Indigo
*Prolog*
***
K
ennst du die Farbe "Indigo"? Ja? Sie ist schön, nicht?"
Sie nickt und lächelt.
"Dieses einzigartige Blau, welches dir gleich ins Auge fällt... Hach... So wie das Meer... Bei Nacht ist es indigoblau."
Sie macht große Augen und spielt mit dem feinen Sand, der uns umgibt.
"Du willst es sehen? Dann geh hin und schau, erfreue dich am Anblick."
Sie steht auf und eilt vor. Steht da, starrt in die Ferne.
"Besonders schön wird es aber erst, wenn das Licht des Mondes sich auf dem Wasser bricht. Verstehst du?", rufe ich.
"Das weiße Mondlicht!", schreit sie erstaunt und deutet gen Himmel.
"Bezaubernd, nicht wahr? Nimm all dies in dir auf und vergesse es nie. Genieße den Duft, die Geräusche.
Das Rauschen der Wellen. Und sieh immerzu auf das Wasser."
"Ich wünschte, ich könnte da unten leben, bei den vielen Fischen... Wie eine Meerjungfrau... Umgeben von Wasser...", schwärmt sie verzückt.
"Es gibt eine Geschichte über ein Mädchen, welches Indigo gerufen wurde. Sie lebte unter Wasser. Und sie war kein Mensch. Willst du, dass ich sie dir erzähle?"
Sie nickt eifrig und stürmt zu mir zurück. Gespannt lässt sie sich nieder.
"Schön, dann pass gut auf. Und denk dran, blicke immer auf das Meer! Und unterbrich mich nicht!"
Kapitel 1
***
I
ndigo und Darla waren sieben. Es war ihnen noch verwehrt, sich an Land aufzuhalten, so sehr sie es auch wollten. Das durften nur die Älteren. Wenn sie zehn sein würden, würden sie es auch dürfen.
Die beiden hatten nie etwas anderes als das Wasser gekannt, welches sie immerzu ungab, und doch lebten sie an der Luft.
Unter Wasser, eingeschlossen von einer so großen, festen Luftblase, die nur die Großen verlassen durften und konnten.
Die Kraft der Kinder war zu gering für so etwas. Ihre Mutter würde sie nicht eher herauslassen. Es war zu gefährlich...
Darla schaute heraus in die unendliche Weite des Ozeans unter Wasser. Alles war tiefblau, wunderschön blau.
Einige Meter neben ihnen war ein buntes Meer aus Anemonen, Wasserpflanzen- und Tieren. Seesterne in allen Farben klebten an den Felsen.
Ab und zu bekamen sie einen Tintenfisch zu Gesicht.
Einmal hatte einer Tinte von sich gegeben. Es hatte bezaubernd ausgesehen, wie diese schwarzen Schwaden sich mit dem Wasser vermischt hatten.
Ein Clownfisch schwamm an ihnen vorbei, so nahe. Beinahe zum Greifen nahe.
Darla streckte die Hand nach ihm aus.
Sie konnte ihn nicht berühren. Natürlich nicht. Die Blase war dazwischen.
Der Fisch erschrak und schwamm davon.
Sehnsüchtig pressten die beiden Kinder die Nasen an das Material der Luftblase und guckten dem Tier hinterher. Stille erfüllte die Umgebung. Noch.
"Darla, Indigo! Die Schule fängt an!", rief ihre Mutter ihnen zu, "Beeilt euch, ihr kommt sonst zu spät!"
Seufzend machten sich die beiden auf den Weg zu dem Schulgebäude, welches nicht allzu weit entfernt lag...
Das Schulgebäude war nicht gerade groß.
Kein Wunder.
Es gab nicht sonderlich viele Peasoras, Wesen, wie sie es waren, Wesen, die nur hier existierten.
Die Schule hatte kein Dach. Warum auch?
Hier konnte es nicht regnen. Es konnte nicht stürmen, nicht gewittern, nicht schneien...
Nein. So etwas gab es nur an Land, oben bei den Menschen.
So oft hatte Indigo schon davon gehört, Bilder in ihren Büchern gesehen, aber nie war sie bei etwas dergleichen dabei gewesen.
Wie gerne würde sie den Wind in ihren braunen Haaren spüren...
Sich den Regen in das Gesicht prasseln lassen...
Einmal eine Schneeballschlacht machen...
Oder die Sonne auf die Haut und das Haar scheinen lassen.
Ihr eigentlich braunes Haar würde dann einen lila Schimmer haben...
Den hatte es zwar jetzt auch schon, aber viel schöner würde er zur Geltung kommen, könnte sie doch nur in der Sonne stehen.
All diese Dinge hatte sie noch nie erlebt, sie kannte sie nicht. Dennoch mussten sie wunderschön sein.
Oben musste es wunderschön sein. An Land.
"Auch wenn es nicht soweit ist und es gewiss noch dauern wird, möchte ich euch etwas klarmachen.
Wenn ihr alt genug seit, an Land gehen zu dürfen, dann meidet jeglichen Kontakt zu den Menschen. Sie dürfen euch nicht sehen, habt ihr verstanden? Sonst sperren sie euch in kleine Glasgefäße. Menschen wollen nichts Gutes! Warscheinlich würden sie euch sogar töten wollen. Falls ihr aber doch einmal einem Menschen begegnen solltet, so verzaubert ihn und tötet ihn. Wir werden demnächst noch genauer darüber reden, wie das am besten, schnellsten und schmerzlosesten geht. Denn, wie ihr wisst, wir Peasoras sind keine bösartigen Geschöpfe. Wir wollen nur unsere Identität für uns behalten.", erklärte Sajola, die Lehrerin an der Schule.
Indigo und Darla schauten sich rätselnd an. Sie schienen das gleiche zu denken.
Warum waren die Menschen so böse?
Waren sie nicht selbst so etwas wie Menschen?
So oft schon hatte sie Menschen und Tiere in ihren Schulbüchern gesehen. Sogar die Dinge, die Menschen besaßen, hatte sie einmal gesehen. Im Museum.
Die Peasoras hatten ähnliche Dinge erfunden. Jedoch gab es keine Autos. Die brauchten sie nicht.
All dieses Wissen war in ihrem Gehirn fest verankert. Indigo wusste, dass sie dieses Wissen niemals vergessen würde. Sie könnte es gar nicht.
Alles Gesehene, Gehörte, Gerochene und mehr blieb immer und ewig in ihren Erinnerungen. Praktisch war das schon...
Indigos Finger schoss in die Luft.
"Wir sind den Menschen doch sehr ähnlich, oder?", fragte sie.
Sajola nickte.
"Mein Kind, wir sehen den Menschen sehr ähnlich. Aber wir sind schöner als sie, tausendmal schöner. Um die Augen haben wir Muster und Ornamente, Ranken und Linien... Das haben sie nicht. Wir sind mit unbegrenzter Weisheit gesegnet. Schon jetzt wisst ihr mehr als ein ausgewachsener Mensch. Und wir können die Seelen der Menschen sehen und übernatürliche Kräfte anwenden. Außerdem haben wir unsere eigene Hautfarbe. Perlmutt. Die der Menschen ist anders... Sie ist schwer zu beschreiben. Zudem hören wir mit zweiundzwanzig Jahren auf zu altern."
Das wusste sie.
Indigo betrachtete ihre leicht schimmernde, zarte Haut, welche wie Perlmutt schien, strich sich sanft über die Augenwinkel, dort, wo ihre Ornamente waren.
Eigentlich hatte sie gar keine. Viel mehr glichen sie Blättern oder Schmetterlingsflügeln.
Sie waren türkis, grün und blau. Mit zarten Verästelungen.
Indigos Wimpern waren sehr lang. Die Augen so blau wie der Ozean selbst, um die Pupille jedoch einen smaragdgrünen Ring, der mit goldenen Sprenkeln durchsetzt war. Die Lippen von hellerem Magentarot. Sie war noch schöner als die anderen Peasoras, was sehr ungewöhnlich war.
Darla war anders als sie.
Ihre Zwillingsschwester hatte rosa Ranken um ihre Augen, die wunderbar zu der Haut passten. Ihre Augen strahlten von einem wunderschönen, hellen Grün.
Indigo beneidete ihre Schwester darum. Sie selbst war ein wenig... Anders
?
Niemand hatte solche Verzierungen wie sie. Zumindest hatte sie noch nie welche gesehen.
Sajolas waren bunt, sie glichen Blumen.
"Merkt euch die Unterschiede zwischen uns, den Peasoras, und den Menschen gut. Darüber frage ich nächstes Mal ab."
Indigo und Darla notierten sich dies.
Etwas leichtes knallte gegen Indigos Rücken. Nicht fest, nein, überhaupt nicht. Aber fest genug, um es zu bemerken.
Tuco warf mit Papierkügelchen nach Indigo.
Sie wirbelte herum.
Ein Kügelchen traf sie direkt über dem Auge.
Tuco grinste breit und entblößte somit seine weißen Zähne.
Auch Darla drehte sich herum, als sie bemerkte, dass sich ihre Schwester bewegt hatte.
Die beiden Mädchen mochten Tuco nicht. Er war vorlaut und gemein, ärgerte sie, wann immer er konnte. Sein bester Freund Anjo half ihm immer gerne dabei. Die beiden machten sich einen Spaß daraus, die beiden Mädchen zu erpressen und zu hänseln.
"Tuco, lass das! Hör auf damit, das nervt!", wies ihn Indigo zurecht.
Er verdrehte die Augen und zeigte ihr seine Zunge.
"Was für ein unverschämter, mieser...!"
Indigo sprach das letzte Wort nicht aus.
Sajola schien den Streit nicht zu bemerken. Sie redete weiter.
"Die Menschen wissen zum Glück nicht, dass es uns Peasoras überhaupt gibt. Und das sollen sie auch weiterhin nicht."
Anjo nahm etwas aus Darlas Schultasche.
"Wenn du das wiederhaben willst, musst du mir zwei glänzende Muscheln geben.", sagte er hielt ihr ihre Stiftedose unter die Nase.
Verärgert griff Darla danach, doch Anjo zog es weg.
Tuco und er kicherten.
"Gib mir die Stifte!", flüsterte Darla scharf.
Die beiden ahmten sie nach.
Indigo wurde wütend, richtig wütend.
"Tuco, Anjo! Hört endlich auf!", schrie sie zornig.
Sajola verstummte. Die anderen drehten sich zu Indigo herum.
Hastig steckte Anjo die Stiftebox wieder in Darlas Tasche.
Sajola trat neben Indigo.
"Nun... Lasst uns doch auch an eurem Gespräch teilhaben.", sagte Sajola.
"Das war kein Gespräch! Das war Streit! Tuco und Anjo lassen uns nicht in Ruhe!", klagte Darla.
Ihre Oberlippe zitterte.
"Ist das wahr, ihr beiden?"
Die Jungs setzten ihre liebste Miene auf und schüttelten mit dem Kopf.
"Nein. Ich habe nur gehustet und da hat sie sich beschwert!", meinte Tuco und deutete auf Indigo.
"Stimmt doch gar nicht!", entgegnete sie laut.
"Benehmt euch, Kinder. Sonst müsst ihr heute die Tafel wischen und den Boden kehren."
Darla und Indigo sahen ein, dass es nicht half, sich über Anjo und Tuco zu beschweren. Keine von beiden wollte das Klassenzimmer sauber machen. Sie warfen den Jungen hinter ihnen einen warnendem Blick zu und drehten sich dann wieder zur Tafel.
Sajola nickte lächelnd und fuhr mit dem Unterricht fort.
Nach der dritten Stunde wurde die Pause mit einem melodischen Glockenspiel angedeutet.
Anjo und Taco gingen dicht hinter den beiden Mädchen her, als sie in den großen Pausenhof stürmten.
Indigo zog ihre Schwester mit sich. Die beiden stellten sich auf ihren Stammplatz, hinter einen Baum, dessen Stamm so breit und dunkel war, dass man sie dahinter sicherlich nicht entdeckte.
Seine Blätter leuchteten in einem satten Lila-blau, so schön, dass man hinsehen musste.
Hier konnten die beiden über alles reden, was ihnen einfiel.
Oft sprachen sie über ihren zehnten Geburtstag, der in drei Jahren sein würde, und wie schön es bestimmt an Land sein würde.
Nur zu gerne malten sie sich aus, was sie dort alles erleben könnten, und ob die Menschen wirklich so grausam waren, wie Sajola es sagte.
Gerade wollten sie wieder anfangen zu reden, da ertönte ein leises Kichern.
Verwundert schauten sie sich um.
Nichts.
Etwas raschelte in einem Busch, einige Meter von ihnen entfernt.
Indigo erschrak.
Aus dem Busch lugte der Kopf von Anjo heraus. Der hatte ein spöttisches Grinsen auf den Lippen.
Tucos Gesicht erschien neben dem von Anjo.
Die beiden grinsten Indigo frech an.
Diese zupfte hastig am Ärmel ihrer Schwester, die sich sofort zu ihr umwandte.
"Schau, Darla! Die beiden Blödmänner haben uns entdeckt!"
Darla klappte der Mund auf.
"Diese... Diese...!"
Die Jungen krochen aus dem Busch und schüttelten sich die Blätter aus den Haaren.
"Na, ihr beiden? Wollt ihr mal wieder ein wenig über die Welt über uns fantasieren?", spottete Tuco.
Indigo ballte ihre Hände zu Fäusten.
"Woher wisst ihr das?", fragte sie laut.
Anjo antwortete.
"Och, dieser Busch da hinten ist ziemlich bequem, wisst ihr? Wir halten uns gerne darin auf."
Darla und Indigo tauschten verärgerte Blicke.
"Habt ihr uns etwa immer belauscht?"
Die beiden nickten.
"Wir konnten nicht vermeiden, euch zuzuhören, und glaubt uns, wir wollten uns das Geschnatter gar nicht anhören."
Tuco äffte eine Gans nach.
Das Schlimme war nicht, dass diese Gespräche geheim gewesen waren, die Darla und Indigo führten, wenn sie hinter dem großen Baum saßen. Nein.
Geheim waren sie nicht.
Aber nie hätten sie gedacht, dass ihre Feinde ihnen zuhören könnten.
Diese Gespräche hatten ihnen gehört, und niemandem anderen. Sie hatten sie einzig und allein nur miteinander teilen wollen.
Indigo wurde wütend. Richtig wütend.
"Ihr seid so doof! Könnt ihr das nicht einfach mal lassen? Sucht euch andere heraus, die ihr belauschen könnt."
Anjo streckte ihnen die Zunge heraus.
"Sucht ihr euch doch einen anderen Ort raus, wenn ihr uns loshaben wollt. Übrigens..."
Er griff in seine Hosentasche und zog ein rosa Haarband heraus, "Gehört das nicht dir, Darla?"
Sie schnappte nach Luft und versuchte, es Anjo aus der Hand zu reißen.
Doch dieser stellte sich auf die Zehenspitzen, in dem Wissen, dass Darla so unmöglich darankommen würde.
Indigo stand ihrer Schwester zur Seite.
Aber es blieb zwecklos. Sie erreichten das Band einfach nicht.
Tuco lachte.
Darla hatte Tränen in den Augen.
Ob vor Wut, Trauer oder Ärger, das konnte Indigo nicht sagen. Vielleicht waren es alle diese Gefühle.
"Gib uns dein Pausenessen, dann bekommst du es wieder.", sagte Anjo.
Verärgert stampfte Darla zu ihrer Essensbox, die sie vorne am Baum abgestellt hatte.
Sie klappte sie auf und holte das Perlenbrot heraus.
Bevor sie es Anjo gab, biss sie einmal herzhaft davon ab. Dann reichte sie es ihm.
Er beäugte das Brot misstrauisch.
"Igitt, jetzt hast du davon abgebissen!"
"Stell dich nicht so an! Du bist doch ein Junge! Jungs sind nicht zimperlich!"
Das hatte gesessen.
Anjo wurde rot, sehr rot sogar.
Er gab das Band zurück und musterte das Perlenbrot.
Er wollte noch etwas gemeines zu Darla sagen, aber es wollte ihm einfach nichts einfallen. Es war, als habe er seine Sprache verloren.
So etwas peinliches war ihm noch nie geschehen!
Sonst fielen ihm doch auch immer so viele Sprüche ein. Warum nicht jetzt?
Die beiden Jungen wirbelten wortlos herum und huschten zu dem Busch, in dem sie immer saßen. Indigo grinste ihre Schwester an. Endlich hatten sie die Jungs auch mal vertrieben! Und das ganz allein, ohne die Hilfe von Lehrern oder Pausenhelfern.
Indigo beugte sich tief über ihren Aufsatz, den sie gerade für die Schule schrieb. Vier Seiten hatte sie schon, nun benötigte sie nur noch eine.
Sie saß draußen im Garten auf dem türkisen, weichen Gras, das ihre Beine und Füße kitzelte.
Sehnsüchtig warf sie einen Blick aus der Blase, ganz hinaus. Ein Schwarm Fische suchte sich seinen Weg durch die Weite des Meeres.
Ein leises Seufzen kam über Indigos schöne Lippen. Sie stützte ihren Kopf, der ihr aufeinmal so schwer erschien, in die freie Hand.
Es zog sie förmlich nach draußen. Sie verspürte große Sehnsucht nach der Oberfläche, dem Land. Dem Gebiet der Menschen. Endlich wollte sie mit eigenen Augen sehen, wie schön es dort droben war. Wollte den Duft der Blumen einatmen. Wollte Stimmen und Musik hören.
Aber dazu war es noch zu früh. Nein, sie musste ja noch drei Jahre warten, egal, ob sie wollte oder nicht! Wenn es nach ihr ginge, dürfte jeder hinaus in die Welt, egal wie jung oder alt.
Sie wollte einfach nicht länger nur auf dem Meeresgrund gefangen sein. Sie Sehnsucht ließ ihr Herz schneller schlagen, sie machte sie ganz zappelig.
Indigo widmete sich wieder ihrem Aufsatz und brachte eine weitere Seite zustande, irgendwie. Sie wusste, dass sie dafür Ärger bekommen würde, da sie sich keine große Mühe gegeben hatte.
Klatschend klappte sie ihr Schulheft zu und schob es in die Tasche. Ihre Gedanken schweiften wieder zur Menschenwelt.
Was konnten sie ihnen schon antun? Nichts. Und wenn, dann würde sie, wie Sajola gesagt hatte, die Menschen verzaubern und sie töten. Das müsste sie. Aber... Konnte sie überhaupt zaubern? Bei sich hatte sie noch nie so etwas wie Zauberkräfte entdeckt. Sie hatte niemandem von diesem kleinen Problem erzählt. Darla konnte bereits Magie anwenden, ebenso wie die anderen aus ihrer Klasse. Aber Indigo? Nein, sie konnte es nicht. Noch nicht?
So oft hatte sie es schon versucht, und es hatte nie geklappt. Ihre Eltern dachten, sie könnte zaubern. Dabei hatte sie ihnen die ganze Zeit verheimlicht, dass sie es nicht konnte.
Daran wollte sie gerade jedoch nicht denken. Viel lieber malte sie sich Bilder in Gedanken aus, wie es dort oben wohl sein würde.
Von ihren Eltern konnte sie nichts erfahren, obwohl diese öfter an Land gingen. Nein, Eltern durften ihren Kindern nichts von der Menschenwelt erzählen. Niemand durfte das, nur Lehrer. Und selbst diese verschwiegen einiges vor ihnen, das wusste Indigo genau.
"Indigo? Möchtest du Eis?", fragte Darla und trat neben sie.
"Nein, danke. Darla, fragst du dich nicht auch manchmal, wie es dort oben so ist?", seufzte sie.
Darla runzelte die sonst so glatte Stirn.
"Doch, das tue ich, sogar sehr oft. Ich kann es gar nicht mehr abwarten, bis es soweit ist!"
"Ich auch nicht."
Darla lächelte und ließ ihre Schwester wieder allein.
Und plötzlich fiel Indigo etwas furchtbares auf.
Man konnte die Blase nur mit Magie verlassen. Wenn sie keine hatte, würde sie auch nie nach draußen kommen!
Nein! Sie würde ganz bestimmt bald welche haben, da war sie sich sicher.
Als Indigo in dieser Nacht in ihrem Bett lag, starrte sie nach oben in die sternenlose Finsternis. Hier unten gab es keinen Mond und keine Sterne. Wie gerne sie das nur sehen würde...
Sie war hellwach, dachte gar nicht daran, die Augen zu schließen. Sie wollte jetzt endlich die Welt über ihr sehen. Nichts wollte sie mehr als das...
Leise schlug sie ihre Decke zur Seite und erhob sich. Darla in dem Bett neben ihr schlummerte tief und fest. Aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern hörte sie das laute Schnarchen von ihrem Vater.
Sie streifte sich ihren Schlafanzug ab und schlüpfte in ein Kleid. Dann verließ sie das Haus, mit klopfendem Herzen.
Indigo konnte nicht länger warten. Irgendetwas zog sie nach oben, etwas, das wichtig war oder sein würde.
Unbemerkt schlich sie sich durch die schwarze Nacht, hin zum Portal, an dessen Seiten zwei Wachen standen. Hier musste sie durchgehen, mithilfe von Magie.
Vielleicht würde sie genau hier und jetzt zu ihren Zauberkünsten gelangen. Wer wusste das schon?
Die beiden Wachen schliefen nicht, sie waren wachsam. Als sie Indigo sahen, zuckte einer der beiden Männer.
Sie ging auf die beiden zu, lächelte freundlich und versuchte, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, um größer zu wirken.
"Was suchst du spät nachts noch hier?", fragte einer der Männer.
"Ich wollte an die Oberfläche. Wenn ich nachts manchmal nicht schlafen kann, muss ich immer die Sterne sehen. Verstehen Sie?"
Sie hoffte innig, dass die beiden ihre Lüge glaubten.
"Haben wir sie hier schon mal gesehen, Jolah?", fragte der Mann den anderen.
Dieser kratzte sich kurz am Kopf und sagte:
"Nicht, dass ich wüsste. Aber wer weiß, vielleicht haben die anderen beiden sie schon einmal gesehen."
"Wie alt bist du denn, Mädchen? Du siehst noch sehr jung aus."
"Ich bin zehn geworden.", log Indigo.
Die beiden Männer rückten aneinander, um zu besprechen. Sie diskutierten lange und Indigo bekam Angst, dass jemand aus ihrer Familie bemerkt haben könnte, dass sie verschwunden war. Sie wollte nicht, dass jemand sie erwischte.
"Gut, du darfst gehen. Viel Spaß und pass auf dich auf.", sagte einer der Männer.
Indigo freute sich so sehr, dass sie Angst hatte, vor Glück zu platzen. Sie hatten ihr geglaubt! Sie würde jetzt an die Oberfläche gehen! Ganz bestimmt würde ihre Magie genau jetzt auftauchen, jetzt, wo sie sie brauchte! So war es doch in den meisten Filmen und Büchern, warum also nicht hier und jetzt, bei ihr?
Die beiden Männer öffneten das Portal.
Indigo stellte sich hinein, schloss die Augen, hoffte.
"Sammele jetzt deine gesamte Magie.", wurde ihr erklärt.
Sie sammelte Magie, die sie nicht besaß.
"Bündele sie."
Sie bündelte die Luft, das Nichts.
"Und jetzt setze sie frei!"
Sie setzte sie frei.
Und es geschah nichts, rein garnichts.
"Oh."
Enttäuscht schlug sie die Augen auf, blinzelte, ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten. Warum hatte es nur nicht geklappt?! Warum besaß sie noch keine Magie?! Sie wollte doch genauso sein wie alle anderen!
Tränen bildeten sich in ihren Augen.
"Es... Es geht nicht!", schluchzte sie und sah einen der beiden Männer hilfesuchend an.
"Mädchen, hast du uns etwa reingelegt?!"
"Nein! Aber..."
Schnell! Eine Ausrede musste her!
"Aber... Ich verliere manchmal meine Magie, wenn ich mich konzentriere. Es ist merkwürdig, aber..."
Sie zuckte die Achseln.
"Na, da können wir doch nachhelfen. Los, Jolah, wir helfen ihr."
"Ja. Und Mädchen, du weißt, wie du zurückkommst?"
Oh nein. Das hatte sie schon ganz vergessen! Benötigte man dazu nicht auch Magie?!
"Zum Glück braucht man keine Magie, wenn man zurückgelangen will. Du musst einfach nur hindruchgehen, um wieder hierher zu kommen. Verstanden?"
Erleichtert nickte sie. "Vielen Dank."
Erneut trat sie in das Portal. Die beiden Männer setzten ihre Magie frei.
Endlich! Sie würde endlich in die andere Welt kommen! Und sie würde die Allerjüngste von allen sein!
Voller Vorfreude rief sie den Männern zu, dass sie bereit sei.
Und dann... Dann wurde ihr zarter Körper von einem unglaublichen Gefühl durchflutet. Es war wie Wasser, das alles Schlechte aus ihr wegspülte, sie frei machte. Es war rein und klar...
Nein, es war, als würde sie fliegen, weit und hoch. Sie wollte nicht mehr aufhören...
Unter ihren Augenlidern wurde es rot, dann heller, weiß. So fühlte es sich also an, durch das Portal geschickt zu werden. Es war sogar noch besser, als sie je gedacht hätte.
Und dann, ganz plötzlich, war da nur noch schwarz unter ihren Lidern, kein weiß, kein Licht mehr.
Schwärze...
Sie riss die Augen auf und erkannte, dass sie sich in einer Art Höhle befinden musste. Sie tastete sich in der Dunkelheit voran, bis es heller wurde.
Und dann hatte sie den Ausgang der winzigen Höhle erreicht. Das, was vor ihr lag, verschlug ihr die Sprache. So etwas hatte sie noch nie gesehen.
Vor ihr lag das Meer, weit, endlos. Es glitzerte und schimmerte im weißen Licht des Mondes. Kleine Wellen überschlugen sich, rollten an die Felsen der Höhle, schlugen leicht dagegen. Der Mond stand hell und rund am Himmel. Er war so wunderschön, Indigo war von seinem Anblick gefesselt. Sterne waren wie glitzernde Punkte am schwarzen Himmel verteilt. Sie bildeten Muster.
Indigo war von diesem Anblick so überwältigt, dass ihr die Tränen kamen. So etwas wunderbares... Konnte das hier wahr sein? War das gerade wirklich real? Greifbar...?
Sie atmete tief ein, vernahm den salzigen, reinen Geruch des Meeres.
Sie hörte, wie das Wasser plätscherte und leise rauschte, spürte den sanften Wind auf ihrer Haut, als würde er mit ihr spielen wollen.
All das waren neue Eindrücke, die sie für immer behalten wollte. Sie würde es.
Es war gut gewesen, hier hoch zu kommen. Tränen glitzerten in ihren Augen.
Die kleine Höhle, in der sie sich noch halb befand, war nicht weit vom Strand entfernt.
Sie sprang ins Wasser, welches angenehm kühl war und schwamm hinüber zum Strand.
Der Sand war fein, er fühlte sich gut unter ihren nackten Füßen an. Immer und immer wieder fragte sie sich, ob das hier real war.
Sie konnte ihr Glück kaum fassen!
Lächelnd ließ sie sich im Sand nieder, malte Striche hinein, ließ ihn durch ihre Finger rieseln. Und immer wieder schaute sie hinaus auf das Meer oder in den Himmel.
Der Himmel... Er war genauso weit wie das Meer. Konnte man da oben auch leben? Konnte man dort schwimmen? Sie wusste es nicht...
Indigo saß lange auf einem Fleck, rührte sich nicht. Sie wagte es nicht, wieder nachhause zu gehen. Sie wollte hierbleiben.
Die Zeit verstrich, Sekunden, Minuten, Stunden...
Der Himmel hatte sich aufgehellt, weit hinten wurde er rosafarben, dann violett, dann blau. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen, noch nicht einmal in ihren Schulbüchern. Aber sie wusste, dass man das "Morgengrauen" nannte.
Der Morgengrauen wurde noch schöner, er leuchtete in vielen Farben, verfärbte das Meer.
Plötzlich nahm sie etwas wahr, ganz in ihrer Nähe, im Wasser. Was war das? Es sah aus wie ein großes Stück Stoff...
Menschen. Hatten sie es hier verloren? Suchten sie es?
Indigo bekam Angst. Sie würde das Ding niemals anrühren, das dort trieb.
Gerade, als sie wieder wegschaute, ertönte ein seltsamer Laut aus der Richtung des Stoffstückes. Als würde jemand... Nach Luft schnappen?
Das Geräuisch war leise, aber sie hörte es trotzdem.
Neugierig blickte sie hin. Und erschrak.
Aus dem Wasser ragte ein dünner Arm, dann ein Bein.
Ruckartig erhob sie sich. War das... Konnte es vielleicht sein, dass das ein Mensch war?
"Hilf...e!", ertönte es brüchig und hoch vom Meer.
Sie war sich nun komplett sicher, dass das, was auf dem Wasser trieb, ein Mensch war.
Der Mensch begann aufeinmal, heftig mit Armen und Beinen zu rudern, zu schreien.
Indigo überlegte nicht lange. Mit einem Satz war sie im Wasser, schwamm auf den Menschen zu, der offenbar männlich war.
Sie packte ihn unter den Achseln und zog ihn mit sich. Er wehrte sich und sie bekam eine Hand ins Gesicht.
Mühsam zog sie ihn aus dem Wasser, schleppte ihn an den Strand, legte ihn auf den Rücken.
Er war ein Junge, vielleicht ein wenig jünger als sie. Er war hübsch.
Sein nasses, warscheinlich mittel-dunkelbraunes Haar war recht lang, es hing ihm stränig ins braun gebrannte Gesicht. Seine Augen, die mit schwarzen, langen, dichten Wimpern umrandet waren, waren fest verschlossen, seine spitzen Augenbrauen nach oben gezogen, vor Anstrengung.
Seine Nase hatte einen ebenen und glatten, wohlgeformten Nasenrücken, die Lippen waren dunkel. Seine Wangenknochen lagen hoch, jedoch nicht zu hoch. Er war perfekt und wunderschön aber so...
Dünn?
Er atmete schwer, schnappte nach Luft.
Indigo wich vor ihm zurück, sie hatte Angst. Was, wenn er ihr etwas tun würde?
"H-Hallo?", fragte sie leise.
Keine Antwort. Der Junge hustete.
"Bitte, ich... Ich hab dir geholfen."
Ihr fiel nichts besseres ein.
Ein schrecklich klingendes Keuchen, dann nichts mehr. Mein Gott, war er tot?
Indigo trat geschockt wieder näher.
Zaghaft und ängstlich legte sie eine Hand auf die spitze Schulter des Jungen.
"Wach auf!"
Sie rüttelte ihn und pötzlich fing er wieder an, zu husten. Ein Wasserschwall kam aus seinem Mund. Danach presste er die schmalen Lippen fest zusammen. Seine Augenlider flatterten.
"Hallo...?"
Der Junge schlug seine Augen auf. Sie waren recht groß und... Schwarz. Indigo konnte seine Pupille nicht erkennen. Ob das im Tageslicht besser war...?
Sie war wie gebannt von diesen Augen...
"Bist... Bist du ein Mensch?", fragte sie.
"Natürlich, was soll ich sonst sein?", krächzte der Junge schwach.
Stimmte ja. Die Menschen wussten nicht, dass sie existierten.
"Ich habe dich gerettet. Wie geht es dir?"
"Nicht gut... Ich will... Nach Hause."
Seine Stimme war hoch.
"Ruhe dich erst aus.", sagte Indigo und ließ sich neben ihn plumpsen.
Seine Augen fixierten ihr Gesicht.
"Du bist schön.", sagte er nach kurzem Schweigen.
Sie errötete. Ja, er war auch schön, sehr sogar, dachte sie.
"Wie alt bist du?", forschte sie.
"Ich bin... gestern sieben geworden.", keuchte er.
Oh. Er war also elf Monate jünger als sie selbst. Sie und Darla würden genau in einem Monat acht Jahre alt werden.
Sie strich ihm das nasse Haar aus der glatten, leicht gewölbten, schönen Stirn. War er wirklich ein Mensch? Sie hatte das seltsame Gefühl, dass er ihr nichts tun würde...
"Wie heißt du?", wollte sie wissen.
Er zögerte und antwortete schließlich:
"Michael Alexej Damon Novak. Ich bin kein vollständiger Amerikaner."
Amerikaner? Amerika? Das war doch eines der Völker in der Menschenwelt...
"Mein Vater stammt aus Amerika, meine Mutter wurde am schwarzen Meer geboren.", erklärte er.
Das schwarze Meer? Davon hatte Indigo schon im Unterricht gehört.
"Ah. Okay...", sagte sie.
"Und wie heißt du?", fragte Michael.
"Ich werde von allen Indigo genannt. Einen richtigen Namen habe ich nicht, das spielt bei uns keine Rolle. Wir brauchen eigentlich keine Namen."
Sofort schlug sie sich die Hand vor den Mund. Ihr war zu viel herausgerutscht! Sie durfte nichts von ihrer Spezies verraten!
Zum Glück fragte Michael nicht nach. Er lächelte nur.
"Darf ich dir einen Namen geben?"
Was?! Hatte sie ehrlich richtig gehört? Einen Namen? Es war die größte Ehre, einen richtigen Namen zu bekommen, nur wenige ihrer Art bekamen einen!
War er wirklich ein Mensch? Sie hatte immer gedacht, dass Menschen schrecklich und gemein wären...
"Welchen Namen möchtest du mir denn geben?", fragte Indigo.
Er überlegte lange.
"Allyson. Ally.", flüsterte er sanft.
Der Name gefiel Indigo sofort. So etwas hatte sie noch nie gehört. So... Anders, so schön...
"Darf ich so heißen?", fragte sie schüchtern.
"Natürlich... Mich würde es... freuen..."
Michaels Stimme wurde schwächer.
"Danke..."
"Nein. Ich muss mich bedanken, dass du mich gerettet hast... Ally... Wir... Wir werden uns bestimmt bald wiedersehen, oder?"
Er schloss seine wunderhübschen Augen. Seine Hand legte sich in ihre. Ihr Herz wurde schwer. Würde sie ihn bald wiedersehen?
"Ja. Ja, wir sehen uns wieder, bald. Ganz bestimmt.", murmelte sie und drückte seine Hand.
Ein Lächeln bildete sich auf seinen Lippen.
"Gut... Ich schlafe jetzt ein wenig, Allyson..."
Seine Hand zitterte. Tränen tropften aus ihren Augen, liefen über ihre Wangen, landeten auf seinem Gesicht.
Würde er es schaffen...? Würde er überleben, würde er gegen den Tod ankommen können?
"Ich bleibe hier, bis du schläfst.", murmelte sie schwach.
"Dank...e..."
Es dauerte nicht lange, bis sein Körper aufhörte zu zittern. Nach einer Weile war er ruhig.
Sein Brustkorb hob und senkte sich leicht, sein kalter Atem streifte ihre Hand.
"Bitte, kannst... Ka-kannst du mich... in deinen Erinnerungen tragen? Vergiss mich nicht...", flüsterte er noch leise.
"Ich verspreche es.", schluchzte sie.
Dann war er weg. War er tot? Nein, das durfte nicht sein.
Aber... Er war nicht tot. Seine Hand hielt noch immer ihre, er atmete. Jemand würde ihn finden und ihm helfen. Er würde wieder werden, und Indigo würde ihn bald wieder besuchen, vielleicht morgen schon.
Aber nun musste sie gehen...
Sie ließ seine Hand los, die in den feuchten Sand fiel und dort regungslos verharrte.
Sie schaute ihn noch lange an, prägte sich sein hübsches Gesicht ein, jede Einzelheit. Ihr Namensgeber.
Sie hieß nicht mehr länger Indigo. Sie war jetzt Ally.
Nachdem sie sich sicher war, dass sie sein Aussehen nie vergessen würde, im wahrsten Sinne des Wortes, sprang sie ins kühle Nass und schwamm auf die kleine Höhle zu...
"Indigo! Was hast du getan?! Bist du verrückt? Warum haben Sie meine Tochter durchgelassen?!", rief ihre Mutter laut und warf den Wachen böse Blicke zu.
Indigo war gerade erst aus dem Portal gekommen, als sie den Aufruhr sah.
Oh nein. Ihre Mutter hatte sie erwischt. Sie war nicht unentdeckt geblieben. Angst und Panik verbreiteten sich rasen schnell in ihr. Sie würde nicht mehr an Land gegen können.
Ihre Mutter schoss auf sie zu, kaum dass sie das Portal verlassen hatte. Ihre Hände krallten sich in ihre zarten Schultern.
"Indigo, ich hatte Angst um dich! Ein Mensch hätte dich finden können!"
Sie senkte den Blick auf den Boden, um ihrer Mutter nicht in die Augen sehen zu können. Sie fühlte nichts, nur Leere. Sie hatten sie erwischt. Sie würde Michael nicht mehr sehen.
"Du bekommst acht Jahre Verbot, hier herauszugehen, an die Oberfläche zu gehen! Das muss sein, so etwas, wie du es getan hast, muss bestraft werden.", sagte ihre Mutter.
Die beiden Wachmänner stimmten ihr zu.
Indigo hasste ihre Mutter in diesem Augenblick. Sie würde ihn acht Jahre nicht mehr sehen. Wer wusste, vielleicht würde sie ihn nie wieder sehen.
Verzweiflung durchbrach ihren Körper wie ein Blitz. Sie sank in sich zusammen, schlang die Arme um die Beine und weinte hemmungslos. Oh, sie fühlte sich so schwach... Ihr Leben bedeutete ihr gerade nichts...
Es dauerte lange, sehr lange, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Dann jedoch rappelte sie sich auf und stapfte weg von ihrer Mutter, in die Richtung ihres Heims.
"Ach, übrigens, nur dass ihr es wisst: Ich heiße nicht Indigo. Ich bin Ally.", rief sie über ihre Schulter und ließ ihre Mutter verdutzt hinter sich.
Kapitel zwei
***
Ally, acht Jahre später
Ich war eifersüchtig auf Darla, in vielerlei Hinsicht. Sie durfte lange vor mir nach oben, in das Gebiet der Menschen. Sie hatte mehr Zeit dort verbracht, kannte sich besser aus. Ich durfte es erst seit einigen Monaten.
Sie besaß Magie. Ich nicht. Nein, noch immer nicht. Ich hatte mit noch niemandem darüber geredet. Alle vermuteten, dass auch ich, ganz normal wie jeder hier, magische Kräfte besaß. Dem war aber nicht so. Warum, wusste ich nicht. Nur Laid und Jolah wussten, dass ich keine Magie besaß, und auf meinen Wunsch hin hatten sie es niemandem verraten.
Ich kaute an meinem Bleistift, fügte noch einige Striche in meine Zeichnung ein. Radierte etwas weg. Fügte erneut Striche hinzu. Als ich fertig war, nahm ich mein Werk in die Hände, um es genau betrachten zu können.
Es sah ihm ähnlich, ich hatte ihn gut getroffen.
Auf dem Papier prangte das Gesicht eines siebenjährigen Jungen, welches ich so genau wie möglich aus meinen Erinnerungen abgezeichnet hatte.
Ich hatte ihn nicht vergessen, nein, natürlich nicht. Und ich würde es auch nie tun, ich hatte es ihm versprochen. Ich konnte mich an den Tag, an dem ich ihn gerettet hatte, ganz genau erinnern, als wäre es erst gestern geschehen. Dabei war der Vorfall nun schon acht Jahre her. Acht Jahre
.
Und ich wusste nichtmal, ob er es geschafft hatte, ob er überlebt hatte. Sein Zustand, in dem ich ihn zurückgelassen hatte, war nicht gut gewesen. Ich hoffte so sehr, dass er in Ordnung war, dass es beinahe körperlich schmerzte.
Mom würde mich verjagen, wenn sie wüsste, dass ich einem Menschen das Leben gerettet hatte. Aber sie wusste es nicht. Er war mein Geheimnis, von dem nie jemand etwas erfahren durfte.
Wie er jetzt wohl aussah, mein Namensgeber? Ich würde ihn zu gerne sehen.
Tag für Tag, seit ich nach oben durfte, hatte ich am Strand auf ihn gewartet, ihn gesucht. Gefunden hatte ich ihn nie, nur schreinende Kinder und genervte Erwachsene. Menschen. Ja, vor ihnen musste ich mich fernhalten, aber nicht vor Michael.
Seufzend klappte ich meinen Block zu und erhob mich. Mein Bild war nun fertig, ich würde an die Oberfläche gehen. Da ich keine Magie besaß, mussten mich die Wachen immer hochbringen, was mir ziemlich peinlich war.
Ich ließ mir Zeit, an das Portal zu kommen und schaute mich in der Umgebung um.
Das Gras, das mich weiträumig umgab, war türkis, die Blätter der Bäume lila, rot und blau. Manche Baumstämme wanden sich um den Stamm eines anderen Baumes, was mir gefiel. So etwas sah mystisch aus, zauberhaft.
Aber noch viel schöner war die Menschenwelt. Ich liebte es, wenn mir der Wind durch das braune Haar fuhr und an meinen nassen Kleidern zerrte.
Ich kam an das Portal, an dem Jolah und Laid standen und aufpassten. Durch diese beiden war ich vor acht Jahren nach oben gelangt, hatte Michael kennenlernen dürfen. Die beiden kannten mich bereits gut und ich sie ebenso. Sie waren beide schon älter als hundert Jahre, sahen aber aus wie zwei Junge Männer Anfang zwanzig. Typisch für uns Peasora.
Freundlich lächelte ich die beiden an.
"Na, Ally? Willst du mal wieder hoch?", fragte Laid grinsend.
"Ja, hier unten wird es mir zu öde.", grinste ich und trat näher.
Ich war so froh, dass sie meinen Namen akzeptiert hatten. Allyson. Das war viel schöner als Indigo.
Meine Eltern waren die einzigen, die mich noch so nannten. Sie akzeptierten meinen neuen, richtigen Namen nicht, den ich von Michael bekommen hatte.
Michael... Er müsste jetzt fünfzehn sein, genau elf Monate jünger als ich.
Laid und Jolah schickten mich in das Portal. Dort schloss ich meine Augen und wartete auf den "Flug".
Hoffentlich kam gerade niemand vorbei, der mich so sehen könnte. Es war einfach zu peinlich, keine Magie zu besitzen. Damit war ich wohl die einzige.
Hinter meinen Augenlidern wurde es gleißend hell, ich flog. Wie sehr ich dieses Gefühl doch nur liebte...
Kurze Zeit später verschwand die Helligkeit. Dunkelheit wich ihr. Nun befand ich mich in der kleinen Höhle, in der wir alle ankamen, wenn wir in die Menschenwelt wollten.
Meine Hand legte sich auf das feuchte, glitschige Gestein, bewahrte mich davor, mich zu verletzen. Fast mühelos fand ich meinen Weg an die Luft hinaus.
Das Meer glitzerte wie immer wunderschön. Möwen kreisten kreischend über dem Wasser, die Wellen rauschten beruhigend. Sie überschlugen sich, rollten an den Strand und gegen die kleine Höhle.
Die Sonne stand hoch am Himmel, erleuchtete die Umgebung.
Ja, mittlerweile kannte ich sie, die Sonne, und manchmal war ich ganz froh, wenn sie nicht ununterbrochen schien. Früher hätte ich alles dafür gegeben, sie nur einmal kurz betrachten zu können.
Der Strand war leer, kein einziger Mensch befand sich hier. Woran lag das nur?
Der Strand war schön, es war warm. Perfekt zum Baden.
Wie oft hatte ich schon im weichen, warmen Sand gesessen und gewartet? Gewartet, bis Michael kommen würde?
Unzählige Male, vergeblich. Er war nie gekommen
Aber er hatte gesagt, dass wir uns wiedersehen würden. Also würden wir dies auch!
Wie immer ließ ich mich, nachdem ich an den Strand geschwommen war, genau an der Stelle nieder, wo ich ihn gerettet hatte.
Ich strich mir mein Haar aus dem Gesicht, spielte mit einer Muschel, die ich gefunden hatte. Und wartete. Wartete... Wartete...
Nichts geschah, niemand kam, wie immer.
Michael war doch damals nicht wirklich gestorben, oder? Hatte man ihn nicht gefunden?
Mein Herz wurde schwer.
Die Sonne senkte sich immer weiter nieder, bis es aussah, als stünde sie auf dem Wasser. Das Meer vor mir schimmerte in den rötlichen Tönen, in die der Horizont getaucht war.
Nach einer Weile rappelte ich mich seufzend auf. Es würde doch nichts nützen, hier noch länger zu sitzen. Michael würde nicht mehr kommen, er hatte mich vergessen.
Ja, ganz genau so musste es sein, er hatte mich vergessen. Menschen vergaßen eben. Er schmerzte überraschend stark, dieser Gedanke.
Noch einen letzten Blick, den ich über meine Schulter warf, dann tauchte ich in das kühle Nass...
Genervt füllte ich die Lücken auf meinem Arbeitsblatt. Es handelte davon, wie gefährlich Menschen doch waren und wie man am besten verhindern konnte, ihnen zu begegnen. Was man tun sollte, wenn man von einem erwischt wurde. Wie man sich gegen Menschen wehrte, wie man sie am besten austrickste. Wie man sie im Notfall am schnellsten tötete.
All dies hing mir zum Hals heraus!
Natürlich, wir Peasora mussten das Geheimnis unserer Spezies gut hüten. Blabla...
Aber was, wenn nicht alle Menschen so waren, wie man dachte? Wenn es auch gute gab? So wie Michael...?
Die Miene meines Bleistiftes brach ab. Ich legte ihn zur Seite.
Mein Finger schoss in die Luft.
"Ja, Allyson?", rief mich Sajola auf.
"Es gibt doch auch gute Menschen, oder?", stellte ich aufgeregt meine Frage, die mir im Kopf herumgespukt war.
Fest verschränkte ich meine Hände miteinander, um meine Nervosität zu unterdrücken.
Sofort schnellten zwanzig Köpfe zu mir herum. Meine Klassenkameraden schauten mich fragend, misstrauisch und neugierig an.
Sajola blickte mich entsetzt an, die Augen weit aufgerissen.
"Aber Allyson, wie kommst du denn darauf? Nein, so etwas wie gute Menschen gibt es bestimmt nicht, bis auf die Kinder. Alle anderen würden dich verraten, weil du anders bist. Und dann würdest du in einem Untersuchungs- und Experimentierlabor landen. Ist das deine Vorstellung unter "Gut"?"
Hastig schüttelte ich den Kopf.
"Nein. Aber... Angenommen, ein Mensch wüsste, was ich bin. Und er würde mich nicht... verraten. Er würde mir nichts tun. Dann müsste ich diesem Menschen doch auch nichts antun, oder?"
Sajola schluckte und überlegte kurz.
"Doch, das müsstest du. Niemand darf wissen, was wir sind, niemand. Und solche Menschen, wie du beschrieben hast, gibt es nie und wird es nie geben."
Woher wusste sie das? Hatte sie selbst Erfahrungen gesammelt oder hatte sie das mal wieder in Büchern nachgelesen?
"Warum? Kennst du etwa einen Menschen?", hallte Tucos Stimme spöttisch durch die Klasse.
Kaum zu glauben, aber unser Verhältnis hatte sich in acht Jahren noch immer nicht geändert. Darla und ich konnten ihn weiterhin nicht ausstehen. Mit Anjo war es genauso, der grinsend neben Tuco hockte.
Zischen und Gemurmel ging durch die Klasse und jetzt ruhte auch der Blick meiner Schwester, die neben mir saß, auf mir. Ihr Blick brannte, tausende Fragen lagen darin.
Ich hatte einen Fehler gemacht. Ich hätte dieses Thema nicht anschneiden dürfen! Niemand sollte Verdacht schöpfen, dass ich einem Menschen begegnet war, egal, wie lange es schon her war!
Ich atmete tief ein und warnte mich selbst: Ally, Ruhe bewahren. Lüge. Lüge gut, tu es für Michael.
Als ich genug Mut gesammelt hatte und mir sicher war, dass ich nicht falsch klingen würde, antwortete ich mit ziemlich fester Stimme:
"Natürlich kenne ich keinen Menschen. Wie könnte ich? Aber diese Frage hat mich schon lange beschäftigt. Vielen Dank, Sajola. Jetzt weiß ich, dass ich noch vorsichtiger an der Oberfläche sein muss."
Sajola nickte mir lächelnd zu. Ich hoffte innig, dass nun niemand mehr die Vermutung hatte, ich könnte einen Menschen kennen.
Zu meiner Erleichterung drehten sich die anderen wieder herum und widmeten sich der Tafel, an die Sajola die Lösungen des Arbeitsblattes schrieb. Es kratzte leise, wenn sie mit der Kreide über die Tafel fuhr, aber das störte mich nicht weiter. Nein, eher war es beruhigend in der jetzt ganz leisen Klasse...
"Es ist doch wirklich nicht wahr, oder?", fragte Darla besorgt, als sie zögerlich zu mir trat.
Ich legte meinen Stift beiseite und musterte mein Werk. Es war gut, aber nicht perfekt. Einiges würde ich noch ausbessern müssen. Dann legte ich den Block vor mich und hob den Kopf, um meine Schwester genau anschauen zu können.
"Was soll nicht wahr sein?", fragte ich und legte den Kopf schief.
Ich wusste bereits, auf was sie anspielte, da ich mir aber nicht sicher war, fragte ich lieber nach.
"Na, du kennst doch keinen Menschen! Du wurdest vor acht Jahren von keinem Menschen gesehen, oder?", stellte sie ihre Frage, die ihr anscheinend die ganze Zeit über auf der Zunge gelegen hatte.
Ich sammelte Kraft, um sie erfolgreich anlügen zu können. Als ich mir sicher war, dass mich weder meine Stimme noch meine Körperhaltung verraten würden, lächelte ich sie an und sagte ruhig:
"Nein, Darla. Ich kenne keinen Menschen und ich möchte auch nie einen kennenlernen. Du weißt doch, dass wir sie vermeiden sollen. Wäre ich damals oder heute einem begegnet, hätte ich ihn getötet, so wie es alle tun würden."
Mit zusammengezogenen Augenbrauen studierte sie mich, als würde sie mir nicht glauben. Als würde sie nach der Lüge suchen, die mich verraten sollte. Ja, die gab es auch, aber sie war viel zu tief in mir verborgen, gehütet. Sie war mein Geheimnis, an das sie nicht kommen würde. Ich musste es besser schützen als alles andere, denn wenn sie wirklich wüsste, was vor acht Jahren geschehen war, dann...
Nein, ich wollte mir gar nicht ausmalen, was dann geschehen würde. Auf jeden Fall nichts Gutes. Deshalb würde ich Michael schützen.
Michael Alexej Damon Novak.
Sein Name zauberte ein Lächeln auf meine Lippen.
"Gut... Ich glaube dir. Aber ich habe noch eine Frage."
Innerlich verrollte ich die Augen. Was würde das schon wieder werden?!
"Jaaa?", stöhnte ich mehr, als es zu sagen.
"Woher hast du den Namen "Allyson"? Das ist ein Menschenname. So etwas hast du noch gar nicht gekannt, bevor du an Land warst!"
Oh.
Ihre Frage brachte mich durcheinander, machte mich nervös. Allyson. Ja, woher hatte ich diesen Namen?! Ich konnte ihr niemals die Wahrheit erzählen, nicht nur, weil sie dann wüsste, dass ich sie vorher angelogen hatte!
Angst schoss mir durch die Adern, brachte mich zum zittern. Ich unterdrückte es so gut wie möglich. Darla sollte es nicht sehen.
Und im selben Moment atmete ich erleichtert aus. Erleichtert, weil mir die Lösung auf ihre Frage bekannt geworden war. Und diese Lösung war so einfach, so klar!
"Liebes Schwesterchen, Darla
. Wie bin ich wohl auf diesen Namen gekommen? Hast du es selbst noch nicht bemerkt? Du trägst auch einen Menschennamen. Und meinen habe ich irgendwo gehört. Er hat mir gefallen, also habe ich mich so benannt. Wieso auch nicht? Hier wird jeder sowieso gerufen, wie er möchte."
Darla riss die Augen auf. Damit hätte sie nun doch nicht gerechnet!
"Oh. Okay. Danke, Ally, ich glaube dir. Weißt du, ich war nur so verunsichert durch Tuco heute.", sagte sie und grinste.
"Hast du immer noch nicht bemerkt, dass Tuco ein hirnloser Waschlappen ist?"
Wir kicherten.
In dieser Nacht lag ich lange wach in meinem Bett. Ich starrte nach oben und war enttäuscht und traurig, dass es hier keine glitzernden Sterne gab. Man sah nichts, nur Dunkelheit. Wenn man wenigstens den Mondschein hier bemerken würde, egal, wie schwach er sein würde!
Ich presste mein Tagebuch an mich, in das ich gerade meine heutigen Erlebnisse geschrieben hatte. Natürlich war nichts außergewöhnliches passiert. Hier passierte nie etwas, und erstrecht nicht mir. Dennoch konnte ich es einfach nicht lassen, mein Tagebuch zu vervollständigen.
Als ich so darüber nachdachte, kam mir eine Idee. Eine Idee, die mein Herz schneller schlagen ließ.
Briefe. In Zukunft würde ich kein Tagebuch mehr schreiben, sondern Briefe an Michael. Darin würde ich ihm erzählen, was mir geschah, was um mich geschah. Und falls ich ihn irgendwann einmal wiedersehen sollte, würde ich ihm diese Briefe geben, meinem Namensgeber. Ja, so würde ich es machen!
Ich schwang mich aus meinem Bett und hastete zu meinem Schreibtisch, aus dem ich mir Papier und Umschläge nahm. Dann schnappte ich mir noch einen Kugelschreiber, hüpfte auf mein Bett, knipste meine Nachttischlampe an und begann zu schreiben.
Lieber Michael,
Noch immer bin ich dir dankbar für den Namen. Allyson, Ally. Stell dir vor, man nennt mich hier sogar schon so, weil ich es durchgesetzt habe! Besser hätte es mich nicht treffen können.
Ich hoffe sehr, dass es dir gut geht und dass dir nach dem Vorfall vor acht Jahren am Strand nichts schlimmes widerfahren ist. Wirklich, ich hoffe es von ganzem Herzen.
Ich habe dir versprochen, mich an dich zu erinnern und dich nicht zu vergessen. Und ich habe mein Wort gehalten, sonst würde ich dir ja keinen Brief schreiben. Es werden noch mehr Briefe folgen, so viele, bis wir uns wiedersehen.
Ich war am Meer und habe nach dir gesucht, immer und immer wieder, aber ich konnte dich nicht finden. Ich mache mir Sorgen, auch wenn das seltsam klingt, weil wir uns kaum kennen.
Lass dir gesagt sein: Ich werde weiterhin warten. Und ich weiß, dass du irgendwann wieder an den Strand kommen wirst.
Ally
Wusste ich wirklich, dass er wieder kommen würde? Nein, selbstverständlich nicht. Ich wusste ja nicht einmal, ob er überlebt hatte! Aber ich konnte einfach nicht anders, ich hatte diesen Brief schreiben müssen.
Vorsichtig schob ich ihn in den seidenen Briefumschlag, schloss ihn und schrieb seinen Namen in die Mitte.
Dann suchte ich mein Zimmer ab, um ein geeignetes Versteck für den Brief zu finden, wo ihn niemand finden würde. Ich entschied mich für mein Kissen.
Mom überzog mein Bett nie, das musste ich allein machen. Und niemand würde auf die Idee kommen, dass ich etwas vor jemandem verstecken würde.
Deshalb war dieses Versteck gut genug. Vielleicht würde ich später nach einem anderen, sichereren sehen, aber für diese Nacht genügte dieses.
"Indigo, Liebes, wir müssen noch einmal mit dir reden.", begann meine Mutter am Morgen beim Frühstück.
Mein Vater neben ihr machte ein ernstes und besorgtes Gesicht. Immer wenn er so schaute, wusste ich, über was wir gleich reden würden. Und dieses bestimmte Thema verfolgte mich schon seit acht Jahren.
Innerlich verrollte ich heftig die Augen. Herzhaft biss ich in mein Perlbrot.
Ich schaute meine Eltern gespielt nichtsahnend an, so fragend und unschuldig, wie es mir möglich war.
"Ja? Um was geht es denn?", fragte ich.
Mom verschränkte ihre Finger so fest miteinander, dass sie zitterten. Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe.
"Ach, es geht um so vieles...", begann sie, zögerte dann jedoch.
"Ja? Ich habe Zeit, Mom.", sagte ich.
Mom suchte nach Worten. Offenbar hatte sie große Mühe, welche zu finden. Dad räusperte sich und übernahm das Sprechen.
"Zum einen wollen wir mit dir über deinen neuen Namen reden. Du weißt, dass wir nicht begeistert davon sind.", sagte Dad.
Hah, da war es. Das Thema. Mein Name, über den wir schon seit acht Jahren diskutierten.
"Mir gefällt er, und das habe ich euch schon oft gesagt.", zischte ich schärfer als beabsichtigt.
"Ja... Sicher... Aber wir fragen uns noch immer, wo du diesen Namen aufgetrieben hast."
"Ich habe ihn gehört, irgendjemand hat ihn mal erwähnt.", antwortete ich wie all zu oft.
Wie oft hatte ich ihnen das schon überzeugend vorgelogen? Ganz bestimmt so oft, dass ich mittlerweile behaupten konnte, eine gute Lügnerin zu sein.
"Hmm, das bezweifeln wir auch nicht. Aber muss es ausgerechnet ein Menschenname sein?"
Ich spürte, wie die Wut in mir aufstieg.
"Darla trägt zufälligerweise auch einen Menschennamen. Das
hat euch noch nie gestört."
"Ja, aber... Was hast du denn gegen "Indigo" einzuwenden?", fragte mein Vater.
"Mir gefällt Allyson einfach besser! Warum akzeptiert ihr das nicht endlich? Der Name gefällt mir eben!"
Meine Eltern starrten mich schweigend an. Damit wusste ich, dass ich diese Diskussion mal wieder gewonnen hatte, wie die anderen tausend Male davor. Und dennoch würden sie mich nie "Allyson" nennen.
Mom und Dad schauten sich an, schienen neuen Mut zu schöpfen. Sie bereiteten sich auf die gleich folgende, zweite Diskussion vor.
Was das wohl wieder sein würde? Hatte es etwas mit der Schule zu tun?
Diesmal ergriff Mom wieder das Wort.
"Indigo, wir haben in den letzten Jahren etwas beobachtet."
Oje. Genervt biss ich von meinem Brot ab. Was sie wohl bemerkt hatten? Kleidete ich mich ihrer Meinung nach nicht richtig?
"Wir vermuten, dass du keine Magie besitzt.", platzte Dad heraus.
Beinahe verschluckte ich mich an meinem Brot. Im letzten Moment konnte ich das Stück noch herunterschlucken. Ruckartig ließ ich das Brotmesser in meiner Hand fallen, welches klirrend auf dem Teller landete.
Wie zum Teufel waren sie darauf gekommen?! Hatten Jolah und Laid doch etwas verraten?
"Also bitte! Wie kommt ihr denn darauf?!", fragte ich ein wenig zu energisch.
"Wir haben beobachtet, dass du beim Portal immer von Laid und Jolah hinaufteleportiert wirst. Sie machen es für dich, sie zaubern für dich."
"Ich habe Zauberkräfte!"
"Warum machst du es dann nicht selbst?"
Ich schluckte. Mir fiel nichts ein, was ich darauf erwiedern konnte. Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und biss meine Zähne fest zusammen. Schweigend starrte ich auf die glänzende Tischplatte. Eine Pause entstand. Dann:
"Oh mein Gott, Indigo! Du musst uns doch sagen, wenn du keine Magie besitzt! Weißt du, was das heißt?! Falls du einem Menschen begegnen solltest, kannst du seine Seele nicht sehen! Du kannst nicht allein an die Oberfläche! Du bekommst schlechte Noten in dem Schulfach "Magie", das du bald bekommen wirst!"
Meine Mom klang völlig hysterisch. Sie wedelte sich Luft zu und schlug dann die Hände vor den Mund.
Dad musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen.
Na toll. Jetzt wussten sie es. Würden sie mir jetzt wieder verbieten, an Land zu gehen? Würden sie mich bestrafen oder verabscheuen, weil ich anders war als die anderen?
Angst keimte in mir auf, vermischte sich mit Wut und Hass.
Angst vor dem, was mir bevorstand. Wut auf meine Eltern. Und Hass auf meine nicht vorhandene Magie.
"Meine Magie wird bestimmt bald kommen.", sagte ich.
Niemand entgegnete etwas.
Als mir die Stille zu lange andauerte, hob ich den Kopf und sah in die jungen, geschockten Gesichter meiner Eltern.
Wenn man so darüber nachdachte, war es seltsam, dass man irgendwann genauso alt wie seine Eltern sein würde, zumindest vom Aussehen her. Oma wäre in Menschenjahren ungefähr schon siebzig, sah aber aus wie eine Zweiundzwanzigjährige. Ja, es war merkwürdig, aber man gewöhnte sich daran.
"Was sollen wir nur tun, damit du zu deiner Magie kommst?", wimmerte Mom.
Sie zitterte, sie war vollkommen außer sich. Beruhigend legte ich ihr eine Hand auf den Arm.
"Mom, ich bin sechzehn Jahre lang gut ohne Magie ausgekommen. Ich brauche gar keine."
Sie schaute mir in die Augen. Tränen kullerten über ihr Gesicht.
"Ich... Ich weiß."
"Es war nicht schlimm, wirklich.", log ich.
"Ich glaube dir. Aber... Es tut mir leid, aber das muss ich erst einmal verdauen."
Mit diesen Worten erhob sie sich und ging davon.
Dad und ich saßen in der Küche, allein. Darla schlief noch. Niemand von uns beiden wagte, etwas zu sagen.
Ich schnitt mir noch eine Brotscheibe ab und beschmierte sie mit einem Aufstrich, den es nur bei uns Peasora gab.
Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, dass Dad mit seinen Fingern spielte. Na toll. So wie ich ihn kannte, brütete er schon auf einer neuen Frage.
"Und? Wie läuft es mit den Jungs?", brachte er hervor, als ich kurz davor war, mein Brot zum Mund zu führen.
"Dad, bitte!", rief ich entgeistert.
Er wurde rot.
"Ich frage doch nur. Weißt du, ich will nur nicht, dass dir etwas passiert. Du weißt schon..."
Nein. Nicht auch noch dieses Thema!
Ich würgte. Nein, dieses Gespräch wollte ich so schnell wie möglich weghaben!
"Dad", sagte ich langsam und deutlich, "Zwischen mir und Jungs läuft nichts. Mach dir keine Sorgen."
"Gibt es da niemanden, der dir gefällt?", hakte er weiter nach.
"Nein! Es gibt keinen!", spuckte ich aus.
Und das stimmte. Es gab keinen Jungen, der mir etwas bedeutete. Ich war nicht verliebt, und ich war es auch noch nie gewesen. Wie fühlte sich das überhaupt an?
Plötzlich musste ich an Michael denken. Ich spürte, wie mein Kopf warm wurde. Hastig vertrieb ich den Gedanken an ihn wieder. So schnell wie er gekommen war, war er auch wieder verschwunden.
"Dann muss ich mir also keine Sorgen machen.", stellte Dad erleichtert fest.
Texte: Das Bild habe ich bearbeitet. Das Copyright gehört mir.
Tag der Veröffentlichung: 22.04.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für den Jungen, der seine wunderschönen Augen so für mich öffnet, dass ich seine bezaubernde Seele erblicken darf.
Und für meine allerbeste Freundin! Du bedeutest mir alles!