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Vorwort


Ich sitze hier im kühlen, sommerlich verregneten Düsseldorf und suche nach Inspiration für meinen Reisebericht. Wie könnte ich von hier aus diese Stimmung in Worte kleiden, die mich durch Russland begleitet hat? Wie kann ich mein Gefühl zurück in die russischen Birkenwälder bringen, wo ich mich so zu Hause fühlte? Wie kann ich von hier aus wiedergeben, wie sich der totale Frieden anfühlt, der mich in Russland gleich zweimal an einem Tag überwältigte? Wie kann ich, als wenig religiöser Mensch, am PC sitzend, die Erhabenheit eines 600 Jahre alten russischen Klosters beschreiben?
Das einzige was ich machen kann, um diese Gefühle wieder aufzurufen, ist, meinen Moskauer Lieblingssender auch zu Hause zu hören, mich zu erinnern, und noch einmal die Gedanken in die russische Seele eintauchen zu lassen.


Die russische Seele



Ich hatte immer schon eine besondere Affinität zum Russischen. Zum Land, zur russischen Volksseele, der melancholischen Musik, die sie widerspiegelt, zur Sprache und Kultur. Ich weiß nicht, woher das kommt. Ich kann das alles nicht erklären. Ich kann auch nicht erklären, warum ich nach Russland immer so ein Heimweh spüre. Noch erstaunlicher ist, dass sich dieses Heimweh sofort gelegt hat, als ich in der russischen Provinz ankam. Selbst im „amazing“ Moskau fühlte ich mich zu keiner Zeit fremd. Offenbar hat mir dort auch niemand den Touristen angesehen. Trotzdem ich immer von russischen Freunden umgeben war, sprachen die (zum Teil russischen) Touristen immer MICH an, um nach dem Weg zu fragen. Irgendwann war ich es, die den Touristen erklärte, warum eine Kirche gerade geschlossen war oder ich übersetzte eine Anweisung der russischen Miliz den Amerikanern aus dem Russischen ins Englische. Hätte ich Geld dafür genommen, andere Touristen zu fotografieren, hätte ich meine Reise gut verlängern können. Es war seltsam, aber es fühlte sich gut an. Ich war einer von ihnen. Mein russisch wurde auch jeden Tag besser. Ich war durchaus immer besser in der Lage, mit Verkäufern auf russisch zu kommunizieren, die Banner zu deuten, die mir Dinge wie Tiefpreisgarantie versprachen oder den Anweisungen der Bauarbeiter zu folgen und gefälligst nicht durch ihre Baustelle zu laufen. Ich kam also zurecht. Meine kleine 8jährige Tochter auch, sie schaffte es, sich alleine ein Eis zu kaufen und lernte schnell, dass man in der Metro die Ellenbogen einsetzen muss, um zu seinem Recht zu kommen. Ich weiß nicht, woher sie die Energie nahm, aber sie lief die ganze Woche Rad schlagend durch die Stadt und sang dabei immer den alten Schlager „Moskau, Moskau – Russland ist ein schönes Land, werft die Gläser an die Wand…“ usw.
Die einzige Schwierigkeit bestand darin, meiner Tochter die Sehenswürdigkeiten zu erklären, da die russischen Helden ja aus drei Epochen stammen: dem zaristischen, dem kommunistischen und dem modernen Russland. War nicht einfach, der Kleinen das verständlich zu machen und ich weiß nicht, wie sie das einordnen kann. Sicher jedoch ist, sie hat mehr gelernt als die Kinder, die jedes Jahr nach Spanien in die Ferien fahren. Das besondere an dieser Reise war ja, dass wir nicht als Touristen im herkömmlichen Sinne unterwegs waren, sondern in das wirkliche Leben eingetaucht sind.

Zu Gast bei Freunden



Gewohnt haben wir in Moskau bei einem sehr guten Freund, den ich aus dem www.hospitalityclub.org kenne. Ilja war schon im Januar für zwei Wochen in Düsseldorf und hier waren wir zusammen unterwegs, alles zu erkunden. Ilja spricht sehr gut deutsch und interessiert sich sehr für alles Deutsche. Er hat mehr deutsche Klassiker gelesen als ich. Er ist der herzlichste Mensch den ich kenne, gebildet, ein Kavalier und mein bester Freund. Die 3500 km zwischen uns machen die Sache nicht unbedingt einfacher. Nur Dank Internet und Telefon gelingt es uns, die lange Zeit zwischen unseren Besuchen zu überbrücken. Ilja teilt sich die Wohnung mit seiner Schwester und seiner Mutter. Er stellte uns sein Zimmer zur Verfügung, es war für alles gesorgt. Von der legendären russischen Gastfreundschaft gehört zu haben ist das eine. Sie zu erleben übertrifft alle Vorstellungen. Ich durfte noch nicht mal das Geschirr selbst spülen. Kamen wir spätabends von unseren Touren heim, stand etwas Gekochtes auf dem Tisch und wir wurden regelrecht genötigt, etwas zu essen. Ich habe versucht, meiner Gastfamilie Geld für Lebensmittel zu geben – haben sie nicht angenommen. Ich habe versucht, den Einkauf zu bezahlen – durfte ich nicht. Aber das war nur der Anfang. Neben Ilja habe ich ja noch einige Freunde in Moskau, die sich bis dahin alle untereinander nicht kannten. Daher war es besonders erstaunlich für mich, dass sie alle miteinander per Handy telefoniert haben, um uns, ihre Gäste, zu organisieren, um uns ja nicht allein zu lassen, soweit möglich. Ich hätte ja auch selbst anrufen können, aber sie waren sich darin einig, meinen ausländischen Handytarif nicht zu belasten. So standen sie immer miteinander in Kontakt, um Treffpunkte auszumachen, uns vom einen dem anderen zu übergeben usw. Ich kenne so etwas von zu Hause nicht, es hat mich sehr gerührt. So viel Fürsorge erlebe ich noch nicht einmal in meiner Familie. Dass ich wieder in Deutschland bin, wurde mir übrigens sofort nach der Landung klar, als am Flughafen alle anderen Fluggäste von ihren Familien und Freunden (oft sogar mit Blumen) empfangen wurden. Mein Mann aber meinte, uns an der Straße draußen einzusammeln. Schade, ich war sehr traurig darüber. Und zu Hause gab es noch nicht einmal Milch für meinen Kaffee oder überhaupt irgendwelche Getränke. Ich war nicht da und niemand hier hatte eingekauft für´s Wochenende. Willkommen daheim, Bekky.
Ganz anders wiederum mein Kollegen aus der Firma. Sie schickten mir täglich sms nach Russland und fragten, ob es uns gut geht, schrieben, dass sie uns vermissen und grüßten auch von den russischen Kollegen aus der Firma. Rührend.

Moskau



Moskau selbst hat mich ein wenig erschüttert. Natürlich wusste ich von der Verwestlichung der Metropole. Aber hier ist es wie mit der Gastfreundschaft: etwas theoretisch zu wissen und es zu erleben ist etwas anderes. Ganz zum Anfang sind mir die russischen Frauen aufgefallen. Ich hab Komplexe gekriegt, ob ihrer Schönheit. Leute, sind die Frauen schön … aber mit jedem Tag sah ich deutlicher, dass diese Schönheit nur leere Verpackung war. Ich tue mit dieser Aussage bestimmt ganz vielen Frauen unrecht. Es war nur mein Eindruck, denn diese wunderschönen Frauen sahen alle nicht wie Russinnen aus sondern schienen alle einem Werbeplakat für Gucci-Sonnenbrillen zu entspringen. Sie tragen übrigens alle die gleichen Sonnenbrillen und sind sehr sexy, fast schon nuttenhaft gekleidet. Ihr Versuch, möglichst europäisch auszusehen, sah für mich sehr gezwungen und billig aus. Ein Anbiedern ans Europäische.
Besonders klare Erinnerungen hatte ich noch an alten Arbat, die berühmte Flaniermeile mit ganz besonderem Charme. Ich sollte besser sagen: „mit einst ganz besonderem Charme“. Dieser Charme ist der Moderne, dem Kommerz und der Perfektion gewichen. Die bettelnden Straßenkinder sind verschwunden. Das würde mich ja beruhigen, wenn ich wüsste, dass diese Kinder wirklich verschwunden sind, vom sozialen Netz aufgefangen wurden. Aber das sind sie nicht, sie wurden nur eben aus dem Straßenbild und somit aus dem Blickfeld der Touristen vertrieben.
Die Souvenirstände sind noch da, muten aber sehr durchorganisiert an. Die Souvenir-Mafia? An allen Ständen in Moskau die gleichen Souvenirs, die gleiche Palette, die gleichen Preise…seltsam….
Die Straßenhändler mit ihren Erfrischungsgetränken und dem frischen Obst gibt es nicht mehr. Das Eis kommt von Schöller und die Getränke aus der Coca Cola Company. Keine russischen Leckereien mehr, kein Konfekt, keine Piroggen, dafür Restaurants und Cafés im amerikanischen und europäischen Stil. Alles Russische ist verschwunden, sie sind jetzt ganz klassische Europäer und stolz darauf. Sie haben ihre Seele verkauft, Moskau ist nur noch ein einziger riesiger Werbespot. Apropos Werbespot: Sogar während der Fahrt mit dem Linienbus wird man in Moskau mit Reklame beschallt, immer zwischen den Ansagen der Haltestellen. Lästig. Die Busse sind immer noch die alten Trolleybusse mit den Oberleitungen, aber die Kontrollsysteme sind vom Feinsten. Es gibt keine Kontrolleure mehr, nur noch Drehschranken, die sich erst öffnen, wenn man ein gültiges Ticket in den Scanner schiebt. Darüber musste ich schmunzeln. Außer, dass es keine Kontrolleure mehr gibt, stellte ich fest, dass es insgesamt sehr viel (viel zu viel) Personal gibt überall. Versucht mal in einem deutschen Baumarkt einen Verkäufer zu finden, wenn ihr eine Frage habt!!! In Moskau gibt es davon fast so viele wie es Kunden gibt. Niemand tankt oder wäscht sein Auto selbst, das machen die Angestellten. Alle haben Arbeit, aber nur wenig und schlecht bezahlt. Außer man arbeitet für eine der vielen ausländischen Gesellschaften. Was mir positiv aufgefallen ist, was es in Deutschland nicht mehr so gibt, sind die vielen kleinen Geschäfte. Praktisch an jeder Bushaltstelle gibt es einen Kiosk für alles Mögliche, ein Blumengeschäft und einen Fahrkartenschalter wo noch echte Menschen Tickets verkaufen. Werbebanner weisen die russischen Männer darauf hin, ihren Frauen Blumen zu schenken, aber das machen sie sowieso. Russische Männer schenken immer etwas, Konfekt, Blumen oder Schmuck.
1989 hatte Moskau 8 Millionen Einwohner, heute sind es offiziell 12 Millionen, inoffiziell 15 Millionen. Zu den alten riesigen Plattenbauten werden einfach neue dazu gebaut. Da die Infrastruktur nicht so schnell angeglichen werden kann, ist auf den Straßen permanent Stau. Einkaufszentren werden wie am Fließband aus dem Boden gestampft, leider auch direkt an der Moskwa, dem eigentlich von einem breiten grünen Gürtel umgebenen Fluss. Hier wird die Natur rücksichtslos zerstört, immer mehr Menschen und damit auch immer mehr Autos ziehen nach Moskau. Es gibt eine Protestbewegung, aber was können ein paar Studenten schon gegen die mächtige Wirtschaft und Politik ausrichten?! Das macht mich traurig.
Autofahrer gibt es nicht nur zu viele, sie sind auch sehr aggressiv. Die Straßen sind so unglaublich voll, dass man hier wirklich um jeden Zentimeter kämpfen muss, will man irgendwann mal sein Ziel erreichen. Uralte Lada und Moskwitsch fahren ebenso viele wie neue teure, westliche Autos. Aus vier Fahrspuren werden schnell mal sechs, der Krankenwagen mit Blaulicht wird ignoriert und steht im Stau wie alle andern auch. Geparkt wird überall. Gefahren auch, selbst wenn die Fußgänger grün haben und Kinder versuchen, die Straße zu überqueren. Lebensgefahr! Die Miliz schaut nur zu. Schlecht bezahlte Milizionäre sind natürlich nicht besonders motiviert. Führerscheine kann man hier an jeder Polizeidienststelle kaufen.

Noch eine kleine Preistabelle:

Schachtel Marloboro: ca. 80 cent
Super bleifrei: ca. 70 – 80 cent
Eintritt in Museen: max. 3 euro, Kinder die Hälfte
Hotelzimmer 3 Sterne: ab 65 euro/Person/Nacht
Lebensmittel: im Supermarkt ähnlich wie in Düsseldorf, günstiger bei Straßenhändlern
Wohnungen mietet man nicht, sie werden gekauft, sind sehr teuer, weil begehrt.
Metro und Bus: ca. 50 cent


Die Provinz



Für mich die schönsten zwei Tage meiner Reise, als wir hinaus fuhren auf die Datscha. Für die, die es nicht wissen: in Russland haben fast alle Städter ein kleines Wochenendhaus mit Garten auf dem Lande, das ist eine Datscha. Iljas Datscha liegt 100 km außerhalb von Moskau. Wir nahmen einen Umweg, der uns in die kleine Stadt Zwenigorod führte. Nur etwa 50 km entfernt von Moskau stiegen wir in Zwenigorod aus dem Auto und waren ganz plötzlich im echten russischsten Russland angekommen. Ganz natürliche Menschen, baufällige und restaurierte typische Holzhäuser, kleine Kirchen, Parks und Denkmäler. Auch hier wird überall gebaut, aber nicht an neuen Wohnhäusern sondern an der Restauration der zu kommunistischer Zeit vernachlässigten Kirchen. Auffallend: In Russland kehren die Menschen im Gegensatz zur ehemaligen DDR zu ihren religiösen Wurzeln zurück, sie waren die ganze Zeit heimlich religiös, können ihren russ.-orthodoxen Glauben jetzt wieder öffentlich leben. Und das tun sie auch. Unsere nächste Station in der Provinz war ein altes Kloster. Sehr viele Menschen gingen dort hinein und hinaus und meine erste Vermutung, dies wären Touristen, bestätigte sich nicht. Innerhalb der Klostermauern zogen alle Frauen schöne bunte Kopftücher auf und beteten in der Kirche. Wir waren die einzigen Touristen und meine Kamera war mir auf einmal sehr peinlich. Aber ich musste diesen Besuch fotografisch dokumentieren, ich hatte Angst, dass mir diese wichtige Erfahrung vielleicht eines Tages verloren geht. Ein Führer, der schwarz arbeitete, ließ uns auf die Klostermauer, die normalerweise für Gäste nicht zugänglich ist. Der Weg führte uns über die Wehrmauer in einen Turm. Und in diesem Turm umgab uns eine unheimliche Aura. Eine Aura der Geborgenheit, des absoluten Friedens, der Liebe….. ich kann es schwer beschreiben, aber es hat mich überwältigt. In der Erinnerung daran kommen mir immer noch die Tränen. Es gab hier nichts außer der frischen Luft und der Stille, die nur von Vogelgesang unterbrochen wurde. Ich wünschte mir einen Schlafsack, wollte dort einschlafen. Ich denke, das ist der Ort, an dem ich irgendwann mal sterben möchte. Jetzt noch nicht. Es gibt noch viel zu erzählen und noch mehr zu erleben. Die Kirche selbst war wunderschön und absichtlich nur zum Teil restauriert. Ich konnte 600 Jahre Geschichte spüren, wenn ich die alten Mauern berührte. Es hat mich wirklich umgehauen. In einem kleinen Geschäft konnte man Ikonen-Bilder, Bücher und Tücher zur Kopfbedeckung kaufen. Ich kaufte mir ein schönes russisch-rotes Tuch zur Erinnerung. Bekannte hier zu Hause fragten mich oft, ob ich mit diesem Tuch einen Knutschfleck verdecke. Ich verneinte und versuchte zu beschreiben, was dieses Tuch mir bedeutet, woher es kommt. Dass ich auf Unverständnis stieß lag vielleicht daran, dass ich nicht die richtigen Worte der Erklärung fand. Ich hoffe, ich kann es meinen Lesern besser verdeutlichen. Es wirklich zu verstehen jedoch muss man in diesem Kloster gewesen sein. Ich sehe vor meinem inneren Auge noch immer die Mönche dort, die eine solch friedliche Ruhe und fromme Gelassenheit ausstrahlten. Vom Kloster aus hatte man einen herrlichen Blick in das grüne Tal, durch das sich ein Fluss, die Iskra, schlängelt. Das alles hat sich fest in mein Bewusstsein eingebrannt.

Die Datscha



Wir verließen das Kloster in Richtung Datscha, kehrten aber unterwegs noch in ein kleines Dorf namens Dorochowo ein, um Lebensmittel und ein paar Bier einzukaufen. Übrigens: das russische Bier schmeckt heutzutage sehr gut, wie unser Pils. Meine Freundin Katja erklärte mir, das läge an den ausländischen Technologien und Rezepten, die man jetzt in den Brauereien nutzt.
Ach, es war ja so russisch in Dorochowo. Ein Markt, kleine Geschäfte und alle boten wirklich frisches Obst und Gemüse an. Gurken, wie ich sie noch nie geschmeckt habe. Ich habe tatsächlich ein Kilo Gurken mit nach Hause genommen, um mir diesen Geschmack noch eine Weile zu erhalten. Wir kauften auch Schaschlik, das wir abends grillen wollten. Bisher kannte ich diese Schaschlik-Abende nur aus Iljas e-mails. Ich hatte immer große Sehnsucht, wenn er mir schrieb, er sitzt auf der Terrasse seiner Datsche, grillt Schaschlik und schaut in den Wald. Jetzt durfte ich das endlich selbst erleben. In Dorochowo Hier arbeiten die Verkäuferinnen sogar noch mit einem Abakus. Wer Russland kennt weiß, dass das ein Zeichen ist, im echten Russland angekommen zu sein. Mich beeindruckte das alles sehr, ich fühlte mich irgendwie angekommen. Zu Hause. Heimat. Wie gesagt, ich kann es nicht erklären.
Als wir an der Datscha ankamen, war es auch für meine Seele wieder ein Ankommen. Ich stieg aus dem Auto und atmete Russland. Wald. Holz. Frieden. Ein richtiges Blockhaus inmitten eines 800 qm großen Gartens nahm uns als seine Gäste auf. Elektrizität ja, fließend Wasser nein. Links und rechts und vorne und hinten nur Wald. Entlang des Eingangs ein Weg, über den pro Tag maximal drei Autos fuhren. Das charmante an dem Haus war, dass es von innen noch gar nicht fertig war. Die Wände aus rohen Baumstämmen, ohne jede Verkleidung. Die Toilette ein Eimer mit Deckel, die Küche ein Kühlschrank plus zweiflammigen Gaskocher. Während ich das Grundstück und das anliegende Dorf erkundete, half mein Tochter Livi dem Ilja, ein Kabel zu verlegen, um die Terrasse zu beleuchten. Ich genoss meinen einsamen Spaziergang sehr, begegnete nur ein paar einheimischen rotznasigen Kindern mit ihren Fahrrädern, sah gepflegte und weniger gepflegte Gärten, Bäuerinnen und viel, viel Wald abseits der staubigen Wege. Eine einzigartige Atmosphäre. Fremd und gleichzeitig vertraut. Als ich zurück kam hatte die Terrasse elektrisches Licht und wir unternahmen zusammen einen mehr als ausgedehnten Spaziergang. Birken und Tannen zu allen Seiten, unendliche Wege und vor allem: Keine Verbotsschilder !!!!
Für mich war das ganz besonders, denn hier in Deutschland steht alle paar Meter ein Schild: Betreten verboten, Baden verboten, Hunde anleinen ….. Zäune und Mauern versperren Wege und Bewusstsein ….aber hier draußen war alles … ich will nicht sagen erlaubt … es war alles offen. Bewegungsfreiheit in ihrem wörtlichen Sinne. Ich sah unterwegs alte Dörfer und auch ganz neue. Die neuen Dörfer sind reine Siedlungen für Datschenbesitzer, Dörfer ohne Seele, die aus der Natur gestampft wurden. Ilja sagt, früher gab es hier nur Felder und Wald. Tröstlich für mich: auch die neuen Datschen sind traditionelle Holzhäuser und muten also sehr ursprünglich an. Wenigstens da bleiben die Russen sich treu.
Als wir zurück kehrten in „unser“ Dorf (eines mit Seele), zeigte Ilja mir ein Haus direkt am Wald und erklärte, dort wohne der berühmte russische Schriftsteller Sergey Kaledin. Oh Mann, dachte ich, eine bessere Inspiration zum Schreiben kann ein Schriftsteller nicht haben, als diesen Blick auf den Wald, die Natürlichkeit der ganzen ländlichen Umgebung. Ich werde mal schauen, ob ich etwas von Kaledin zu lesen finde. Ich stelle mir vor, dass seine Bücher die eines Naturliebhabers sind. Er wohnt sommers wie winters allein dort draußen in seinem schlichten Haus. Sehr inspirierend. Ich habe für mich den Gedanken manifestiert, eines Tages möchte ich auch auf einer Datscha am Wald leben und schreiben. Könnte aber sein, dass es mir dort auf Dauer zu einsam wird.
Die Nacht auf der Datscha war eine der schönsten Nächte meines Lebens. Nein, liebe Freunde, nicht was ihr denkt, Erotik spielte keine Rolle. Ilja grillte das Schaschlik. Livi spielte einfach so und war mit sich und der Welt zufrieden. Ich schnitt das Gemüse und bereitete die anderen Zutaten und den Tisch vor. Sehr spät und sehr hungrig genossen wir das Essen an der sauberen Luft. Umgeben von der Dunkelheit und dem Heulen der Wölfe, beschützt durch das Licht saßen wir auf der Terrasse und fühlten uns sicher und geborgen: Das Leben ist schön.
Livi fiel um Mitternacht müde ins Bett, Ilja und ich saßen noch bis drei Uhr morgens am Feuer, redeten und schwiegen, tranken unser Bier und rauchten Zigaretten. Eine unglaubliche Vertrautheit zwischen uns, die sich durch unsere ganze gemeinsame Zeit zog, hatte hier ihre Krönung gefunden. Alles fühlte sich so richtig an, ich erlebte zum zweiten Mal an diesem Tag den totalen Frieden. Nicht einmal die Eisenbahn, die irgendwo in der Ferne schnaufte, konnte diese Atmosphäre stören. Im Radio spielte Retro FM alte Lieder, die wir leise mitsangen. Glücklich. Glücklich ist das einzig treffende Wort für diese Nacht. Alles, was mir hier fehlt, hatte ich dort. Liebe und Frieden.
Ich habe gut geschlafen, tief und fest und traumlos und lange, Livi und Ilja auch. Wir frühstückten noch auf der Terrasse, räumten alles wieder auf und mussten zurück in die Stadt, wo Freunde uns erwarteten.

Die Universität



Ich hatte mir ganz fest vorgenommen, endlich die berühmte Moskauer Lomonossow Universität zu besuchen. Schon als Kind träumte ich immer davon, dort zu studieren. Der vollständige Name der Uni ist übrigens: moskowskij gosudarfstwenoij universität imenij Lomonossowa (Staatliche Moskauer Univerität Lomonossow). Sascha, den ich aus dem www.anastasia.ru -Forum kenne, wollte uns dort treffen und uns begleiten, die Universität zu besichtigen. Ilja übergab uns an Sascha und verließ uns, um ein wenig zu arbeiten. Sascha und ich kennen uns, weil wir beide die „Anastasia“-Bücher von Wladimir Megre gelesen haben. Diese Bücher beschreiben eine ganz besondere, sehr natürliche und spirituelle Philosophie und Lebensweise, eine Idee, die uns vereint. Auch zwischen uns herrschte von Anfang an eine besondere Vertrautheit. Leider konnte ich nicht in die Uni hinein, denn ein Wachmann kontrollierte die Studentenausweise am Portal. Unter Stalin 1949 gebaut, versprühte auch dieser noch relativ junge Bau schon einen historischen Charme. Meine Russischlehrerin hatte hier studiert und ich dachte wehmütig an sie. Schade, dass sie nicht weiß, dass ich gerade hier bin. Ich berührte die Mauern und sog alles in mich auf, was ich erfühlen konnte. Es war nicht so überwältigend wie das Kloster und die Datscha, aber in der Summe der Emotionen wiederum sehr ergreifend. Sascha, Livi und ich verbrachten den Tag zusammen, zogen durch die Stadt und durch die Wälder am Moskwa Fluss. Später trafen wir noch Katja, die auch ein Fan von Anastasias´s Philosophie ist. Sascha und Katja trafen sich auch zum ersten Mal. So saßen wir drei nun zum ersten Mal zusammen. Auf einem Spielplatz, wo Livi sich austoben konnte. Ganz entspannt, hatten uns viel zu erzählen, aßen unser Tscheburek (wie ein Döner, nur als Wrap, sehr lecker). Sascha lud uns zu sich nach Hause ein. Gute Idee. Sascha ist ein unglaublich sensibler junger Mann, sehr gebildet, auch künstlerisch und musikalisch sehr begabt, spricht verschiedene Sprachen. Sein Deutsch ist sehr gut. Katja arbeitet als Übersetzerin in einem Büro und ihr Deutsch ist auch sehr gut. Das war für mich natürlich schön einfach. Auch Sascha entpuppte sich als hervorragender Gastgeber. Wir saßen in der Küche, aßen (schon wieder), tranken Kaffee und Tee und redeten einfach so. Später spielte Sascha uns etwas auf dem Klavier vor …. *seufz* … sooo schön….. und machte uns mit seiner Lieblingsmusik von „La Crimosa“ vertraut. Sehr mystisch. Enya auf Deutsch. Der Abend war natürlich viel zu kurz, wie die ganze Reise. Aber auch sehr intensiv. Drei Freunde. Livi war ganz gerührt, weil Sascha sie immer „seine Königin“ nannte und zum Abschied sogar vor ihr kniete. Ach, Abschiede sind immer so furchtbar traurig.

Der Abschied



Am letzten Tag hatte ich dann doch noch das Glück, Iljas besten Freund Andrej kennen zu lernen. Die zwei kennen sich schon … ich glaube es waren 20 Jahre …. Gingen zusammen in die Schule „mit erweitertem Deutschunterricht“ und auf die Technische Hochschule, die Herren Ingenieure. Wir verbrachten diesen letzten Tag zusammen in einem riesigen Park an der Moskwa. Wunderschöner Park, war früher ein Dorf namens „Kolomenskoje“. Ist wie ein Freilichtmuseum, die alten Holzhütten stehen noch, wurden aber ebenso restauriert wie die Kirchen. Eine riesige Apfelplantage im französischen Stil. Der französische Einfluss vergangener Jahrhunderte ist übrigens in ganz Moskau nicht zu übersehen. Es ist viel französisches in Sprache und Kultur der Russen eingegangen.
So, jedenfalls verliefen wir uns auf diesem riesigen Gelände und die Zeit bis zu unserem Abflug verging schneller, als uns lieb war. Es wurde ziemlich eng, wir mussten noch mal nach Hause, unser Gepäck holen. Dort wartete „Mutti“ natürlich wieder mit Essen. Ich wehrte mich, denn wir waren schon deutlich über der Zeit, hätten längst am Flughafen sein sollen. Nur 10 Minuten. Na gut. Schnelle, aber herzliche und tränenreiche Verabschiedung. Und prompt standen wir mit dem Auto wieder im Stau. Ich sank nur noch in meinem Sitz zusammen und versuchte, ganz ruhig zu bleiben …. Ein zweiter Stau machte das nicht einfacher ... Zum Glück kennt Ilja Parkplätze, die andere nicht kennen. Heimvorteil. Wir mussten zwar mit dem ganzen Gepäck rennen, aber Ilja und Andrej halfen uns ja. Keine Stunde mehr bis zum Start und vor uns eine Riesenschlange zur Gepäckkontrolle … Ilja schleuste uns vorbei, wieder eine viel zu hektische Verabschiedung, aber jetzt hatte ich keine Zeit zum Heulen, musste mich konzentrieren und Livi helfen. Noch ein Stau an der Passkontrolle und noch eine lange Warteschlange beim boarding …. Zum Glück rief man uns auf, einen Sondereingang zu benutzen, damit unser Flieger pünktlich starten konnte. Ich war so froh, als ich endlich im Flugzeug saß und diese Panik endlich hinter uns lag. Und mit dem Moment des Durchatmens überfiel mich auch urplötzlich eine tiefe Traurigkeit. Was hab ich noch alles sagen wollen. Wann würde ich wieder kommen können. Livi war einfach nur gespannt auf den Flug. Die Unschuld und Unbefangenheit eines Kindes eben. Gut so … ich konnte mit meinen Gedanken ein wenig allein sein, während Livi den Start genoss.

Wieder zu Hause



Niemand empfing uns. Ich freute mich doch schon so sehr auf meine Familie. Besonders meine große Tochter hatte ich sehr vermisst, ich hätte ihr all das, was wir erlebt haben, auch gerne gezeigt. Sie wollte nicht mitkommen, weil sie keine Beziehung zu Russland hat, aber meine Erzählungen haben nun doch ihr Interesse geweckt. Ach, war das schön, sie wieder zu sehen. Mein Mann zeigte weder Interesse daran, uns herzlich zu empfangen, noch an meinen Fotos, die ich am nächsten Tag auf den PC lud und sortierte. Erst spätabends, als ich meinem Ärger darüber, dass der Kühlschrank leer war und über sein mangelndes Interesse an meinen Fotos, Luft gemacht hatte, ließ er sich von mir die Bilder zeigen. Meine große Tochter, Maria, hat sich die Fotos heute, am dritten Tag daheim, noch nicht angeschaut.
Nach all dem, was ich mit meinen Freunden und meiner Gastfamilie in Moskau erlebt habe, fällt es mir schwerer als je zuvor, dieses Desinteresse weiterhin zu tolerieren, damit zu leben. Ich habe ja jetzt erfahren, dass es nicht so sein muss, dass es auch etwas anderes gibt :

Liebe und Frieden und Bescheidenheit.


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Tag der Veröffentlichung: 04.11.2009

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