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Begegnung am Küstenpfad

Es war um die Mittagszeit und die Sonne brannte unbarmherzig auf die beiden Wanderer…

 

„Ich brauch‘ unbedingt eine Pause!“, stöhnte Laura. „Können wir nicht eine Rast machen?“

Unwillig drehte sich Paul zu seiner Begleiterin um und warf ihr einen missbilligenden Blick zu.

„Wir sind gerade mal zwei Stunden unterwegs und für die Mittagspause ist es noch zu früh!“

„Ja, aber irgendetwas ist mit meinem linken Schuh nicht in Ordnung. Er drückt ganz fürchterlich. Hoffentlich bekomme ich keine Blase! Wir müssen unbedingt anhalten, damit ich meinen Fuß verarzten kann.“  

„Okay, wenn du absolut willst. Ich bin ja kein Unmensch.“ Paul ließ seinen Blick über das Gebüsch und die Bäume, die den schmalen Küstenpfad säumten, streifen, um ein Plätzchen zu finden, an dem sie sich ausruhen konnten.

 

Nach einem reichhaltigen Frühstück mit Bacon und Scrambled Eggs waren sie gegen zehn Uhr aus St. Austell aufgebrochen und folgten nun wieder dem South West Coast Path, der sich an der Küste Cornwalls entlang schlängelte. Paul war sportlich und durchtrainiert. Er hatte keine Lust auf Strandurlaube oder Städtereisen, die seine Verlobte eigentlich bevorzugte. Diesen Sommer hatte er sie jedoch überzeugen können, dass ein Wanderurlaub genau das Richtige für beide sein würde. Und da Laura an ihrer Fitness arbeiten wollte, hatte sie eingewilligt, zwei Wochen lang in Cornwall auf Wanderschaft zu gehen. Ihr heutiges Etappenziel war ein kleiner Küstenort namens Fowey. Dort wollten sie den Hall Walk ausfindig machen und auf den Spuren Daphne du Mauriers wandeln. Laura liebte die Romane dieser Autorin, die meist in Cornwall spielten und so hatte man mit der Wanderung und der damit verbundenen Spurensuche gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können.

 

„Sieh‘ mal dort drüben, vor den Bäumen! Diese kleine Grasfläche liegt ganz im Schatten. Lass uns dort hinübergehen!“ Paul wies mit der Hand zu einem idyllischen Fleckchen, das von Sträuchern und Wildblumen umgeben war.

„Wunderbar!“ Schon hatte Laura die Stelle erreicht und ließ ihren Rucksack ins Gras plumpsen. Sie zog ihre Wasserflasche heraus und nahm einen kräftigen Schluck. Dann streifte sie ihre Wanderstiefel ab und ließ etwas Wasser über die gerötete Stelle an linken Fuß laufen. Nun da sie ihre Zehen wohlig ausstrecken konnte und nichts mehr drückte, hatte sie auch wieder Augen für die herrliche Landschaft, die sie gerade durchwanderten.

 

„Sieh nur, wie schön es hier ist! Dieser Ausblick auf das türkisgrüne Meer und die Felsen ist doch herrlich. Dort unten ist auch eine kleine Sandbucht. Hier müsste man ein Haus haben!“

Paul hatte sich noch nicht gesetzt und stand neben ihr. Interessiert blickte er sich um. Plötzlich hatte er etwas entdeckt und schob die herabhängenden Zweige der Bäume zur Seite, um besser ins Hinterland des Küstenpfads schauen zu können.

„Hier haben wohl auch mal Leute gewohnt. Guck‘ mal.“

Er schob die Zweige ganz auseinander und sie erblickten die Ruine eines Hauses, dessen rußgeschwärzte Mauern gespenstig in die Höhe ragten. Schlingpflanzen hatten es zu einem großen Teil schon in Besitz genommen und Unkraut wucherte dort, wo einmal die Fußböden gewesen sein mussten.

„Das war sicher einmal ein sehr großer Besitz“, meinte nun Laura. „Glaubst du, dass dies Manderley gewesen sein könnte? Das Schloss ist ja im Buch und im Film auch bis auf die Grundmauern abgebrannt. Und wenn man sich jetzt die Reste ansieht und die Lage des Hauses bedenkt…“

„Hach, du mit deinen romantischen Assoziierungen!“, zog Paul sie auf. „Manderley war doch nur eine Erfindung der Autorin. Also, soweit ich informiert bin...“

„Aber vielleicht hat es doch wirklich existiert! Ach, lass doch noch mal die Karte sehen!“

„Da ist nix eingezeichnet, glaub‘ mir“, beharrte Paul, „ich hab‘ mir unsere Route schon ein paar Mal genau angesehen!“

„Nun, ob es Manderley gab oder nicht, darüber gibt es ja geteilte Meinungen. Und schließlich hat die Autorin ganz hier in der Nähe tatsächlich gewohnt.“

„Wenn du von deiner Theorie so überzeugt bist, dann können wir nachdem du deinen Fuß verarztet hast, ja einen Rundgang über die Ruine machen, das heißt, wenn du dann wieder laufen kannst.“

„Oki, doki, sehr gerne. Ich kleb‘ jetzt erst mal ein Blasenpflaster auf und dann lass uns etwas essen.“

 

Sie entfaltete die Picknickdecke, wickelte die beiden Cornish Pasties aus, die sie morgens noch in einer Bäckerei gekauft hatten, und biss herzhaft in eine hinein. Die andere schob sie ihrem Verlobten zu.

„Lass uns doch noch ein wenig hierbleiben und die Aussicht genießen“, meinte Laura, als sie den letzten Krümel ihres Mittagmals verdrückt hatte. „Es ist doch egal, wann wir in Fowey ankommen. Unser Zimmer haben wir ja gebucht. Hauptsache, wir müssen nicht im Dunkeln über den Küstenpfad marschieren.“

„Da hast du recht.“ Paul legte den Arm um sie und zog sie ganz nah an sich heran. „Schließlich haben wir Urlaub und uns drängt ja keiner.“

Laura machte es sich bequem und kuschelte sich eng an Paul. Sie sog die würzige, warme Luft tief ein, lauschte dem Kreischen der Möwen und dem Zwitschern der Vögel… und konnte nicht verhindern, dass ihr nach einer Weile die Augen zufielen.

 

Irgendwann schreckte sie auf! Hatte sie da nicht Automotorengeräusche und Gelächter gehört? Ein wenig benommen stand sie auf und ging langsam auf das hell erleuchtete Haus zu. In der Auffahrt parkten Autos, aus denen elegant gekleidete Menschen stiegen. Niemand schien jedoch von ihr Notiz zu nehmen. Als sie die Eingangshalle betrat, huschte ein Diener mit einem Tablett gefüllter Champagnergläser an ihr vorbei, nicht ohne ihr jedoch schnell ein Glas in die Hand zu drücken.

 

Laura nippte an dem Getränk und sah sich neugierig um. Am Ende der Halle konnte sie einen Saal erspähen, aus dem Tanzmusik und Gelächter erklang. Sie ging näher und sah, dass die Tische festlich geschmückt waren und auf kunstvoll gearbeiteten Leuchtern Kerzen ihren hellen und warmen Schein verbreiteten. Die Gäste unterhielten sich angeregt oder lauschten der Musik, niemand schien sie jedoch wahrzunehmen, niemand sprach sie an.

 

Die junge Frau drehte sich wieder Richtung Eingang um, denn die große, breite Treppe, die in den ersten Stock führte, zog sie magisch an. Sie betrat die Stufen, warf im Hinaufgehen einen Blick auf die Gemälde, die an der Seite hingen und fand sich oben auf einem Gang wieder, von dem viele Türen abgingen. Ohne dass sie eine Klinke herunterdrücken musste, öffnete sich gleich eine schwere Holztür und sie trat ein. Nun stand sie in einem Schlafzimmer mit einem großen Himmelbett, auf dessen Kissen ein wunderschönes weißes Ballkleid lag. Es war mit Rüschen und Blüten besetzt und hatte einen weiten schwingenden Rock. Ob mir das wohl passt? fragte sie sich und zog schnell ihre Freizeitkleidung aus und den Traum von einem Kleid über. Es passte wie angegossen! Auch der große Hut mit der Schärpe, die Spitzenhandschuhe und die Satinpumps, die ebenfalls auf dem Bett bereit lagen, schienen wie für sie gemacht.

 

Ob ich auch hinunter in den Tanzsaal gehen soll? fragte sie sich. Ganz automatisch lenkte sie ihre Schritte wieder zur Treppe und war erstaunt, als ihr Paul entgegen kam.

„Wow, siehst du elegant aus!“, rief sie bei seinem Anblick. Statt Jeans und Freizeithemd trug er nun einen Smoking und schwarze Schuhe, die nur so glänzten.

„Du aber auch! Darf ich bitten?“ Galant reichte er ihr seinen Arm und gemeinsam schritten sie die Treppe hinunter.

Im Ballsaal spielte die Jazzband gerade ein Lied, das Paul gefiel und obwohl er sonst eigentlich nie tanzte, forderte er seine Verlobte auf. Die beiden mischten sich unter die tanzenden Paare und drehten Runde um Runde. Laura wurde fast schwindlig und gleichzeitig immer wärmer und wärmer. Kam es von den vielen Kerzen, die in dem Raum angezündet waren oder von der Körperwärme der vielen anderen Gästen?

 

„Mir ist so heiß!“, murmelte sie und versuchte, ihre Augen zu öffnen.

„Hallo mein Schatz, komm mal aus der Sonne raus. Die ist nämlich gewandert, als wir unser Mittagsschläfchen hielten und scheint dir nun genau ins Gesicht. Hast du dich eigentlich heute Morgen gut eingecremt? Ha, du könntest dir sonst glatt einen Sonnenbrand geholt haben. Deine Nase ist schon ganz rot!“

Laura wischte sich den Schlaf aus den Augen und sah sich um. Endlich erinnerte sie sich, wo sich befand.

„Stell dir vor Paul, ich habe gerade etwas ganz Seltsames aber auch ganz Wunderbares geträumt. Wir beide waren auf einem Fest in Manderley.“

Nun erzählte sie ihrem Verlobten alle Details.

„Na, dann kannst du ja gleich, wenn wir die Ruine besichtigen, herausfinden, ob dieses Haus tatsächlich dein Manderley gewesen sein könnte!“ Paul konnte sich ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen.

 

Als beide wieder ihre Wanderstiefel angezogen, ihre Sachen eingesammelt und ihre Rucksäcke aufgeschnallt hatten, schoben sie die Zweige beiseite, um zu den rußgeschwärzten Mauern zu gehen, die sie noch vor kurzem erspäht hatten. Erstaunt riss Paul die Augen weit auf.

„Ich glaube, ich hatte vorhin eine Halluzination“, stammelte er ungläubig.

„Hä?“ Laura blickte nicht weniger verdattert. „So wie es aussieht, hatte ich die Halluzi auch.“

Kein einziger heruntergebrannter Gebäudeteil, keine einzige Mauer und kein einziger Stein waren mehr zu sehen. Auf der Wiese, wo sie meinten, die Ruine gesehen zu haben, grasten nur noch friedlich ein paar Kühe.

„Ich versteh‘ das nicht!“ Paul suchte nach Worten. „Wenn du alleine diese gespenstigen Mauern gesehen hättest, hätte ich das ja verstehen können. Du hast ja eh eine blühende Fantasie und versinkst völlig in deinen Romanwelten, aber ich…“

„Ja, ja, ist ja schon gut. Das musst du mir nicht ständig unter die Nase reiben! Hm, aber siehst du den Mann dahinten, der bei den Tieren auf der Weide steht? Das ist bestimmt ein Einheimischer. Den könnten wir mal fragen. Vielleicht kann der uns aufklären.“

 

Sie näherten sich dem Mann, der genüsslich an einer Pfeife paffte, und grüßten freundlich.

„Excuse me, entschuldigen Sie bitte“, sprach Paul ihn an. „Können Sie uns sagen, ob hier an dieser Stelle oder ganz in der Nähe ein altes Haus oder vielmehr eine Ruine gestanden hat?“

„No, there is neither a building nor remains of a building here, nein, es gibt hier weder ein Haus noch eine Ruine“, der Mann schüttelte den Kopf, ohne die Pfeife aus seinem Mund zu nehmen. „I’m sorry, tut mir leid.“

„Aber meine Verlobte und ich glauben, dass wir hier vor kurzem noch brandverkohlte Mauerreste gesehen haben. Wir dachten, es wäre Manderley.“

Der Einheimische fing an zu lachen und machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Oh, ihr Touristen“, giggelte er. „Manderley liegt doch ganz woanders!“

„Ja, wo denn?“, fragte Paul.

„Nobody knows exactly, das weiß niemand genau, aber hier in dieser Gegend jedenfalls nicht.“

„Aber hat die Autorin Daphne du Maurier nicht hier an der Küste gewohnt?“, fragte nun Laura, die sich mit seiner Antwort nicht zufrieden geben wollte.

„Ja, hat sie. Da drüben auf dem Gut.“

„Und? Ist das eine Brandruine?“, wollte nun Paul wissen.

„Nein, der Hof ist völlig intakt, wird aber zurzeit nicht bewohnt.“

„Kann man den besichtigen?“, fragte nun Laura eifrig.

„Nein, der ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich.“

„Schade!“, meinte Paul. „Aber vielen Dank für Ihre Auskünfte! Good-Bye.“

 

„Fandest du nicht, dass er ein wenig seltsam angezogen war?“, raunte Laura, als sie wieder Richtung Küstenpfad gingen.

„Wie meinst du das?“

„Na, seine Klamotten sahen so altmodisch aus, wie aus dem letzten Jahrhundert.“

“Ja? Ist mir gar nicht aufgefallen!“

„Frauen haben halt für Mode einen besseren Blick!“

„Wie du meinst.“

Laura drehte sich um und linste noch einmal durch die Zweige.

„Guck mal, dieser Typ ist auch schon wieder weg, genau wie die Ruine. Ich seh' jetzt nur noch Rindviecher! Ich glaub‘, ich werde langsam meschugge.“

 

„Donnerlüttchen!“, entfuhr es Paul, als er außer Kühen auch nichts mehr sah. „Wer weiß, was hier vor sich geht? Oder vielleicht haben wir auch nur einen Sonnenstich?“

„Du vielleicht, ich bestimmt nicht!“

„Werd‘ nicht frech, Kleines! Also, los, lass uns weiterzieh’n. Jetzt freu‘ ich mich richtig auf ein schönes Bier, das ich mir bei unserer Ankunft in Fowey genehmigen werde. Das Best Cornish Bitter ist einfach zu süffig.“  

„Das ist eine gute Idee! In den Pub komme ich natürlich mit. Am besten gehen wir in Fowey ins Old Ferry Inn, da soll Daphne auch mit ihren Eltern eingekehrt sein.“

„Besser nicht, sonst behauptest du hinterher noch, dass du die Autorin persönlich im Pub sitzen siehst.“

„He, he, was denkst du denn? Das kann ja wohl nicht passieren. Die Maurier ist doch schon 1989 verstorben.“

„Ja, aber seit wir diese Schlossruine gesehen haben, ist ja alles möglich.“

„Ha, wir sind schließlich in Cornwall und hier glauben die meisten Menschen noch an Mythen und Legenden…“

„Oh je!“ Paul verdrehte theatralisch die Augen. „Warum hast du mich nur zu diesem Urlaub überredet?“

“Wieso ich? Du wolltest doch den ganzen Küstenpfad entlang wandern.“

„Ja, aber du wolltest auf Spuren dieser Romanautorin wandeln!“

„Ist ja schon gut! Aber wenn wir hier noch weiter rumstehen und diskutieren, erreichen wir unser Quartier nur noch im Dunkeln…“

„Lieber nicht, also los jetzt, weiter marsch, marsch…“

 

Die beiden folgten wieder dem Küstenpfad, der jetzt auf eine felsige Anhöhe zulief. Nach einer Weile kamen ihnen – wie an den vergangenen Tagen – Touristen und Wanderer aus Fleisch und Blut entgegen, die sie freundlich grüßten. Da wussten sie, dass mit ihren Augen und Sinnen noch alles in Ordnung war und dass sie ihnen immer noch trauen konnten…

 

* * *

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Rebekka Weber
Bildmaterialien: Coverbild Mount Edgcumbe House von pixabay, Bilder South West Coast Path von Rebekka Weber, Bild Daphne du Maurier von wikipedia commons
Lektorat: Rebekka Weber
Tag der Veröffentlichung: 11.06.2015

Alle Rechte vorbehalten

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