Ende Mai waren nach dem ersten Lockdown die Corona-Verordnungen gelockert worden und Reisen wieder erlaubt. Da ich jedoch noch berufstätig bin und Verpflichtungen habe, wollte ich auf keinen Fall wieder ins ferne Ausland verreisen, wie ich dies in den letzten drei Jahren gemacht hatte. Ich befürchtete, im Falle eines neuerlichen Lockdown irgendwo für längere Zeit festsitzen zu müssen.
Da erinnerte ich mich an einen dreiwöchigen Sommerurlaub, den ich als Teenager einmal zusammen mit meiner Mutter in Grömitz an der deutschen Ostseeküste verbracht hatte. Das waren schöne, sonnige Ferien gewesen. Seitdem bin ich jedoch nie wieder an der Ostsee gewesen. Nun, das sollte sich dieses Jahr ändern, denn ich beschloss, meine zwei Urlaubswochen wieder einmal in der Lübecker Bucht zu verbringen, vorausgesetzt, ich würde etwas Passendes finden.
Im Internet fand ich tatsächlich ein adäquates Hotel in Dahme, einem bekannten und beliebten Seebad, das aber nicht so überlaufen ist, wie z. B. der Timmendorfer Strand. Meine Freundin, mit der ich Ostern eigentlich nach Hurghada fliegen wollte (wegen des Lockdowns war dies abgesagt worden), konnte leider nicht mit, da ihre Mutter nun schwer erkrankt war. So fuhr ich an einem frühen Samstagmorgen im Juli mit meinem Fiat-Panda Richtung Norden. Es waren ca. 540 km zu bewältigen und ich rechnete mir aus, dass ich am frühen Nachmittag an meinem Zielort ankommen würde.
Ich fahre noch immer ohne Navi, gucke mir aber vorher auf Google die Route genau an und habe auch zur Sicherheit immer Straßenkarten dabei. Statt über die vielbefahrene und mit Baustellen gesegnete A1 Richtung Bremen/Hamburg zu fahren, nahm ich die Route über die A2 und A7, die an Hannover vorbeiführt. Ha, ich wusste gar nicht, dass die niedersächsische Hauptstadt auch einen Flughafen hat! Es gab einige kleinere Staus, aber ich kam gut voran.
Kurz vor Hamburg hätte ich dann die A7 verlassen und wieder auf die A1 Richtung Lübeck wechseln müssen. Irgendwie hatte ich das aber vergessen und befand mich auf einmal inmitten riesiger Autoschlangen in der Einfahrt zum Elbtunnel und machte anschließend noch ungewollt eine kleine Sightseeing-Tour durch den Hamburger Hafen. Weiter ging es nun auf der A7 Richtung Flensburg. Vergeblich wartete ich auf eine Abfahrt Richtung Lübeck oder Neustadt, die kam aber nicht. Gezwungenermaßen habe ich diese Autobahn bei Kiel verlassen und bin quer übers Land gefahren, bis ich die A1 wiedergefunden hatte. Statt halb zwei am Nachmittag kam ich nun um halb vier an dem von mir gebuchten Hotel an.
Dahme hat gerade einmal 1.000 Einwohner und keine einzige Ampel! Mein Hotel lag direkt hinter dem Deich und von meinem Zimmer aus, das im zweiten Stock lag, hatte ich Ausblick aufs Meer. Soweit alles paletti, es gefiel mir nur gar nicht, dass ich die gebuchten zwei Wochen mit Halbpension gleich bei der Ankunft bezahlen musste. Das war wegen Corona jetzt so geregelt, wie mir der Hotelmanager erklärte.
Im Juli war es noch nicht so warm wie im darauf folgenden August und das Ostseewasser mit gerade mal knapp 20 Grad Temperatur war mir zum Baden zu kalt. Schließlich bin ich – durch meine Sri-Lanka-Reisen – 28 Grad Wassertemperatur vom Indischen Ozean her gewohnt. Ich machte jedoch lange Strandspaziergänge und lieh mir ein Fahrrad, mit dem ich Wälder und Felder in der näheren Umgebung erkundete. Die Verpflegung im Hotel war bestens und das Personal freundlich und aufmerksam. Die Maske musste ich nur beim Betreten des Speisesaals und im Fahrstuhl aufsetzen, ansonsten konnte man sich im Haus frei bewegen. Speisen und Gerichte wurden am Tisch serviert.
Ich bekam von Hotel eine Kurkarte – die kostete zwei Euronen pro Aufenthaltstag – mit der ich für einen Euro pro Strecke Busfahrten an der gesamten schleswig-holsteinischen Ostseeküste unternehmen konnte. So beschloss ich, mein Auto weiterhin stehenzulassen und in meiner ersten Urlaubswoche einmal nach Neustadt zu fahren. Dieser Ort ist ca. 20 km von Dahme entfernt. Dort sollte Klaus G., der verschollene Freund wohnen, von dem meine Freunde, Bekannten und ich schon seit längerer Zeit nichts mehr gehört hatten.
Klaus und ich hatten uns als Teenager in einem klassischen Standard-Tanzkurs kennengelernt. Wir waren nie ein Paar, aber immer sehr gute Freunde. Ich kannte Klaus Eltern und seinen jüngeren Bruder; Klaus kannte meine Verwandten, meine Freunde, Partner, Ehemänner und meinen Sohn von Geburt an. Wir hatten immer – damals als ich noch in Solingen wohnte und auch später noch, als ich nach Düsseldorf zog – einen gemeinsamen Freundeskreis. Klaus hatte eine nette, leicht ironische Art, die ich sehr mochte. Bei den meisten Unternehmungen und Feiern war er mit dabei und ich freute mich immer sehr, ihn zu sehen oder auch nur mit ihm zu telefonieren.
Ich habe es nur einmal erlebt, dass sich Klaus um ein Mädchen bemüht hatte: Zu seinem 18. Geburtstag, zu dem ich auch eingeladen war, lud er eine Kim ein. Dieses Mädchen entschied sich jedoch später für Klaus Bruder und heiratete ihn sogar. Klaus war dann lange Zeit mit einem jungen Mann befreundet, den er während einer Reise kennengelernt hatte. Die beiden besuchten sich oft und verbrachten auch gemeinsame Urlaube. Wir erfuhren nur nie, ob die beiden eine homosexuelle Beziehung pflegten, vermuteten es aber stark. Diese Freundschaft brach dann nach Jahren auseinander, wahrscheinlich auch wegen der Entfernung. Der Freund wohnte nämlich in Süddeutschland.
Als ich Klaus kennenlernte, fing er gerade eine Lehre bei einem großen Warenhaus an. Im Laufe der Jahre hat er sich immer höher gearbeitet und war schließlich Revisor in der Buchhaltung. Er verdiente gut und konnte sich eine Eigentumswohnung leisten. Als sein Arbeitgeber dann von einem anderen Konzern übernommen wurde, kam es zu personellen Einsparungen und Klaus musste mit Mitte 50 seinen Schreibtisch räumen. Er war am Boden zerstört! Da er die Raten für seine Eigentumswohnung nicht mehr leisten konnte, beschloss er, in seiner Heimat seine Zelte abzubrechen und irgendwo zu leben, wo es preiswerter und landschaftlich schön war. Seine Wahl fiel auf Neustadt an der Ostsee. Seine Eigentumswohnung wurde verkauft, die Möbel eingelagert … und Tschüss!
In der ersten Zeit nach seinem Umzug telefonierte ich noch ab und zu mit Klaus oder schrieb e-mails. Seinen letzten Anruf bekam ich am 29. Februar 2012, als ich wieder einmal Geburtstag hatte. Dann war Funkstille! Auf meine e-mails erfolgte keine Reaktion mehr.
Ein gemeinsamer Freund von Klaus und mir, nennen wir ihn mal Werner, hatte ab und zu beruflich in Schleswig-Holstein zu tun. Bei diesen Gelegenheiten traf er sich auch immer mit Klaus, d.h. sie verabredeten sich in einer Gaststätte zum Essen. Von ihm erfuhr ich, dass Klaus nach anfänglicher Arbeitslosigkeit in einer sozialen Einrichtung und später wieder im Einzelhandel gearbeitet hätte. Natürlich hätte er dort nicht die gleiche Position wie früher in seiner alten Heimat innegehabt.
Bevor ich nun an die Ostsee fuhr, nahm ich wieder Kontakt zu Werner auf. Er erzählte mir, dass vor etwa zwei Jahren Klaus auf einmal aufgehört hätte, auf seine Besuchsankündigungen zu reagieren. Wenn er dann wieder einmal in Neustadt war, reagierte Klaus auch nicht auf sein Klingeln an der Wohnungstür. Klaus soll aber unrasiert und schlecht angezogen beim Einkaufen gesehen worden sein und abends würde auch der Fernseher in der Wohnung laufen (das wäre an dem in den Fenstern zu sehendem Lichtwechsel ersichtlich). Dies wurde Werner von einer ehemaligen Arbeitskollegin erzählt, die in die Nähe von Neustadt gezogen war.
Zwei Wochen bevor ich endlich losfuhr, schrieb ich Klaus eine lange e-mail, dass ich mich sehr freuen würde, ihn wiederzusehen. Ich versuchte auch, ihn auf Handy und Festnetz telefonisch zu erreichen, teilte ihm mein Hotel in Dahme und meine Aufenthaltsdauer mit … und verblieb wieder ohne jegliche Reaktion von ihm.
Nun stand ich also vor dem Mietshaus, in dem Klaus – lt. Klingelschild und Briefkasten – wohl immer noch wohnte. Ich spähte zu seinen Wohnungsfenstern im 2. Stock hinauf. An den Fenstern hingen jedoch weder Gardinen, noch standen Blumen oder Pflanzen auf den Fensterbänken. Auf mein Klingeln rührte sich nichts!
Dann klingelte ich bei den Nachbarn. Vielleicht war ja jemand zuhause? Ich hatte Glück, der Nachbar, der auf der gleichen Etage wie Klaus wohnte, machte auf. Kurz stellte ich mich vor und erklärte die Situation. Nein, er hätte Herrn P. schon längere Zeit nicht gesehen, aber er würde noch hier im Haus wohnen. Ich bedankte mich und begab mich zu dem Supermarkt zwei Straßen weiter, in dem Klaus angeblich regelmäßig einkaufen würde. Nein … es wäre ja auch nur zu schön gewesen … aber mein alter Freund war auch nicht im Supermarkt zu finden.
Nun ging ich wieder zu dem Wohnhaus zurück und setzte mich im Vorgarten auf einen Stein. Das Wetter war mir hold und ich genoss die Sonnenstrahlen. Dann zog ich Papier und Kuli aus der Tasche. Beides hatte ich in weiser Voraussicht mitgebracht. Während ich gerade eine längere Nachricht an Klaus schrieb, kam der Nachbar wohl von Besorgungen zurück und grüßte mich freundlich. Wir kannten uns ja jetzt. Ich erzählte ihm traurig, dass ich Herrn P. nicht im Supermarkt angetroffen und ihm nun ein Brieflein geschrieben hätte.
„Könnte ich diesen Brief vielleicht bei Ihnen deponieren und würden Sie ihn Herrn P. geben, wenn er denn mal wieder im Haus sein sollte?“
„Nein, das möchte ich auf keinen Fall. Ich weiß ja auch überhaupt nicht, wann er wieder hier sein sollte. Stecken Sie den Brief doch einfach in den Briefkasten!“
„Nein, das möchte ich wiederrum nicht. Wer weiß, wann mein Freund seinen Briefkasten leert, und ob überhaupt. Würden Sie mich aber noch einmal ins Treppenhaus lassen? Dann kann ich die Nachricht an Herrn P.s Wohnungstür stecken.“
Der Nachbar nickte und ich erfüllte meine Mission. Ich ging noch ein wenig im Ort spazieren und machte Fotos. Dann kehrte ich zu Klaus Haus zurück und klingelte ein letztes Mal. Wieder keine Reaktion!
Traurig stieg ich in den Linienbus, der mich zurück nach Dahme brachte. Ich hoffte, dass sich Klaus vielleicht doch noch während meines Urlaubs melden würde, aber diese Hoffnung erfüllte sich nicht.
Wieder zuhause angekommen, kontaktiere ich Werner und erstattete Bericht. Er hatte leider auch keine Neuigkeiten für mich. Das Rätsel um Klaus P. ist immer noch ungelöst.
Es tut weh, alte Freunde zu verlieren. Sei es durch Krankheit oder Unfall – wie schon geschehen – und nun…. Wir wissen ja nicht, was mit unserem alten Freund geschehen ist ….
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Texte: Rebekka Weber
Bildmaterialien: Rebekka Weber
Lektorat: Rebekka Weber
Tag der Veröffentlichung: 02.12.2020
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