Durch die Blätter der Bäume vor dem Haus blinzelte das Licht der untergehenden Sonne. Wir saßen auf meinem Balkon und nippten genüsslich an einem Glas Wein.
„Was für ein schöner Abend. Prost!“, nickte ich Bernd zu, der an diesem Wochenende bei mir zu Besuch weilte.
„Und was sollen wir morgen unternehmen?“, fragte mein Gast.
„Ich wollte ja eigentlich an diesem Wochenende die Gedenkstätte für Chester Bennington besuchen und dort auch ein paar Blümchen niederlegen.“
„Okay, dann fahren wir nach Köln! Wir könnten anschließend am Rheinufer und in der Altstadt spazieren gehen und dann irgendwo zu Mittag essen.“
„Gute Idee“, stimmte ich zu.
So fuhren wir am Sonntagmorgen – so gegen 10:00 – mit dem Auto Richtung Süden. Nach einer halben Stunde Fahrt erreichten wir die Lanxess Arena, die in Köln-Deutz neben der Messe liegt. Ganz liebevoll hatten dort Fans an einem Pfeiler der Konzerthalle eine Gedenkstätte aufgebaut (was ihnen erlaubt worden war) und ich legte nun meine Mitbringsel hinzu. Der Tod des Linkin-Park-Sängers, der sich am 20. Juli mit 42 Jahren das Leben genommen hatte, hatte mich sehr berührt. Wie sollte es nun mit der Band weitergehen, ohne diesen charismatischen Frontmann? Seit Jahren gehörte die Musik dieser Band zum Lieblingsrepertoire meines Sohnes und mir. Nachdem ich ein paar Fotos gemacht hatte und einige Minuten in stillem Gedenken verharrt war, riss ich mich wieder los.
Nun fuhren wir über die Severin-Brücke Richtung Innenstadt und sahen zur Rechten den Dom winken. Im Gegensatz zu vielen Düsseldorfern, die Köln als die „verbotene Stadt“ bezeichnen, hege ich keinerlei Aversionen gegen diese Stadt. Schließlich hatte ich während meines Studiums eine Zeitlang in der Domstadt gewohnt und mich dort immer sehr wohl gefühlt. So freute ich mich auch heute wieder, ein paar Stunden in meiner „dritten“ Heimat zu verbringen.
In der City ist es immer schwierig, einen Parkplatz zu finden. Bernd kannte sich jedoch aus und lotste mich in eine Seitenstraße in der Nähe der Industrie- und Handelskammer, wo er früher oft beruflich zu tun hatte. Als wir ausstiegen und in die Sonne traten, setzte ich gleich wieder meine Kappe auf. Schließlich hatte ich in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht, wenn ich ohne Kopfbedeckung durch die pralle Sonne gelaufen war. Bernd, der im Laufe der Jahre eine sehr „hohe Stirn“ bekommen hat, meinte jedoch, dass die Sonne ihm nichts ausmachen würde und er gut ohne Kopfbedeckung zurechtkäme. Ich warf ihm einen zweifelnden Blick zu.
Nach wenigen Minuten hatten wir die Domplatte erreicht, wo es wie immer von vielen Menschen nur so wimmelt. Doch jedes Mal bin ich wieder vom Dom, diesem imposanten Bauwerk, beeindruckt! Ich nehme mir Zeit, einzutreten, andächtig durch die Gänge zu schreiten und in einer Nische eine Kerze anzuzünden. So auch an diesem Sonntag. Als wir aus der Kirche wieder ins helle Licht traten, packte uns eine Windbö, die sich im Laufe des Tages noch öfters melden sollte. Einige Tage später habe ich dann in den Nachrichten erfahren, dass durch diese Böen die Seilbahn, die vom Rheinpark über den Rhein zum Dom fährt, außer Takt geriet. Eine Gondel blieb sogar stecken und die Insassen mussten von der Feuerwehr geborgen werden. Aber dieses Ereignis sollte an diesem Tag nicht zu unserer eigenen Geschichte gehören.
Bernd und ich bummelten gemütlich am Kölner Rheinufer entlang, sahen den Kindern zu, die dort in den Wasseranlagen spielten und den Menschen, die genüsslich Eis schleckten. Ich zückte mein Handy und machte ein paar Fotos. Ohne Neid muss ich gestehen, dass die Kölner ihr Altstadtufer wirklich sehr ansprechend gestaltet haben. Nur eine schöne Freitreppe, wie wir sie in der Landeshauptstadt besitzen, haben die Kölner nicht hinbekommen. Die ihre liegt nämlich g e g e n ü b e r dem stark frequentierten Altstadtufer und war an diesem Sonntag sogar regelrecht verwaist.
Am „Alten Markt“ angekommen, fanden wir ein ansprechendes Lokal mit Außengastronomie. Wir orderten Flammkuchen. Ich bestellte Sprudelwasser dazu, Bernd jedoch ein großes Glas Hefeweizen. Nun ließen wir es uns schmecken und genossen die malerische Kulisse um uns herum. Ab und zu blies wieder eine Windbö, die uns jedoch nicht den Appetit verderben konnte. Wir lachten und hielten unsere Servietten und die Speisekarten fest. Bernd bestellte sich ein zweites Glas Bier.
Nun konnte ich doch nicht an mich halten und fragte: „Glaubst du, dass du es verkraften kannst, bei diesen Temperaturen noch ein Glas zu trinken? Du hast ja auch Medikamente eingenommen.“
Bernd winkte ab: „Ich weiß schon, was ich tue.“
„Okay, dann genieße es. Ich geh mal für Ladies, um mich ein wenig frisch zu machen. Kannst du schon mal bezahlen?“
Bernd nickte und nahm noch einen tiefen Schluck Bier.
Auf der Damentoilette ließ ich mir viel Zeit, ganz besonders vor dem Spiegel. Als ich mir gerade die Nase puderte, kam eine Kellnerin angestürmt und rief ganz aufgeregt: „Bitte kommen Sie schnell nach oben. Ihr Mann hat einen epileptischen Anfall!“
„Das kann ja gar nicht sein!“, rief ich erschrocken aus. Schnell klappte ich meine Puderdose zu und rannte hinter der Frau her, die Kellertreppe hinauf. „Und übrigens ist er nicht mein Mann, sondern mein Freund. Ach, ist ja auch egal!“
Bernd saß – ganz wie ein nasser Sack – zusammengesunken am Tisch, an dem wir vor wenigen Minuten noch entspannt gegessen hatten. Sein Handy lag vor ihm und er drückte unkontrolliert mit den Fingern darauf herum.
„Bitte hilf mir, bitte hilf mir“, stammelte er. Ich versuchte, ihn zu beruhigen, streichelte seinen Rücken und bat die Kellnerin, ein Glas Wasser zu holen.
Was war nur mit ihm los? Ich konnte es mir nicht erklären, aber ein Epileptiker war er, soweit ich informiert war, mit Sicherheit nicht. In den zwei Monaten, die ich nun mit ihm zusammen war, hatte er immer relativ fit gewirkt. Allerdings hatte er mir erzählt, dass er einmal mit Anfang vierzig einen Herzinfarkt gehabt hatte. Nach anschließender Reha hätte er aber Stress abgebaut, immer seine Tabletten – auch gegen Bluthochdruck genommen – und wäre immer viel Rad gefahren. Er hätte seitdem nie wieder Probleme mit dem Herzen gehabt. Als ich jedoch einmal mit ihm eine kleine Wanderung unternommen hatte, war ihm in der prallen Sonne – er hatte keine Kopfbedeckung aufgehabt – schwindelig geworden. Ich war dann mit ihm in die Notfallambulanz eines nahegelegenen Krankenhauses gefahren und dort war er untersucht worden. Die behandelnde Ärztin meinte dann, dass mit seinem Herzen alles in Ordnung wäre. Er hätte wohl eine Panikattacke gehabt und er solle versuchen, solche Attacken in Griff zu bekommen.
Weshalb war Bernd denn jetzt zusammengebrochen? Doch wieder eine Panikattacke oder sogar wieder ein Infarkt? Nun brachte die Kellnerin ein Glas Wasser, das Bernd jedoch mit einer Armbewegung gleich wieder vom Tisch fegte. Da bat ich jemanden, doch einen Krankenwagen zu rufen. Bis der kam, versuchte ich weiter Bernd zu beruhigen, wischte ihm den Schweiß von der Stirn und bat ihn, ja nicht aufzustehen. Und „Ruhigbleiben, nur ruhigbleiben“, flüsterte ich mir immer wieder zu, „nur nicht die Nerven verlieren.“
Der Rettungswagen kam nach zehn Minuten und parkte direkt vor dem Lokal, was natürlich gleich für Aufsehen sorgte. Zum Glück zückte niemand seine Kamera oder Handy, als die beiden Sanitäter Bernd rechts und links unterhakten und ihn zum Wagen führten. Bei laufendem Motor war dann erstmal eine geschlagene Viertelstunde Funkstille. Schließlich war ich doch mehr als beunruhigt, ging zu den Sanitätern und fragte nach dem aktuellen Stand der Dinge.
„Wir können noch nicht sagen, was Herrn … fehlt. Wir bringen ihn jetzt erstmal in die Uniklinik. Möchten Sie mitfahren?“
„Danke für das Angebot. Aber ich muss mein Auto holen. Ich hab in der Nähe vom Dom geparkt. Wo finde ich denn meinen Freund in der Klinik?“
„Fragen Sie doch in der Neurologie nach.“
In der Neurologie? Was hat das mit dem Herz zu tun? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Wie durch Wattenebel wandelnd fand ich zu meinem Auto zurück. Ich habe kein Navi, aber da mir Köln ja durch meine Studentenzeit vertraut ist, fand ich noch relativ schnell den Weg zur Uniklinik. Das dazugehörende Gelände mit den vielen Gebäuden ist allerdings sehr weitläufig und es dauerte eine Weile, bis ich die Neurologie gefunden hatte. Wie nicht anders zu erwarten, war der Info-Schalter nicht besetzt – es war ja Sonntag – und die Gänge waren leer und verwaist. Als ein anderer Rettungswagen vor der Eingangstür hielt und die Sanitäter Material ausluden, bat ich sie um Auskunft. Sie meinten, dass ich doch einmal zu der Abteilung „Stroke Unit“ gehen sollte, dort würde ich meinen Freund sicherlich finden. „Stroke Unit“??? In diesem Moment sagte mir der Begriff erstmal gar nichts.
Ich klingelte dort an der Tür und durfte eintreten. Ja, mein Freund wäre hier und würde gerade untersucht. Es ginge ihm den Umständen entsprechend und er würde gleich in den OP gebracht.
„Ja, was hat er denn nun?“
„Wahrscheinlich einen Schlaganfall.“
„Einen Schlaganfall? Doch keinen Herzinfarkt?“, verwundert und erschrocken starrte ich den Arzt an. „Was machen Sie denn jetzt mit ihm?“
„Wir bringen ihn in den OP.“
Und da wurde Bernd auch schon auf einer Krankenliege an mir vorbeigerollt! Ich sprang auf, ging zu ihm hin, streichelte ihn und sagte: „Es wird alles wieder gut.“
Ich war mir nicht sicher, ob er mich erkannte, denn er reagierte nicht.
„Hier sind seine Sachen!“ Ein Pfleger drückte mir eine große Plastiktüte in die Hand.
Bernd war wohl komplett ausgezogen worden, denn in der Tüte befanden sich seine Schuhe und Socken, seine Jeans, sein Hemd und seine Unterwäsche, sein Handy, sein Portemonnaie und sein Rucksack. Folglich war Bernd jetzt völlig nackt unter seinem OP-Hemd und sein Leben lag nur noch in den Händen der Ärzte! Diese Erkenntnis löste einen regelrechten Schock in mir aus und ich fing an zu schluchzen. Als ich so heulend da saß, kam eine Schwester zu mir, streichelte meinen Rücken und brachte mir einen Becher Kaffee. Nach einer Weile hatte ich mich wieder gefangen. Ich kramte Bernds Handy, das zum Glück noch eingeschaltet war, aus der Plastiktüte. Im Adressbuch suchte ich nach Bernds Sohn.
„Hallo. Hier ist die Freundin von deinem Papa. Sorry, dass ich dich so überfalle. Aber euer Papa hatte wahrscheinlich einen Schlaganfall. Bitte sag deiner Schwester Bescheid. Er ist hier in Köln in der Uniklinik und wird gerade operiert. Dann kommt er zunächst auf die Intensivstation.“
Schlimm, dass der erste Kontakt mit den Kindern, von denen Bernd mir bis jetzt nur erzählt hatte, nun unter diesen Umständen stattfand! Das hatte ich mir anders vorgestellt.
Und was sollte ich nun machen? Mittlerweile war es fünf Uhr am Nachmittag. Ich fragte jemanden vom Pflegepersonal um Rat.
„Fahren Sie doch nach Hause und kommen Sie heute Abend wieder.“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das wäre mir zu umständlich. Ich wohne in Düsseldorf und muss morgen Vormittag arbeiten.“
„Dann rufen Sie doch heute Abend gegen zehn auf der Intensiv an. Da wird man ihnen sicher Bescheid geben können.“
Immer noch im Schockzustand schaffte ich es jedoch, mich auf den Verkehr zu konzentrieren und nach Düsseldorf zurückzufahren. Zu Hause angekommen, war ich zu nichts mehr zu gebrauchen … Ungeduldig wartete ich darauf, endlich die Uniklinik anrufen zu können. Punkt 22:00 rief ich an und bekam gleich beruhigende Nachrichten: Herr …. hätte die OP gut überstanden. Wenn in der Nacht keine Komplikationen auftauchen würden, könnte er am nächsten Tag auf Station verlegt werden. Ich atmete auf.
Als ich Bernd nach zwei Tagen besuchte – den Montag hatte ich ganz seinen Kindern überlassen – saß er schon ganz munter auf seinem Bett. Außer einer leichten Sprachstörung, die am ersten Tag nach der OP aufgetreten war, hatte er keine Beeinträchtigungen erlitten, weder im Sprachzentrum noch im Bewegungsapparat. Das war ja nochmal gutgegangen! Bernd versprach, in Zukunft mehr auf seine Gesundheit zu achten. Nach dem Krankenhausaufenthalt stand jedoch für ihn erstmal die Reha an …
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Texte: Rebekka Weber
Bildmaterialien: Rebekka Weber
Cover: Pixabay (frei verfügbar), FG cocoparisienne
Tag der Veröffentlichung: 30.06.2018
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