„Ja, was machen wir denn nun Silvester?“, ratlos sahen meine Freundin und ich uns an.
Wieder zuhause zu feiern hatten wir keine Lust, in der Altstadt würde es zu voll und laut sein und „SchickiMicki“ war uns zu teuer.
„Wie wäre es, wenn wir ins AK gehen?“, schlug ich vor. „Bei den Ü-50-Parties ist immer mächtig Stimmung und auf den Silvesterparties soll genauso viel los sein.“
„Meinst du?“, zweifelnd sah mich Heike an. „Bei dem hohen Eintrittspreis kommen sicher nicht so viele Leute wie zu den anderen Partys.“
„Kann sein. Wir müssen es einfach mal ausprobieren. Und ist doch super, dass in den 65 Euronen auch Getränke und Buffet inbegriffen sind.“
Wir einigten uns auf das Aktionszentrum und erstanden Anfang Dezember im Vorverkauf unsere Eintrittskarten.
Am Silvesterabend, als ich mich schminkte und mir die Haare kunstvoll föhnte, hing ich meinen Gedanken nach. Ich wusste schon im Voraus, wie der Abend ablaufen würde. Meine Freundin, klein und hübsch, würde sicherlich wieder angesprochen werden und auch einen Tanzpartner finden. Nicht, dass ich auf meine kleine Freundin neidisch oder eifersüchtig wäre, ganz und gar nicht, aber es lief halt immer so ab, wenn ich mit ihr oder anderen kleineren Frauen ausging. Vor großen Frauen – obwohl ich rank und schlank bin – haben deutsche Männer – dabei liegt die Betonung auf „deutsch“ – oft Angst, so scheint es mir. Das habe ich im Laufe meines Lebens oft erfahren. Aber ich bin kein Kind von Traurigkeit und ich brauche nicht unbedingt einen männlichen Gegenpart auf der Tanzfläche. Ich kann mich auch gut allein amüsieren oder anderen Frauen beim Tanz zulächeln.
Nun denn … Einlass war am Silvesterabend ab 21:00 und ab 22:00 sollte dann Disco- und Rockmusik gespielt werden. Wir waren bei den ersten Gästen, die sich in dem noch ziemlich leeren Saal verloren. Meine Freundin hatte gleich Zweifel, ob sich denn der Raum noch mit Gästen füllen würde. Wir nippten an unseren ersten Getränken – Alt für mich, Wasser für meine Freundin, weil sie uns später nach Hause fahren wollte – und fragten ein Pärchen, ob wir uns zu ihnen an den Tisch stellen dürften. Das wurde bejaht und wir kamen gleich ins Gespräch. Das Pärchen war mit Freunden extra vom Niederrhein angereist und erzählte uns, dass sie schon seit Jahren im AK Silvester feiern würden. Das ließ hoffen!
Um 22:00 war der Saal rappelvoll! Und als die ersten Beats gespielt wurden, die mächtig in die Beine gingen, zog ich meine Freundin mit auf die Tanzfläche. Heike war nach drei Tänzen jedoch schon groggy und ging zu ihren neuen Bekannten zurück. Ha, da legte ich gerade erst richtig los! Als Black Betty von Ram Jam – ein richtig guter alter Rockklassiker – gespielt wurde und ich mit Händen, Armen und Füßen mächtig in Bewegung war, fiel mir ein Mann ganz in meiner Nähe auf. Er hatte seine Haare zu einem Rockerschwänzchen zusammengebunden, trug eine auffällige gelbe Brille und tanzte genauso wild wie ich. Wir lächelten uns zu und ich tanzte etwas näher an ihn heran.
Der DJ spielte nun Let’s Twist again. Ich ging in die Knie, twistete mich Richtung Bodennähe und … mein Gegenüber machte mit. Und dann fing die Stimmung an zu kochen! Denn als der DJ Hey ho, let's go, Hey ho, let's go! – die ersten Takte vom Blitzkrieg Bop – erklingen ließ, gingen die Hände aller Tänzer in die Höhe und es wurde wild mitgeklatscht.
Ich tanzte mich zu meinem Gegenüber und brüllte ihm ins Ohr: „Das ist ja der Wahnsinn, dass hier so ein alter Schinken von den Ramones gespielt wird!“
„Ja, nicht!“, brüllte er zurück und strahlte.
Wir tanzten noch zwei, drei Songs zusammen, dann gab er mir zu verstehen, dass er mal für Königstiger müsste. Ein wenig lustlos tanzte ich allein weiter und brauchte schließlich auch eine Pause. Als ich an den Rand der Tanzfläche kam, sah ich meinen Tanzpartner dort allein tanzen. Ach schade, dachte ich enttäuscht, der hätte doch auch mal zu mir zurückkommen und mit mir weitertanzen können! Ich nickte ihm im Vorbeigehen jedoch zu und lächelte ihn an. Nun brauchte ich dringend ein zweites Bier und gesellte mich damit zu meiner Freundin, die sich angeregt mit den Leuten an unserem Tisch unterhielt.
Als ich kurz zur Seite schaute, dachte ich, mich trifft der Blitz! Da stand doch direkt neben uns mein Tanzpartner von vorhin! Er prostete mir mit seiner Bierflasche zu und grinste über das ganze Gesicht. Ich freute mich sehr und sprach ihn an.
„Hi, ich bin Rebekka!“
„Hi, Jens.“
Zuerst machten wir ein wenig Smalltalk und suchten dann immer wieder zusammen die Tanzfläche auf. In den Pausen setzten wir uns nebeneinander auf eine der schmalen Holzbänke und unterhielten uns. Er wäre geschieden, hätte zwei Kinder, die er alle 14 Tage sehen würde, wäre selbständig und interessierte sich genauso sehr wie ich für Musik, hätte sogar früher selbst Gitarre in einer Band gespielt. Erfreut teilte ich ihm mit, dass mein Sohn das gleiche Hobby wie er hätte und sogar Musik studieren würde. Ich bot meinem neuen Bekannten an, ihm Links von youtube-Videos mit Musiktiteln, die ihn vielleicht interessieren könnten, zu schicken. Gleich zog Jens eine Visitenkarte mit seiner Geschäfts- und e-mail-Adresse nebst Handynr. aus seiner Hosentasche. Dankbar steckte ich sie in meine Handtasche.
Kurz vor Mitternacht besorgten die Männer an unserem Tisch Sekt zum Anstoßen. Um null Uhr stießen wir alle an, umarmten und küssten uns auf die Wange. Und dann …. dann spielte der D.J. doch tatsächlich einen langsamen Song.
„Hast du Lust zu tanzen?“, fragte ich Jens. „Oder hast du Angst vor großen Frauen?“
„Nein, gar nicht“, schüttelte er den Kopf, nahm meine Hand und zog mich mit auf die Tanzfläche. Jens war vielleicht ein, zwei Zentimeter kleiner als ich, aber schlank und muskulös und fühlte sich richtig gut an. Wann hatte ich das letzte Mal mit einem Mann so eng getanzt? Ich konnte mich nicht mehr erinnern, es musste lang her gewesen sein.
In den Tanzpausen saßen wir wieder eng nebeneinander auf der Bank. Jens legte den Arm um mich und dabei fühlte ich mich sehr wohl. Angeregt unterhielten wir uns und ich erfuhr, dass sein 13jähriger Sohn bei der Mutter lebte, seine 15jährige Tochter jedoch in einer Einrichtung, sie hätte Borderline. Er hätte auch mit seiner eigenen Firma zu kämpfen und die ständige Sorge um seine Tochter und alles Drumherum würde ihm oft zu schaffen machen. Deshalb würde er ab und zu tanzen gehen und in seiner Freizeit viel Sport treiben, um halt abzuschalten und auf andere Gedanken zu kommen.
Um zwei Uhr morgens wollte meine Freundin unbedingt nach Hause und ich musste mich leider von Jens verabschieden. Ich umarmte ihn und küsste ihn auf die Wange. Wir machten nichts aus … aber ich hatte ja seine Visitenkarte mit allen wichtigen Angaben und versprach, ihm die versprochenen Links zu schicken. Um halb drei war ich im Bett und obwohl ich hundemüde war, konnte ich nicht sofort einschlafen. Ich war noch viel zu aufgekratzt. Ob ich Jens wiedersehen würde? Das war doch endlich mal ein Mann auf Augenhöhe gewesen, der dazu noch gleiche Interessen wie ich hatte. Ob das neue Jahr wohl Pläne für uns beide hatte?
***
Am Spätnachmittag des Neujahrtages schickte ich Jens die versprochenen Links und fragte, wie sie ihm gefallen würden. Seine Antwort kam erst am nächsten Tag. Er wäre noch bis halb fünf im AK gewesen (Zitat Jens „Da kam dann doch noch ‘ne nette Metal-Session“), hätte dann ausgeschlafen und wäre erstmal schwimmen und joggen gewesen, um wieder „in die Spur“ zurückzufinden. Ja, die Links wären gut und wir könnten uns gerne mal treffen. Erfreut schrieb ich gleich zurück, dass dies eine prima Idee wäre. Sein Sohn käme jedoch am kommenden Wochenende und würde dann auch bis Mitte nächster Woche bleiben, denn sein Filius hätte noch Schulferien. Danach hätte er erst wieder Zeit. Das wäre doch nicht schlimm, meinte ich, dann würden wir uns halt erst übernächstes Wochenende wieder treffen.
Und dann … dann war tatsächlich eine Woche Funkstille! Schon begann ich zu zweifeln, ob sich meine Silvesterbekanntschaft noch einmal bei mir melden würde! Am Donnerstagmorgen der folgenden Woche kam jedoch wieder eine e-mail. Er schrieb, er hätte seinen Sohn noch spät zur Mutter zurückgefahren, hätte noch Handwerker im Haus, aber am Samstag könnten wir gerne etwas unternehmen. Am Freitag telefonierten wir das erste Mal miteinander und ich war überrascht, wie angenehm und locker seine Stimme am Telefon klang. Silvester lag ja mittlerweile schon anderthalb Wochen zurück. Wir einigten uns auf ein Konzert mit verschiedenen local Bands und machten als Treffpunkt den Eingang der Halle aus, die sich in einem alten ehemaligen Fabrikgelände befindet. Jens wollte mich einladen und dort mit den Eintrittskarten auf mich warten.
In der Nacht schlief ich unruhig. War es die Vorfreude auf das Treffen oder weil ich leichte Magenprobleme hatte? Ich hatte irgendetwas gegessen, das mir nicht so gut bekommen war und ich musste öfters die Toilette aufsuchen. Am Nachmittag hatten sich jedoch Magen und Darm wieder beruhigt.
Natürlich war ich weiterhin aufgeregt, denn Jens hatte mir nur zu gut gefallen und seine e-mails waren auch so lieb gewesen. Umso mehr freute ich mich, als ich ihn dann pünktlich am Eingang der Konzerthalle und übers ganze Gesicht strahlend stehen sah. Ich hatte mir vorgenommen, ihn zur Begrüßung kurz zu umarmen und ein Küsschen auf die Wange zu drücken, aber Jens kam mir zuvor. Er zog mich gleich in seine Arme und drückte mich richtig fest und herzlich. Das gefiel mir natürlich sehr gut. Ich berichtete ihm von meiner unruhigen Nacht, aber Jens hatte volles Verständnis und meinte, dass ich halt nur so lange aushalten sollte wie es ging und besser bei alkoholfreien Getränken bleiben sollte.
Wir gingen direkt zur großen Bühne, wo gerade ein Künstler spielte: ein Düsseldorfer Liedermacher, der sich auf der Acoustic-Gitarre begleitete. Die nachfolgende Band sang auf Türkisch und Deutsch und forderte das Publikum zum Mittanzen auf. Jens, ein paar Frauen und ich fassten uns am kleinen Ringfinger an, bildeten einen Kreis und tanzten Halay, den türkischen Nationaltanz. Wir drehten uns im Takt der Musik und hatten richtig Spaß.
„Sieh dich mal um, du bist der einzige Mann in diesem Kreis“, sagte ich lachend zu Jens.
„Ach, das passiert mir oft. Ich tanze nun mal gern und auf der Tanzfläche sind ja meist mehr Frauen als Männer.“
Nun ja, Jens war wohl in seiner Freizeit ein richtiger Sonnyboy, aber an diesem Abend wollte ich ihn doch gerne für mich haben. In den Bandpausen holten wir uns etwas zu trinken, setzten uns nebeneinander auf eine der Bänke im Schankraum und setzten unsere Unterhaltung fort. Ab und zu berührten wir uns wieder mit den Händen oder nahmen uns in den Arm, und … ich fühlte mich wieder sehr wohl in seiner Gegenwart. Wir sprachen über Musik, Beruf und unsere Hobbies und wenn uns die Live-Interpreten gefielen, gingen wir wieder zur Bühne.
Plötzlich änderte sich die Stimmung! Denn Jens runzelte die Stirn und sagte leise: „Ich habe gerade meine Ex-Freundin gesehen. Das gibt Stress!“
Aha, es gab also eine Ex. Davon hatte er mir noch nicht erzählt.
„Wie lange ist das denn her?“
„So, ungefähr ein dreiviertel Jahr. Sie hat ja bei mir gewohnt. Ich gehe mal kurz raus.“
Aber … Jens kam nicht mehr zurück. Als die Band ihre Performance beendet hatte, machte ich mich auf die Suche nach meinem Datepartner. Ich fand ihn im Schankraum. Er stand dort, etwas an der Seite, und unterhielt sich angeregt mit einer Frau. Nun, da hab ich ja keine Hemmungen! Ich ging zu den beiden hin und stellte mich neben Jens. Als er aufblickte, meinte er: „Darf ich vorstellen, das ist Miriam, das ist Rebekka.“
Die Ex, denn das war sie ja wohl, zuckte kurz zusammen. Ich fand, dass sie ein wenig schüchtern aussah. Jedoch höflich wie ich bin, gab ich ihr die Hand und lächelte ihr kurz zu. Jens machte allerdings keine Anzeichen, sich wieder mir zuzuwenden. Nun gut, dachte ich, die beiden haben sicherlich etwas zu besprechen und ich ließ sie allein.
Ich ging zurück zur Bühne und hörte der nächsten Band zu. Nach einiger Zeit wurde ich durstig und ich machte mich wieder auf die Suche nach dem Mann, der mich an diesem Abend eingeladen hatte. Jens und Miriam standen an der gleichen Stelle, an der ich sie getroffen hatte, und waren weiterhin ins Gespräch vertieft.
„Entschuldigung, dass ich euch störe“, sagte ich Jens ins Ohr, „hast du noch ein paar Wertmarken? Ich möchte mir noch was zu trinken holen.“
Jens nickte und kramte in seiner Hosentasche. Mit meinem Drink ging ich wieder in den Nebenraum und hörte der nächsten Band zu. Die Musik war an diesem Abend wirklich sehr abwechslungsreich und gefiel mir sehr gut. Was mir dagegen gar nicht gefiel, war, dass ich nun doch allein in diesen Musikgenuss kam. Hatte ich doch gedacht, dass mir Jens Gesellschaft leisten würde.
Mein Date ließ sich jedoch bei mir nicht mehr blicken! Nach einer weiteren halben Stunde ging ich in den Schankraun zurück. Jens und Miriam hatten sich jetzt nebeneinander auf eine Bank gesetzt und redeten immer noch.
Gar nicht schüchtern setzte ich mich neben Jens, warf seiner Ex ein „Entschuldigung“ zu und flüsterte Jens ins Ohr: „Sag mal, wieso wusste deine Ex eigentlich, dass du hier bist?“
Als er aufblickte und mich anschaute, dachte ich, dass mich der Schlag trifft! Er guckte richtig böse, so als wollte er sagen, dass ihm diese meine Unterbrechung überhaupt nicht passte. War das tatsächlich der gleiche Mann, der Silvester und noch vor einer Stunde so lieb mit mir geflirtet hatte? Ich verstand die Welt nicht mehr.
„Hat ihr wohl ein Kumpel von mir verraten“, sagte er barsch.
„Ja, könnt ihr euch nicht mal anderswo und nicht gerade heute Abend treffen und alles miteinander bereden?“
„Nein, das geht jetzt nicht. Da gibt es Klärungsbedarf. Sie hat damals alles mit dem Borderline meiner Tochter mitbekommen. So eine Krankheit zieht die ganze Familie und alle anderen mit runter.“
Ich schluckte.
„Hm … kommst du denn heute Abend noch mal zu mir?“
„Sieht im Moment nicht so aus.“
„Hm … dann kann ich ja auch nach Hause geh’n. Allein hab ich hier nämlich keine Lust rumzuhängen.“
„Ja, das wäre sicher besser so.“
„Okay, dann tschüss!“
„Tschüss. Ich ruf dich an.“
Ich stand auf und drehte den beiden den Rücken zu.
Für ein paar Minuten hörte ich noch der Band im Nebenraum zu. Als ich wieder in den Schankraum kam, waren Jens und seine Ex verschwunden. Ich holte meinen Mantel an der Garderobe ab und machte mich auf den Heimweg. Nein, diesen Abend hatte ich mir ganz anders vorgestellt! Dabei hatte er doch so gut angefangen.
***
Auf Jens Anruf warte ich übrigens heute noch …
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Texte: Rebekka Weber
Cover: pixabay, Fotograf Slack
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2019
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
*** Für Jens***
Ich danke dir für die ersten wunderschönen Minuten in diesem Jahr, die ich mit dir erleben durfte.
Lass dich von deinen Problemen nicht auffressen.