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Verärgert schaute die junge Frau auf die Leuchttafel, auf der die aktuellen Abfahrtszeiten der Bahnen zu sehen waren.

Mist, dachte sie, jetzt hab‘ ich mich so beeilt und jetzt hat die blöde U-Bahn schon wieder Verspätung! Aber dann hat Jens sicher schon das Abendessen fertig, wenn ich nach Haus komme. Man muss halt immer auch die positiven Seiten sehen.

Sie setzte sich auf die Bank im Wartehäuschen, schloss die Augen und reckte ihr Gesicht den  milden Strahlen der Herbstsonne zu.

 

„Excuse me, do you speak English?“, hörte sie plötzlich jemanden sagen. Sie öffnete die Augen wieder und blickte den Mann an, der fragend vor ihr stand.

Hm, ist wohl ein Japaner auf Geschäftsreise ist, dachte sie, lässt sich unschwer am dunklen Anzug und der Aktentasche erkennen.

„Ja“, antwortete sie auf Englisch. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich suche den Eingang zur U-Bahn.“

„Dies hier ist die U-Bahn-Haltestelle.“

„Aber … U-Bahnen fahren doch unterirdisch, nicht wahr?“

„Nicht hier in Düsseldorf“, schmunzelte sie. „Hier werden Straßenbahnen zu U-Bahnen. Und U-Bahn-Tunnel gibt es nur in der Innenstadt. Wo möchten Sie denn hin?“

„Zum Hauptbahnhof. Leider ist der Akku meines Handys leer und ich kann nicht nachsehen, wie ich fahren muss.“

„Sie können hier mit mir in die U75 einsteigen. Die Linie hält auch am Hauptbahnhof. Ah, da kommt sie ja endlich!“

„Okay. Vielen Dank für Ihre Auskünfte.“

 

Die Bahn hielt am Wartegleis. Die Türen öffneten sich und Chris und der Japaner stiegen in den zweiten, letzten Wagen ein. Erleichtert ließ sich die junge Frau auf einen freien Sitz fallen und verstaute ihre Einkaufstaschen neben sich. Mit einem kleinen Ruck setzte sich die Bahn wieder in Bewegung. Es war kurz nach fünf am Nachmittag und der Feierabendverkehr lief nun langsam an. Nach und nach – an jeder Haltestelle – stiegen Fahrgäste zu.

 

Als sie über die Rheinbrücke fuhren, freute sich Chris – wie bei jeder Überfahrt – über das schöne Panorama, das sich ihr bot. Das Wasser des Stroms funkelte in der Sonne und im Hintergrund waren die Altstadt, der Rheinturm und das Stadttor zu sehen. Ein paar Schönwetterwölkchen zogen über die imposanten Bauten hinweg. An der Haltestelle „Tonhalle“ ließ die Bahn ordnungsgemäß Fahrgäste ein- und aussteigen,  dann tauchte sie in den U-Bahn-Tunnel ein.

„Jetzt kommt der Bahnhof Heinrich-Heine-Allee, von dort aus kann man bequem in die Altstadt bummeln“,  erklärte Chris dem Japaner, der ihr schräg gegenüber Platz genommen hatte. „Und dann sind es nur noch drei Stationen bis zum Hauptbahnhof.“

„Vielen Dank für Ihre Informationen!“

 

Aber was war das? fragte sich Chris, als sie in den U-Bahnhof einfuhren. Anstatt die Fahrt zu verlangsamen,  abzubremsen und anzuhalten, fuhr die Bahn – im gleichen Tempo wie sie in den Tunnel eingefahren war – einfach weiter.

„Was soll das denn?“, rief nun laut ein Mann aus, der schon aufgestanden war und sich an eine der Türen begeben hatte. „Ich muss hier aussteigen!“

„Ja, was ist denn los?“, meinte nun eine Frau, die zwei kleine Kinder an der Hand hielt und auch schon aufgestanden war. „Wir wollen hier raus!“

 

Und draußen am Bahnsteig erblickte Chris wartende Leute, die wohl gerade einsteigen wollten und nun verdutzte Gesichter machten.

Nun näherte sich die Bahn im unveränderten Tempo der nächsten U-Bahn-Haltestelle:  „Königsallee“, Düsseldorfs Aushängeschild. Aber … gleiches Spiel wie zuvor! Die Bahn fuhr ohne abzubremsen weiter und ließ erneut die am Bahnsteig wartenden Menschen mit offenen Mündern stehen. Und die Verwirrung in der Bahn selbst wurde immer größer.

 

„Das ist wirklich seltsam, das habe ich ja noch nie erlebt“, kommentierte Chris. „Mist, dass ich mich nicht in den ersten Wagen gesetzt habe, dann könnte man den Fahrer fragen, was los ist.“

„Ist das denn normal, dass die Bahn nicht an jeder Haltestelle hält?“, fragte der Japaner.

„Nein, überhaupt nicht! Eigentlich hätte sie hier auch halten müssen. Ich weiß nicht, warum sie das nicht mehr macht.“

 

Da … endlich ein Knacken in den  Lautsprechern!

„Verehrte Fahrgäste, bitte glauben Sie mir, es liegt nicht an mir, dass wir nicht anhalten können. Der Wagen lässt sich nicht stoppen. Bitte bleiben Sie aber auf Ihren Plätzen sitzen und bewahren Sie Ruhe.“

„Was hat er gesagt?“, fragte der Japaner.

Höflich übersetzte Chris die Ansage und versuchte, nicht in Panik auszubrechen, die sich mittlerweile in ihr ausbreitete. Die Gedanken jagten durch ihren Kopf! Was würde passieren, wenn diese U-Bahn überhaupt nicht mehr anhielt? Würde sie dann nicht irgendwann auf eine andere Bahn auffahren, die wartend an einer Haltestelle stand? Das würde doch sicherlich nicht ohne Blechschäden und eventuell sogar noch schlimmeren Folgen abgehen? Es könnten ja auch Personen durch den Zusammenstoß und den Aufprall verletzt werden! Jetzt war Chris froh, dass sie doch in den zweiten Wagen eingestiegen war …

 

Sie näherten sich der nächsten, der dritten U-Bahn-Haltestelle, aber wieder gleiches Procedere: Die Bahn hielt nicht an und ratterte durch. Dann fuhr sie in den Hauptbahnhof ein. Hoffnungsfroh stand der Japaner auf und bewegte sich Richtung Ausgangstür.

„Am Hauptbahnhof hält die Bahn bestimmt“, meinte er und zwinkerte Chris zu.

Das tat sie jedoch nicht, fuhr – wie zuvor –  einfach weiter und ließ eine weitaus größere Menge an wartenden und verblüfften Leuten auf dem Bahnsteig zurück.

 „Ich verpasse meinen Anschlusszug“, meinte der Japaner trocken.

„Und ich weiß nicht, ob diese Bahn überhaupt mal wieder anhält“, meinte Chris.

„Ja, das frage ich mich auch!“, rief ein weiterer Fahrgast.

„Ich auch!“

„Und ich auch!“

„Und ich habe Angst!“

Die Rufe im Wagen wurden lauter und überall sah man verängstigte Gesichter. Ein Mann zog ein Taschentuch aus seiner Jackentasche und wischte sich den Schweiß – oder waren es Angstperlen? – aus seinem Gesicht. Eine Frau fing leise an zu weinen.

 

Da, ein weiteres Knacken im Lautsprecher! Der Fahrer im ersten Wagen meldete sich wieder: „Verehrte Fahrgäste, bitte verhalten Sie sich weiterhin ruhig. Ich stehe im ständigen Kontakt mit der Leitstelle. Es muss sich um einen technischen Defekt handeln. Wir hoffen, dass dieser bald behoben sein wird. Dieser Zug wird dann wie gewohnt an den nächsten Haltestellen halten.“

 

„Das hoffe ich auch“, jammerte die Frau mit den zwei Kindern, die sich inzwischen wieder gesetzt hatte. Die Frau schien mehr Angst als ihre Sprösslinge zu haben, denn ihr Gesicht war mittlerweile kreideweiß, während ihre beiden Kinder ruhig und genüsslich an Schokoriegeln lutschten.

 

Die außer-Kontrolle-geratene Bahn rauschte an zwei weiteren Haltestellen vorbei, dann fuhr sie aus dem Tunnel hinaus und – Wunder über Wunder – bremste doch tatsächlich ab und kam an der ersten oberirdischen Haltestelle zu stehen! Sofort stürzten fast alle Passagiere an die Türen und betätigten die Taster zum Öffnen. Und tatsächlich: die Türen gingen auf!

 

Nun  meldete sich der Fahrer wieder über die Lautsprecher: „Verehrte Fahrgäste, es scheint, dass das technische Problem nur an der Tunnelfahrt lag und jetzt  behoben ist. Ich werde nun  meine Tour gemäß Streckenführung fortführen und die Bahn wie gewohnt an den nächsten Haltestellen anhalten. Die Fahrgäste, die nun zu weit mitgefahren sind, bitte ich auszusteigen und mit der Bahn, die in Gegenrichtung verkehrt, zurückzufahren. Vielen Dank für Ihr Verständnis.“

 

Chris übersetzte und fragte den Japaner, wie er seine Reise fortsetzen wollte.

„Ich werde mir ein Taxi nehmen. Wer weiß, ob die Bahn, die jetzt zurück zum Hauptbahnhof fährt, dort auch wirklich hält. Sicher ist sicher!“

„Dann wünsche ich Ihnen alles Gute! Ich bleibe hier in der Bahn sitzen. Sie fährt ja jetzt nur noch oberirdisch“, lachte sie und versuchte, die ganze Sache mit Humor zu nehmen.

„Good-bye und vielen Dank für Ihre Hilfe!“

„Gern geschehen!“ Sie winkte dem Japaner zu, der sich nun suchend nach einem Taxi umsah.

 

In der Bahn war es leer geworden … Die meisten Fahrgäste hatten die Bahn verlassen, entweder weil sie zu weit gefahren waren oder weil sie der Technik dieses Zuges nicht mehr trauten. Chris blieb jedoch sitzen. Warum sollte sie auf die nächste Bahn warten? Wer weiß, wann die kam. Vielleicht hatte diese ja auch Probleme im Tunnel oder es lag ein generelles technisches Problem im U-Bahn-Netz vor.

 

Nach zwei weiteren Haltestellen, an denen diese Bahn wieder ordnungsgemäß hielt, stieg Chris aus und ging die wenigen Meter bis zu ihrer Wohnung zu Fuß. Als sie die Wohnungstür aufschloss, hüllte sie gleich ein köstlicher Duft von gebratenem Fleisch und Gemüse ein.

„Du bist ja pünktlich heute Abend!“, rief ihr Jens entgegen. „Wir können gleich essen.“

„Ja, das ist wirklich erstaunlich, denn eigentlich hatte meine Bahn zehn Minuten Verspätung“, erwiderte Chris, während sie Schuhe und Mantel auszog. „Die hat sie aber wieder aufgeholt, indem sie einfach an sechs Haltestellen durchgerattert ist.“

„Wie bitte? Willst du mich veräppeln?“

„Nein, ist gerade passiert! Vielleicht ist das ja das neue Konzept der Rheinbahn*  Verspätungen wieder aufzuholen“, grinste Chris. „Aber ich habe wirklich Angst gehabt. Ich erzähle dir gleich die ganze Story.“

 

* * *

 

In den Lokalnachrichten, die Chris und Jens um viertel vor zehn einschalteten, war die „Geisterfahrt“ dieser U-Bahn ein großes Thema. Die genaue Ursache dieser Störung würde derzeit noch untersucht und sicherlich bald bekanntgegeben, erklärte die Moderatorin.

 

„Dann ist ja gut! Aber noch einmal möchte ich solch eine Geisterfahrt nicht mitmachen“, seufzte Chris. „Ich hoffe nur, dass ich diese Nacht nicht davon träume!“

 

* * *

 

 

*Rheinbahn = Name der Düsseldorfer Verkehrsbetriebe

 

 

 

http://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/rheinland-duesseldorf-panne-100.html

 

Impressum

Texte: Rebekka Weber
Bildmaterialien: Coverfoto von pixabay, Bild von Rheinbahn wikipedia, beide gemeinnützig
Tag der Veröffentlichung: 08.10.2016

Alle Rechte vorbehalten

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