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Prost!

Meine liebe Charlotte,

 

in diesem Monat, dem goldenen Oktober, denke ich ganz besonders oft an dich. Du weißt sicher am besten, aus welchem Grund. Am 27. Oktober werde ich dich auch mit Dietmar, deinem ältesten Sohn, besuchen. Wir haben uns einiges für den Tag vorgenommen und wollen dir ganz nah sein.

 

Der Familie und mir geht es gut. Aber was ist alles passiert, seitdem du nicht mehr bei uns bist? Du wolltest ja auf dem Laufenden gehalten werden …

 

Fangen wir mit der politischen Situation an. Der Schröder ist nicht mehr da. Seit 2005 wird unser Land von einer Frau regiert. Anfangs lief es ganz gut, ihre Beliebtheit hat mit den Jahren jedoch immer mehr abgenommen. Einer der Hauptgründe ist sicherlich ihre Flüchtlingspolitik, mit der viele Bürger nicht einverstanden sind. Seit 2015 wird Europa von einer Flüchtlingswelle überrollt.

 

Erinnerst du dich an die wenigen Afrikaner, die in den 70ger- und 80ger-Jahren aus Ostafrika kamen und hier um Asyl gebeten haben? Äthiopien wurde nach dem Sturz des Kaisers Haile Selassie von einer Militärdiktatur regiert. Nach der „Bauernrevolution“ Ende der 80ger wurde diese Regierung 1991 endlich abgesetzt und das Land hat seitdem eine relativ stabile demokratische Regierung. Der jahrzehntelange Grenzkonflikt mit Eritrea ist vor kurzem auch offiziell beendet worden.

 

Erinnerst du dich an Kifle, den äthiopischen Studenten, der in Köln Medizin studiert hatte und nach Boston, zu seinem Bruder, auswandern wollte? Du warst ja von ihm sehr angetan. Ich hab‘ ihn vor kurzem per Zufall im Internet gefunden: Er ist ein renommierter Herzchirurg geworden, arbeitet jetzt in einem Klinikum in Braunschweig und hat eine Initiative, namens Heart for Ethiopia, gegründet, um herzkranken Kindern in seinem Heimatland zu helfen.

 

Somalia, Äthiopiens Nachbarland, kommt jedoch nicht zur Ruhe. Der Diktator Siad Barre hatte sich ja 1992 aus dem Staub gemacht, aber die streitlustigen Somali-Stämme schaffen es einfach nicht, sich zu einigen und eine stabile Regierung aufzubauen. Und an ihren Frauen schnibbeln sie weiter herum … Das hat sich trotz Waris Dirie und Aufklärungskampagnen immer noch nicht geändert. Ich erinnere mich daran, wie wir oft über dieses Thema gesprochen und uns deshalb echauffiert hatten.

 

Ein bekannter kongolesischer Gynäkologe und Menschenrechtsaktivist hat übrigens gerade den Friedensnobelpreis bekommen, weil er Frauen, die in seinem Land immer wieder vergewaltigt und gefoltert werden, operiert und ihnen auch psychischen Beistand gibt. Es ist furchtbar, was sich immer noch in vielen Teilen unserer Welt abspielt.

 

Seit ca. drei Jahren kommen die Flüchtlinge jetzt hauptsächlich aus Syrien – dort herrscht Krieg – Ghana und Afghanistan. So wie ich dich in Erinnerung habe, würdest du bestimmt auch diesen Menschen helfen, wenn du denn jetzt noch könntest.

 

Das sind halt so meine Gedanken, die mich z.Z. bewegen und die ich gerne mit dir teilen würde.

 

Jetzt zum privaten Bereich und zu ein paar positiven Nachrichten:

 

Seit acht Jahren arbeite ich als Kinderfrau, nicht mehr als Sekretärin oder Sales Assistant. Und diese Tätigkeit macht mir viel Freude. Erinnerst du dich noch daran, wie wir damals die Realschule für mich ausgesucht hatten? Ich hätte ja den Abschluss der Mittleren Reife gebraucht, um Kindergärtnerin zu werden. Wie du weißt, hatte ich aber nach der Schule zunächst eine andere berufliche Laufbahn eingeschlagen. Auf meinen ursprünglichen Wunsch, für Kinder tätig zu sein, bin ich tatsächlich in meinen „reifen“ Jahren zurückgekommen. So hat sich der Kreis geschlossen!

 

Mike, dein jüngster Enkel, macht mir viel Freude. Seit zwei Jahren hat er eine eigene Wohnung und seit einem Jahr lebt er dort mit seiner Freundin zusammen. Er studiert in Düsseldorf „Ton und Bild“ und spielt in drei Bands.

 

Das wollte ich dir alles erzählen. Und ... du fehlst mir so!

 

Am 27. Oktober, an deinem 100. Geburtstag, werde ich mit Dietmar zu deinem Grab fahren. Ich habe es in den vergangenen Jahren ein paar Mal besucht, hatte aber immer Schwierigkeiten, es genau zu finden. Deinem Wunsch entsprechend haben wir dich ja eingeäschert und anonym begraben. So liegst du unter einem Baum auf einer Wiese, von der es auf dem Parkfriedhof ja zahlreiche gibt. Aber so ungefähr wissen wir ja noch, wo du liegst. Keine Sorge, Dietmar und ich werden dich bestimmt wiederfinden.

 

Also, dann, Prost auf deine 100!

 

Fühl dich ganz lieb gedrückt und geküsst von deiner Tochter.

 

P.S.1 Vielleicht gibst du noch mal ein Zeichen?

 

P.S.2 Ich denke sehr oft an dich und danke dir noch einmal für die schöne Zeit, die wir zusammen verbracht haben.

 

 

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Impressum

Texte: Rebekka Weber
Bildmaterialien: Rebekka Weber
Cover: pixabay, freie kommerzielle Nutzung
Tag der Veröffentlichung: 06.10.2018

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