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Oma Martha

Wie geht ein kleines Kind mit dem Tod um? Für mich hatte er nichts Erschreckendes, denn die Oma sah ganz friedlich aus, als sie von uns ging. Ich war nur traurig, dass sie nicht mehr bei uns war und mit mir spielen konnte.

 

Es muss Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre gewesen sein, als wir einen glühend heißen Sommer hatten. Mensch und Tier duckten sich unter der unsäglichen Hitze, die Flora war braun und verdorrt. Das Wasser wurde knapp und knapper und so sahen sich die Stadtwerke Solingen gezwungen, die Wasserversorgung zu rationieren und nur an den Feuerwachen Trinkwasser an die Haushalte auszugegeben.

 

Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich damals als kleiner „Steppke“ mit raspelkurzem Blondhaar in den frühen Morgenstunden mit meiner Großmutter zur Feuerwehr marschiert bin. Meine Oma hielt mein Kinderhändchen ganz fest, in der anderen Hand trug sie den leeren Wassereimer. Auf dem Rückweg passten wir gut auf, um ja nichts von dem kostbaren Nass zu verschütten.

 

Meine Oma Martha war Hausfrau. Neben ihren Alltagspflichten kümmerte sie sich um ihre beiden jüngsten Enkel, das waren mein gleichaltriger Vetter Rolf und ich. Rolf hatte keine Mutter, ich hatte keinen Vater mehr. Meine Tante (Rolfs Mutter) hatte sich von ihrem Ehemann - also von Oma Marthas Sohn und meinem Onkel – getrennt und war nach Australien ausgewandert. Rolf, ihr Kind, war bei seinem Vater geblieben. Ich lebte allein bei meiner Mutter, denn mein Vater war gestorben, als ich vier Monate alt war. Da meine Mutter und mein Onkel beide berufstätig waren, hatte sich meine Oma bereit erklärt, ihre beiden Enkelkinder tagsüber in ihre Obhut zu nehmen. Ob diese Aufgabe für eine Frau, die immerhin schon Anfang sechzig war, vielleicht zu anstrengend war? Darüber mag man heute spekulieren.

 

Oma Martha und ihr Mann, mein Opa Johann, hatten drei Kinder. Als diese ihr Elternhaus verlassen und eigene Familien gegründet hatten, sorgte meine Oma, außer in ihrem kleinen Fachwerkhäuschen, in der Schuhmacherwerkstatt meines Opas für Sauberkeit und Ordnung. Ich weiß nicht mehr, ob meine Großeltern eine glückliche Ehe geführt hatten, ich weiß nur, dass die beiden sich manchmal stritten. Meine Mutter nannte dieses Streiten „Rollen“, so hat sie mir das später erzählt.

 

An dem Juniabend als Oma Martha starb, muss sie meinen Großvater wohl nachmittags „gerollt“ haben. Nach dem Streit brachte sie ihre beiden Enkel zu Bett und legte sich dann im Wohnzimmer auf‘s Sofa, um sich ein wenig auszuruhen. Mein Großvater saß in der angrenzenden Küche und spielte mit seinem damaligen Untermieter „Räuberskat“.

 

Meine Mutter, so hat sie mir das später erzählt, kam von ihrer Spätschicht aus dem Krankenhaus zurück. Sie schaute zunächst nach, ob die beiden kleinen Kinder schliefen und dann wollte sie einmal in Großvaters Haus nach dem Rechten sehen. Als sie das Wohnzimmer betrat, fand sie ihre Mutter leblos auf der Couch vor. Opa und sein Untermieter saßen nebenan und waren in ihr Kartenspiel vertieft. Sie hatten weder Hilferufe noch irgendwelche anderen Geräusche aus dem Nachbarzimmer vernommen. Umgehend wurde ein Arzt gerufen, der jedoch nur noch Omas Tod, der angeblich durch einen Schlaganfall und Omas viel zu hohem Blutdruck herbeigeführt worden war, attestieren konnte.

 

Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass meine Mutter mich und meinen Cousin weckte und dass sie uns an die Hand nahm und uns ins Wohnzimmer brachte, wir sollten von der Oma Abschied nehmen. Ich kann mich jedoch nicht mehr daran erinnern, ob ich traurig war oder geweint habe, als ich die Oma da so liegen sah. Ich weiß aber noch genau, dass sie ganz friedlich ausgesehen hat, denn man hatte ihr die Augen zugedrückt und ihre Hände auf der Brust gefaltet.

 

Von der Beerdigung existiert in meinen Erinnerungen kein Bild mehr, dafür viele Bilder von Spaziergängen zum Friedhof, die ich dann als Schulkind zusammen mit meinem Opa unternommen hatte.

„Heute gehen wir die Oma besuchen!“, sagte mein Opa und packte Proviant, Schaufelchen und Harke in einen Korb. Sobald es warm wurde, pflanzten wir bunte Stiefmütterchen und gelbe Tagetes auf Omas Grab und in den heißen Sommermonaten gingen wir fast jeden Tag zum Friedhof, um den Blumen Wasser zu geben.

Und an Allerheiligen nahmen wir rote Grablichter mit weißen Kerzen mit, die wir auf Omas Grab aufstellten und anzündeten.

 

Nein, als ich Kind war, bedeutete der Tod nichts Schreckliches für mich! Oma hatte ja so friedlich ausgesehen und sie schlief ja ganz bei uns in der Nähe. Sie freute sich bestimmt über die vielen Blumen, die wir ihr brachten und so liebevoll auf ihrem Bett pflanzten. Und an Allerheiligen freute sich Oma bestimmt auch über die vielen Lichter, die auf ihrem Grab und den anderen Gräbern funkelten.

 

Meine Oma hätte gerne meine Einschulung miterlebt, das hat mir meine Mutter später erzählt. Das war ihr jedoch nicht vergönnt gewesen, denn ich war fünf Jahre alt war, als Oma Martha starb. Ich hätte auch gerne mehr Zeit mit meiner Großmutter verbracht – hatte sie sich doch immer rührend um mich und meinen Cousin gekümmert – aber das Schicksal hatte anders entschieden.

 

Als Opa Johann seine Schusterwerkstatt aufgegeben hatte, zog er zu meiner Mutter und mir ins Haus und verstarb im gesegneten Alter von 84 Jahren. Meine Großeltern väterlicherseits habe ich nie kennengelernt, aber das ist eine andere Geschichte…

 

 

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Mein Cousin und ich in der Küche

meiner Großeltern 

 

 

 

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 Oma Martha, mein Cousin und ich 

Impressum

Texte: Rebekka.Weber
Bildmaterialien: pixelio, FG Richard von Lenzano
Tag der Veröffentlichung: 03.04.2015

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