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Blind Date

Sie stand unter der Dusche und spülte gerade die letzten Reste des Shampoos aus ihren Haaren, als plötzlich das Licht ausging und das Wasser nur noch lauwarm aus dem Duschkopf rann.

„Was ist jetzt schon wieder los?“, seufzte sie genervt und tastete im Dunkeln nach ihrem Handtuch, das sie zum Anwärmen über die Heizung gelegt hatte.

 

Sie trocknete sich notdürftig ab, tappte barfuß durch die Wohnung und betätigte alle Lichtschalter. Nichts! Es tat sich nichts! Mittlerweile hatte sie eine Kerze und Streichhölzer gefunden und öffnete den Sicherungskasten, der sich in der Diele befand. Soweit sie erkennen konnte, war keine Sicherung herausgesprungen. Der Fehler konnte somit nicht in ihrer Wohnung liegen, sondern musste eindeutig woanders zu suchen sein.

 

Es war kurz vor neun am Freitagabend. Der Wintertag selbst war dunkel und trübe gewesen und nun war es auch noch stockdunkel! Das stellte sie fest, als sie ans Fenster trat. Sie wohnte außerhalb vom Stadtzentrum, in einer fast ländlichen Siedlung, und nun sah sie in der Nachbarschaft kein einziges Licht brennen. Aha, dachte sie, dann ist es wohl ein Stromausfall in größerem Ausmaß!

 

Sie hatte die ganze Woche über viel zu tun gehabt und sich auf einen gemütlichen Fernsehabend gefreut, den sie ganz allein genießen wollte. Ihr Freund Jochen hatte nämlich abgesagt. Da sie sich selbst nicht sonderlich für Fußball interessierte, wollte er nach Dienstschluss in seiner Stammkneipe, die in der Innenstadt lag, die Übertragung eines Champions-League-Spiels sehen. Er wollte sich dann erst am Samstag wieder bei ihr melden.

 

Der Stromausfall hielt an, denn nach einer Viertelstunde hatte sich immer noch nichts getan. Was sollte sie nun mit diesem Abend im Dunkeln anfangen? Sie beschloss, ins Bett zu gehen und bei Kerzenlicht zu lesen. Warm eingekuschelt in ihre Flanellbettwäsche konnte sie jedoch vor lauter Müdigkeit kaum die Augen offenhalten. Sie schaffte es gerade noch, die Kerze auszupusten. Irgendwann hörte sie im Halbschlaf, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Das wird Jochen sein, dachte sie, wie schön, dass er doch noch vorbeikommt.

„Ich bin schon im Bett, komm doch zu mir!“, rief sie mit schläfriger Stimme und versank gleich wieder im Land der Träume.

 

Ein paar Minuten später spürte sie, wie sich ein männlicher Körper an sie drängte, Hände ihre Brüste umfassten und sie zärtlich streichelten. Elektrisierende Küsse bedeckten ihren Nacken, glitten immer tiefer und wurden fordernder. Sie wollte sich eigentlich umdrehen, ihn auch anfassen und die Zärtlichkeiten erwidern. Die Position gefiel ihr jedoch so gut, dass sie sich einfach nur wohlig an den anderen Körper schmiegte … und genoss. Es war schon etwas länger her, dass sie mit Jochen das letzte Mal geschlafen hatte, deshalb freute sie sich umso mehr, dass er in dieser Nacht so zärtlich war. Ob er sich ändern wollte? Sie war jedoch zu müde, um weiter darüber nachzudenken oder nachzuforschen. Eng an ihn gekuschelt schlief sie in seinen Armen ein.

 

Am nächsten Morgen sprang um 7:59 das Radio an. Schlaftrunken tastete sie nach dem Ausschaltknopf. Mist! Es war Wochenende, aber sie hatte vergessen, den Radiowecker auszuschalten. Sie schaute auf ihr Handy, das ihr 9:59 auf dem Display entgegenblinkte. Noch etwas benommen rechnete sie nach: Der Stromausfall hatte also zwei Stunden gedauert. Sie drehte sich herum, um zu sehen, ob ihr Freund noch schlief und … und blickte ins Gesicht von Kai, ihrem Nachbarn. Um Gottes Willen! Wie kommt der denn in mein Bett? Erschrocken fuhr sie auf und setzte sich auf die äußerste Bettkante. Habe ich etwa mit ihm geschlafen? Ich dachte doch, es wäre Jochen gewesen, der zu mir ins Bett kam.

 

Ja, sie mochte Kai! Sie hatte mit ihm ein sehr gutes nachbarschaftliches Verhältnis und bisher hatte er sich ihr gegenüber immer korrekt verhalten. Er hatte sogar einen Schlüssel zu ihrer Wohnung und versorgte ihre Blumen, wenn sie auf Geschäftsreisen und in Urlaub war. Ja, sie hatte auch ein wenig mit ihm geflirtet, das gestand sie sich ein, aber sie hatte nie mehr erwartet, schließlich war sie seit fast einem Jahr mit Jochen zusammen.

 

Kai hatte sich inzwischen herumgedreht, ihr den Rücken zugewandt und schlief friedlich weiter. Sie wollte ihn nicht wecken, aber sobald er aufwachte, würde dringender Redebedarf bestehen. Wie konnte er es wagen, in ihr Bett zu steigen und … Sie wagte gar nicht, weiter darüber nachzudenken und ging kurz ins Bad. Als sie ins Wohnzimmer trat, erstarrte sie. Auf der Couch lag Jochen und schnarchte leise! Sein Kopf ruhte auf einem Sofakissen und er hatte eine Wolldecke nachlässig über sich hochgezogen.

 

Nun war sie völlig konfus! Erst Kai in ihrem Bett und jetzt Jochen auf ihrem Sofa! Was hatte das alles zu bedeuten? Wieso war ihr Freund hier? Er wollte doch erst heute, am Samstagabend, vorbeikommen. Zunächst musste sie jedoch Kai aus ihrer Wohnung bugsieren, ehe es zu einem Eklat kam.

 

„He, Kai, los wach‘ auf!“ Sie rüttelte und schüttelte den Mann in ihrem Bett.

„Was ist los?“, fragte er schlaftrunken.

„Was machst du in meinem Bett?“

„Hallo? Du hast mich doch selbst eingeladen.“

„Was habe ich?“

„Du hast doch gerufen, dass du schon im Bett bist und dass ich zu dir kommen soll!“

„Du Idiot! Ich dachte doch, du wärst Jochen!“

„Das hatte ich mir gedacht“, grinste Kai, „aber diese Gelegenheit konnte ich mir nicht entgehen lassen. Hat es dir nicht gefallen?“

„Darüber reden wir gar nicht. Das ist absolut kein Thema. Erst erklärst du mir mal, was du gestern Abend in meiner Wohnung wolltest.“

„Ja, das war so. Als der Stromausfall länger anhielt, habe ich mir Sorgen gemacht. Dann habe ich an deiner Wohnungstür geklopft, die Klingel funktionierte ja nicht, und habe aufgeschlossen. Ich wollte fragen, ob bei dir alles in Ordnung ist, ob du irgendetwas brauchst oder vielleicht Angst hast.“

„Nein, Angst hatte ich letzte Nacht nicht. Aber jetzt bekomme ich langsam Angst, wenn du nicht bald verschwindest. Was meinst du, was passiert, wenn Jochen aufwacht und dich hier findet? Er liegt nämlich im Wohnzimmer auf der Couch und pennt.“

„Ach du, Sch … ja, das wäre natürlich eine äußerst kritische Situation!“

Kai konnte sich jedoch ein Grinsen nicht verkneifen. Er angelte nach seinen Jeans und seinem Hemd und sie konnte nicht anders, als ihm beim Anziehen zuzusehen. Sie musste zugeben, dass er eine Augenweide war, groß und schlank, mit blondem, vom Schlaf zerwuschelten Haar.

„Ich bin ja schon weg“, säuselte er, „tschau, Süße, wir seh’n uns.“

 

Sie ging in die Küche und betätigte alle Schalter. Strom war wieder da! Nach dieser wunderschönen Nacht und den daraus resultierenden Verwirrungen brauchte sie erst einmal einen starken Kaffee. Sie schaltete das Radio ein und erfuhr in den Nachrichten, dass der Stromausfall den südlichen Stadtteil, in dem sie wohnte und Teile der Innenstadt lahmgelegt hatte. Zum Glück war nicht viel passiert, da die meisten Einwohner nicht mehr unterwegs sondern schon zuhause gewesen waren. Als sich der Aufruhr in ihrem Innern etwas gelegt hatte, ging sie ins Schlafzimmer und zog frische Bettwäsche auf. Gegen zwölf rührte sich Jochen und rief nach ihr.

 

„Schön, dass du da bist.“ Sie setzte sich zu ihm aufs Sofa. „Aber wolltest du nicht in deiner Kneipe das Fußballspiel sehen und dann bei dir übernachten?“

„Ja, das hatte ich eigentlich vor, aber Fernsehgucken ging ja nicht. In der Kneipe hatten wir ja auch keinen Strom. Wir haben dann bei Kerzenlicht ein paar Bierchen getrunken und uns unterhalten. Auf einmal hatte ich unglaubliche Sehnsucht nach dir! Ich bin dann mit dem Taxi zu dir gefahren und hab‘ mich auf die Couch gelegt. Ich weiß ja, dass ich schnarche, wenn ich getrunken habe und wollte dich nicht stören. Freust du dich nicht, dass ich da bin?“ Jochen strahlte sie an. „Jetzt können wir uns doch ein ganz langes gemütliches Wochenende machen.“

„Doch, doch, ich freu‘ mich sehr.“

 

Aber das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Obwohl sie mit Jochen nun schon ziemlich lange zusammen war, vermisste sie vieles in ihrer Zweisamkeit. Sie wäre am Wochenende gerne ab und zu ausgegangen, mal ins Kino oder Theater, meistens saßen sie jedoch vor dem Fernseher. Samstags guckten sie Sport und sonntags Tatort. Wenn sie einmal einen schönen Film sehen wollte, maulte Jochen.

 

Und im Bett fühlte sie sich missverstanden. Jochen kam immer viel zu schnell zur Sache und ließ es am Austausch von intensiven Zärtlichkeiten mangeln. Nun gut, in seinem Beruf war er ein Ass und er sah auch gut aus. Sie gab zu, dass sie dies ein wenig geblendet hatte, als sie ihn kennenlernte. Aber inzwischen war ihre Beziehung an einem Punkt angelangt, an dem sie sich oft fragte, ob sie mit diesem Mann tatsächlich zusammenbleiben wollte.

 

* * *

 

„Was hast du? Mit deinem Nachbarn geschlafen und gedacht es wäre Jochen?“ Ungläubig blickte ihre Freundin sie an. „Wie konnte das denn passieren?“

Es war am kommenden Montag um die Mittagszeit. Die beiden Frauen hatten sich in ihrem Lieblingsrestaurant getroffen und nippten an ihrem Aperitif.

„Ja, ich weiß, es klingt unwahrscheinlich, aber es war tatsächlich so.“

Und nun erzählte sie Marie die ganze Geschichte, von dem Stromausfall, dass Kai einen Wohnungsschlüssel von ihr besaß und dass sie ihn eigentlich unglaublich nett fand.

„Was soll ich jetzt nur tun?“

„Hm … hat Kai denn eine Freundin?“

„Soviel ich weiß, nicht.“

„Tja … ich wollte es dir eigentlich nicht sagen, aber ich hab‘ Jochen neulich mit seiner Ex gesehen.“

"Ich weiß, dass sie noch Kontakt haben."

„Sie schienen aber wieder sehr vertraut miteinander zu sein.“

„Warum hast du mir das nicht gleich erzählt?“

„Na, ich wollte dich halt nicht beunruhigen.“

„So, so, aber vielen Dank, dass du mich jetzt aufgeklärt hast. Ich glaube, ich muss dringend mit Jochen reden.“

„Hältst du mich auf dem Laufenden?“

„Ja, klar!“

Die Freundinnen küssten sich zum Abschied auf die Wangen und versprachen, bald miteinander zu telefonieren.

 

Als sie am Abend nach Hause kam, fand sie einen Brief vor, den Kai unter der Tür durchgeschoben hatte.

Ihr Herz klopfte wie wild, als sie ihn öffnete und las: „Ich mag dich sehr. Du bist unglaublich süß, nicht nur im Bett. In Liebe, dein Kai.“

 

Was soll ich bloß tun? fragte sie sich. Fremdgehen war ihr verpönt. Aber Tatsache war nun einmal, dass sie Jochen mit Kai betrogen hatte. Dafür schämte sie sich und hatte Gewissensbisse. Sie hoffte, dass sie irgendwie aus diesem Schlamassel wieder herauskam, allerdings wusste sie noch nicht wie. Und mit Jochen Klartext zu reden und ihren Seitensprung zu beichten, traute sie sich auch nicht und so schob sie eine Aussprache mit ihm immer weiter hinaus.

 

In den nächsten Wochen hatte Jochen jedoch immer seltener Zeit für sie. Es kam sogar vor, dass sie an manchen Wochenenden gar nicht mehr zusammen waren. Dafür war Kai umso aufmerksamer. Mal lag ein Briefchen von ihm in ihrer Diele, mal steckte eine Rose am Türschloss. An einem Abend klingelte er höflich und als sie ihm öffnete, hielt er eine Flasche Rotwein hoch und meinte, dass sie reden müssten.

„Ja, Kai, ich mag dich, sogar sehr, aber ich bin immer noch mit Jochen zusammen. Bitte versteh doch, ich fange nichts mit zwei Männern an.“

Kai kniete sich vor ihr nieder, nahm zärtlich ihre Hände und küsste sie.

„Ich seh‘ doch, dass du mit ihm nicht glücklich bist. Bitte verlass ihn und komm‘ zu mir!“

Sie schüttelte den Kopf.

„Wie lange soll ich auf denn noch dich warten?“, bittend sah er sie an.

Sie wäre am liebsten in seine Arme gesunken, konnte sich aber gerade noch zurückhalten. „Ich weiß es nicht. Bitte geh‘ wieder.“

 

Am nächsten Abend kam Jochen vorbei. Sie lotse ihn ins Wohnzimmer und bot ihm etwas zu trinken an.

„Du besuchst mich immer seltener und am vergangenen Wochenende, als wir verabredet waren, hast du auch kurzfristig abgesagt“, eröffnete sie das Gespräch.

„Ja, das stimmt. Und ich muss dir auch etwas sagen, aber ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll.“

„Bitte schieß los!“

„Ich hoffe, dass ich dir jetzt nicht weh tue. Aber in den letzten Wochen war ich hin- und hergerissen zwischen dir und meiner Ex.“

„Echt jetzt?“ Siedend heiß fiel ihr wieder ein, was Marie beobachtet und ihr erzählt hatte.

„Ja, ich treffe mich wieder mit ihr. Wir verstehen uns besser denn je.“

„Das heißt, du möchtest wieder mit ihr zusammen sein?“

„Ja! Bist du mir nun böse?“

„Nein“, sie schüttelte den Kopf. „Ich wünsche euch viel Glück.“

 

Sie brachte Jochen noch zur Tür. Als er gegangen war, atmete sie auf.

"Puh ... das ging ja einfacher als gedacht!"

 

 

Am kommenden Samstag lag Kai wieder in ihrem Bett. Vorher hatte er Kerzen angezündet und leise Musik angestellt. Sie duschte … diesmal, ohne dass der Strom ausfiel. Als sie nur mit einem Bademantel bekleidet ins Schlafzimmer trat, leuchteten seine Augen auf.

„Bitte lass doch dieses überflüssige Bekleidungsstück fallen! Ich möchte dich einmal so richtig ansehen, bevor du zu mir kommst. Als wir das erste Mal zusammen geschlafen haben, war es ja so dunkel ...“

 

„Stimmt,“, lachte sie und ließ den Bademantel langsam von ihren Schultern gleiten …

 

* * *

Impressum

Texte: Rebekka Weber
Bildmaterialien: pixabay, for common use
Lektorat: Rebekka Weber
Tag der Veröffentlichung: 06.02.2015

Alle Rechte vorbehalten

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