Woran denkt man, wen man das Wort „entfernt“ hört? Nun, vielleicht zuerst an „nicht nah, weit weg“. Es kann aber auch heißen „nicht eng“, sondern „entfernt verwandt“ oder auch „weggemacht“, „gelöscht“ oder „ausradiert“.
Ich habe eine Verwandte, auf die das alles zutrifft und ihre Geschichte möchte ich hier erzählen …
Meine Mutter – Gott hab sie selig – hatte eine vier-Jahre-ältere Schwester, von der sie viel geärgert und herumkommandiert wurde. Zehn Jahre nach meiner Mutter wurde dann der Junior, mein Onkel, geboren, der als Nesthäkchen auch dementsprechend verwöhnt wurde. Mein Onkel lernte mit Mitte zwanzig ein junges Mädchen kennen – ich nenne sie in dieser Geschichte Erika – die zehn Jahre jünger als er war. Sie soll aber ziemlich frühreif gewesen sein, das wurde mir von anderen Familienmitgliedern erzählt. Ob sie nun meinen Onkel verführt hat oder er sie, habe ich bis heute nicht klären können. Jedenfalls wurde Erika mit 16 schwanger und heiratete mit 17 meinen Onkel. Meine Mutter war übrigens mit mir zur ungefähr selben Zeit schwanger, mein Cousin Rolf kam allerdings zweieinhalb Monate früher als ich zur Welt.
Die Ehe zwischen Erika und meinem Onkel lief nicht gut. Sie ließen sich scheiden und Erika ging aus Solingen fort. Der kleine Rolf blieb bei seinem Vater, das war damals eben so. In unserer Familie war seine leibliche Mutter von nun an eine „Persona non grata“. Mir wurde gesagt, die Erika hätte ihr Kind verlassen und wäre einfach nach Australien ausgewandert.
Jahrelang hörten wir nichts von ihr …
So waren mein Cousin Rolf und ich seit frühster Kindheit eng verbunden, und wir wuchsen gemeinsam während den ersten Lebensjahren bei den Großeltern auf. Rolf hatte keine Mutter, ich keinen Vater (der war vier Monate nach meiner Geburt verstorben). Allerdings hatte ich eine Mutter – sie arbeitete in einem Krankenhaus im Schichtdienst – die sich in ihrer freien Zeit um mich kümmerte. Mein Onkel heiratete kurz vor Rolfs Einschulung erneut, und soweit ich mich erinnere, war die Stiefmutter auch lieb zu Rolf. Er bekam dann noch einen Halbbruder.
Als Rolf eigene Kinder hatte, machte er sich Anfang der 90ger Jahre auf, um nach seiner leiblichen Mutter zu suchen, die er dann auch tatsächlich in Australien fand. Leider kam es nicht zum innigen und alles versöhnenden Wiedersehen. Die Realität ist ja doch oft ganz anders als in den kitschigen Fernsehshows. Rolf und seine leibliche Mutter Erika haben sich überhaupt nicht verstanden! Nach diesem Besuch erzählten mir Rolf und seine Frau, dass seine Mutter eine sehr herrische und unbequeme Person wäre und er sie aus seinen Leben gestrichen, also „entfernt“ hätte. Er möchte keinen Kontakt mehr zu ihr haben.
Marvin, Rolfs Sohn und mein Großcousin, hatte jedoch während des Australienaufenthalts mit dem Didgeridoo Bekanntschaft geschlossen und sich im Laufe der Zeit im Spielen dieses Instrumentes perfektioniert. Marvin ist heute sogar ein professioneller Didgeridoo-Spieler, der sehr gefragt ist und rund um die Welt zu Konzertauftritten reist.
Nun, durch Marvin, mit dem ich auch auf Facebook befreundet bin, habe ich Kontakt zu seiner Großmutter, der „dubiosen“ Erika bekommen. Mir war aufgefallen, dass seine Posts oft von einer Erika, wohnhaft in Australien, geliked wurden. Ich schlussfolgerte, dass es sich nur um meine „entfernte“ Tante handeln müsste.
Ich schrieb sie auf FB an und diese Erika war hocherfreut, als ich mich bei ihr meldete und sie mich wiedererkannte: „Ach, bist du die kleine Rebekka? Ich hab dich ja als Baby auf den Armen gehalten, und dein Vater war auch auf der Hochzeit, als ich deinen Onkel heiratete.“ So schrieben Erika und ich uns eine Zeitlang, dann lud sie mich nach Australien ein. Über diese meine Reise habe ich an anderer Stelle – allerdings unter einem anderen Tenor - ausführlich berichtet.
Nun, ich wollte mich von Rolfs Erzählungen über seine leibliche Mutter nicht beeinflussen lassen und meine Beziehung zu ihr ganz unvoreingenommen aufbauen. Ich dachte, dass die beiden halt ein sehr schwieriges Verhältnis gehabt und es leider nicht geschafft hatten, liebevoll zueinander zu finden. Wie bereits jedoch gesagt, im Fernsehen sieht das ja immer ganz anders aus.
Während meines Australien-Besuches erzählte mir Erika ihre Version von der ganzen Geschichte …
„Meine Schwiegereltern (also meine Großeltern) waren immer sehr eklig zu mir gewesen. Ich war wohl für ihr Muttersöhnchen nicht gut genug. Die Schwiegermutter hat sogar einmal versucht, mich die Treppe hinunterzuschubsen, als ich mit Rolf schwanger war.“
Das konnte ich mir ja nun gar nicht vorstellen, weil die Oma immer sehr lieb zu uns Kindern gewesen war.
Erika berichtete weiter: „Nach der Scheidung bin ich mit einem anderen Mann, auch einem Deutschen, nach Kanada gegangen und habe dort ein Kind von ihm bekommen. Leider musste ich mich von diesem Mann trennen und bin dann mit Mark (also ihrem zweiten Sohn) über die USA nach Australien ausgewandert. Dort wurden Ende der 50ger und auch noch in den 60gern Krankenschwestern gesucht. Ich war ja eine ausgebildete Fachkraft. Dort hab ich dann einen Australier geheiratet und mit ihm eine Tochter bekommen. Und in Australien habe ich mich von Anfang an wohl und wie zuhause gefühlt.“
Als ich Erika in Australien besuchte und in ihrem Haus weilte, war dieser dritte Ehemann bereits verstorben, und ihre beiden Enkeltöchter lebten bei ihr. Ihre Tochter hat MS und kann sich nicht um die Kinder kümmern. An den Wochenenden kommt dann der Vater der Mädchen aus Sydney und holt nach, was er in der Woche nicht an Vaterpflichten hat erfüllen können.
Eines Tages fragte ich Erika vorsichtig nach ihrem ersten Kind, also nach meinen Cousin Rolf. Meine Tante brauste gleich auf und fing an, über ihn zu schimpfen. Sie wäre mit ihm überhaupt nicht warm geworden, denn er wäre mürrisch und völlig desinteressiert gewesen und zwar an allem, was sie ihm in Australien hatte zeigen wollen. Sie hätte ihn zwar geboren, aber er wäre nicht mehr ihr Sohn. Sie hätte ihn aus ihrem Leben gelöscht, also „entfernt“. Da musste ich ganz schön schlucken …
Anfangs war ich ja skeptisch, was Erika selbst anbetraf. Im Laufe meines Besuches bei ihr musste ich jedoch leider feststellen, dass das, was mir Rolf über seine Mutter berichtet hatte, der Wahrheit entsprach. In den ersten Tagen meines Besuches war sie noch „katzenfreundlich“ zu mir gewesen, aber nach und nach kam dann ihre herrische Art zum Vorschein. Wenn ich einmal nicht so reagierte, wie sie erwartet hatte, brauste sie gleich auf, schnauzte mich an und ließ kein Gegenargument zu. Das wäre halt ihre Art, meinte sie, als ich sie bat, mich nicht so anzufahren.
Wenn ihr Sohn Mark (mit dem ich ja nicht verwandt bin) und ihr Schwiegersohn am Wochenende zu Besuch kamen, mussten diese erstmal zum Rapport und sich zu ihr ins Wohnzimmer setzen. Dort übten sie dann eine Stunde „gepflegte“ Konversation. Ihr Sohn sollte einmal die Klimaanlage reparieren oder etwas an dieser richten. Ich saß im Nachbarzimmer und bekam mit, wie Erika den Sohn beschimpfte. Er wäre zu blöd, um so eine simple Sache zu machen und einfach zu nichts zu gebrauchen.
Ich fühlte mich in Erikas Gesellschaft immer unwohler und flüchtete so oft ich konnte. Entweder fuhr ich downtown, um zu bummeln oder shoppen oder lud ihre beiden Enkeltöchter zum Eisessen ein. Wenn ich dann mit Erikas Familienmitgliedern unterwegs war, wurden wir von ihr immer instruiert und per Handy überwacht. Wir bekamen genaue Anweisungen, wo wir hinzugehen- oder zu fahren hatten und wann wir zurücksein sollten
Silvester haben wir auf Erikas Terrasse gefeiert. Morgens war ich mit dem Schwiegersohn – den ich übrigens sehr sympathisch und eloquent fand – und den Enkeltöchtern einkaufen gewesen. Als ich abends dem Schwiegersohn beim Herrichten des Buffets helfen wollte, verbot Erika mir, in die Küche und ihm zur Hand zu gehen.
„Der soll das ganz alleine machen. Der kann am Wochenende ruhig etwas für mich tun. Schließlich ist er ja die ganze Woche über nicht hier, und ich muss auf seine Kinder aufpassen.“
Verständlich, dass mir Sohn und Schwiegersohn – beide voll berufstätig – richtig leid taten.
Erikas ganzer Stolz waren Nippessachen, Kaffee- und Essservice, die sie in einer Vitrine im Esszimmer aufbewahrte. Sie hätte diese von verstorbenen Patienten, die sie gepflegt hatte, geschenkt bekommen. Diese Sachen hätten einen großen Wert und wären Teil der Aussteuer ihrer Enkeltöchter. Also, ich hatte da so einige Gedanken, was ihre pflegerischen Kenntnisse anbetraf. Ich habe auch munkeln hören, dass Erika durch Erbschaften eine sehr vermögende Frau sein soll. Vermutlich kuschen deshalb alle Familienmitglieder vor ihr …
Nun denn, ich war froh, als ich Erikas Haus nach zehn Tagen verlassen und nach Sydney weiterreisen konnte. Erika wollte mir den dreitägigen Hotelaufenthalt streichen, was ich aber nicht zuließ. Schließlich hatte sie mir den ja versprochen und auch vorab gebucht. Mark, der mich nach Sydney gefahren hatte, beglich dann die Rechnung bei meinem Einchecken.
In der Metropole atmete ich erstmal auf! Die Atmosphäre bei Erika hatte mir nun gar nicht gefallen. Und die Tage in Sydney waren schließlich eine kleine Versöhnung mit den vergangenen Tagen, die nicht so friedlich verlaufen waren.
Auf Facebook bin ich nicht mehr mit Erika befreundet, ich habe sie aus meiner Freundesliste „entfernt“. Ich sehe nur noch, dass sie ab und zu etwas von Marvin, dem Didgeridoo-Musiker, liked. Von ihrer ganzen „Sippschaft“ in Australien, mit der ich ja nicht verwandt bin aber mit der ich mich ja ganz gut verstanden hatte, habe ich seit meinem Besuch nichts mehr gehört. Vermutlich hat Erika ihr Kontakt- und Redeverbot erteilt.
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Texte: Rebekka Weber
Cover: Pixabay, FG Josealbafotos
Lektorat: Rebekka Weber
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2019
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