ auch sie später ihre Mutter alleine.
Tränen der Verzweiflung liefen ihr übers Gesicht.
Sie wusste, dass sie ihrer Mutter Unrecht tat. Sie wusste, dass ihre Mutter sie liebte. Mütter lieben ihre Kinder.
Immer.
Aber die Liebe ihrer Mutter ist bei ihr nie angekommen. Aber das wusste sie nicht. Die Mutter.
Tina senkte ihren Blick und weinte leise vor sich hin.
Hätten wir uns doch nur einmal darüber ausgesprochen, dachte sie wehmütig.
Warum habe ich nur alles so lange mit mir herumgetragen.
Es gab genug Zeit.
Zum Reden.
Zum Klären.
Nun gab es keine Zeit mehr.
Die Chance war vertan.
Sie lehnte ihren Kopf an die kühle Scheibe. Das tat gut. Sie musste sich zusammenreißen.
Sie musste es für ihre Mutter tun.
Nun musste sie durchhalten bis zum Ende.
Sie würde ihre Mutter mit diesen Vorwürfen, die nicht mehr zu ändern waren, nicht ins Grab schicken. Und es gab auch nichts mehr zu klären. Jetzt nicht mehr.
Sie allein würde mit dieser Last weiter leben müssen.
Sie allein würde sich weiter quälen müssen.
Sie allein würde der vielen ungesagten Worte nach trauern.
Das wusste sie.
Schweren Herzens ging sie zum Bett ihrer Mutter zurück. Sie schlief endlich.
Tina war froh, dass sie für einen Augenblick das Zimmer verlassen konnte, ohne in die unruhig, ängstlich fragenden Augen ihrer Mutter blicken zu müssen. Sie kam sich fremd und verlogen vor. Zaghaft strich sie ihr über den Kopf. Eine kleine Geste des Vergebens.
Verzeih mir, flüsterte sie leise.
Wenige Stunden später hallte ein lauter Schrei durch die Stille der Nacht. Tina stand zitternd am Bett ihrer Mutter. In ihren Händen hielt sie ein Blatt Papier.
Verzeih mir.

 

 

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Texte: alle Rechte beim Autoren
Bildmaterialien: alle Rechte beim Autoren
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2010

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