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Lieber Alois,

 

es ist ein freundlicher Herbstnachmittag und so warm, dass ich mich mit meinen Unterlagen, Familienalben und Fotos nach draußen auf den Balkon gesetzt habe.

 

Hier ist nun mein Brief, den ich Dir schon seit langem schreiben wollte und viele Jahre vor mir hergeschoben habe. Es gibt so vieles, dass ich Dich fragen möchte und so vieles, über das wir reden müssten! Obwohl ich weiß, dass ich nie eine Antwort von Dir erhalten werde, möchte ich Dir heute doch schreiben und hoffen, dass Du mir irgendwie ein Zeichen gibst und sei es auch nur ein klitzekleines…

 

Ich habe Dich ja persönlich nie kennengelernt und es fällt mir schwer, Dich mit Vater anzureden, obwohl Du es natürlich bist. Deshalb verzeih, dass ich meinen Brief mit ‚Lieber Alois‘ beginne. Charlotte, meine Mutter, konnte mir nur wenig von Dir erzählen. Du hattest ja aus Deinem Vorleben ein großes Geheimnis gemacht. Aber sie hat Dich geliebt und ein Kind von Dir ausgetragen, obwohl sie mit Dir nicht verheiratet war. Gut, dass sie es gemacht hat, denn sonst wäre ich heute nicht auf der Welt!

 

Leider besitze ich nur zwei Fotos von Dir: Eins zeigt Dich als schmucken Soldaten im Alter von circa 40 Jahren. Es wurde im 2. Weltkrieg aufgenommen. Auf dem zweiten Foto bist Du auf der Hochzeit meines Onkels zu sehen. Das war ein Jahr vor Deinem Tode. Du trägst einen modischen Anzug, blickst aber nicht in die Kamera, sondern hast die Augen niedergeschlagen.

 

Wenn ich Dich so auf den Fotos betrachte, kann ich sagen, dass Du ein gut aussehender Mann warst: groß, schlank und blond, mit einer markanten Nase. Als ich noch ein Kind war, hab‘ ich Dich immer idealisiert und Dich auf einen Sockel gestellt. Später, nach vielen Jahren, als ich meine Halbgeschwister, die Du in H. mit Deiner Ehefrau gezeugt und in die Welt gesetzt hast, kennengelernt habe, haben diese schnell versucht, den Sockel zu demontieren und Dich von ihm herunterzuholen. Sicher haben sie in vielen Punkten recht, trotzdem konnten sie nicht das Bild, das ich mir von Dir gemacht hatte, völlig zerstören.

 

Und nun, reden wir doch einmal Klartext…

 

Was ich Dich schon immer fragen wollte: Was hat Dich dazu bewogen, Deine Familie in H. zu verlassen und in meiner Geburtsstadt still und heimlich ein neues Leben anzufangen? Hattest Du keine Skrupel gehabt, Deine Ehefrau und die Kinder zu verlassen? Bitte missversteh‘ mich nicht, ich mache Dir keine Vorwürfe - das würde ich mir nicht anmaßen – ich würde nur gerne den Grund wissen.

 

Zur Sache... Deine ältesten Kinder waren schon erwachsen, aber die jüngsten noch schulpflichtig oder in der Lehre, wie ich bei meinen Nachforschungen erfahren habe. Deine Familie wusste ja gar nicht, wo Du warst und sie hat erst durch die Nachricht von Deinem Tode erfahren, wo Du Deine letzten Lebensjahre verbracht hattest. Deine Frau und die Kinder hatten sich bestimmt große Sorgen gemacht. Und Charlotte ist als allen Wolken gefallen, als sie auf dem Amt erfahren hat, dass du ja gar nicht geschieden warst. Über deine Familienverhältnisse hattest du meine Mutter ja immer im Unklaren gelassen.

 

Marje, Deine älteste Tochter, die ich erst kennengelernt habe, als ich 33 Jahre alt war, hat mir erzählt, dass Du, als Du aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause kamst, sehr krank ausgesehen hast. Ich habe sie gefragt, ob nicht alle Männer, die damals heimkehrten, müde und krank aussahen? Sicher, meinte sie, aber bei Dir kam noch hinzu, dass Du schon von Deiner Krebserkrankung gezeichnet gewesen wärst. Marje erzählte auch, dass Du Dich bei Deiner Rückkehr sehr verändert hattest, aus dem lebenslustigen Mann, der Du einmal warst, wäre ein stiller und verschlossener Mensch geworden.

 

Meiner Mutter hast Du dann später erzählt, als ihr euch besser kanntet und schon miteinander vertraut wart, dass Du im Krieg als Aufseher im KZ Dachau gearbeitet hattest. Was magst Du dort alles erlebt und beobachtet haben? Du warst doch kein Nazi, sondern nur ein Mitläufer, obwohl das schon schlimm genug war. Mir treten immer noch Tränen in die Augen, wenn ich heute daran denke, was Du alles mitgemacht haben musst.

 

Charlotte erzählte mir, dass Du Menschenansammlungen scheutest und räumliche Enge nur schwer ertragen konntest. Das war ihr aufgefallen, als ihr zusammen wart. Obwohl Du Deine Familie in H. verlassen hattest und Du durch Deine furchtbaren Kriegserlebnisse sicherlich traumatisiert warst, hast Du mit Charlotte noch ein Kind – mich – gezeugt. Dein plötzlicher Tod mit nur 52 Jahren hat Dich jedoch von meiner Mutter und mir fortgerissen. Du hattest einen Gehirntumor, bist auf der Straße umgefallen und dann kurz danach im Krankenhaus gestorben.

 

So wurde ich mit nur vier Monaten Halbwaise. Charlotte hat zwar – kurz bevor ich eingeschult wurde – wieder geheiratet, war mit meinem Stiefvater aber nur kurze Zeit zusammen, zwei, vielleicht auch drei Jahre. Zu ihm hab‘ ich nie eine richtige Beziehung aufgebaut. Eines Tages ist er vom Zigarettenholen nicht wiedergekommen.

 

Trotz allem was passiert war – und da können meine Halbgeschwister in H. noch so schlecht über dich reden – hätte ich Dich wirklich gerne als meinen richtigen Vater gehabt, als einen, der sich um mich kümmert und mich lieb hat. Das möchte ich Dir ganz ausdrücklich versichern.

 

Aber halt… jetzt kommen mir doch wieder Zweifel und ich frage mich, ob Du nicht doch eines Tages auch von Charlotte und mir weggegangen wärst und uns im Stich gelassen hättest, genauso wie Deine Familie in H.? Ich mag mir das gar nicht vorstellen und im Grunde meines Herzens könnte ich es auch gar nicht glauben. Du wirst Deine Gründe gehabt haben, Deine Heimatstadt zu verlassen, um Dir woanders eine neue Existenz aufzubauen.

 

Obwohl Du mir im Leben gefehlt hast, bin ich doch auch vaterlos meinen Weg gegangen. Charlotte, meine Mutter und Deine neue Lebensgefährtin, war ja eine starke Frau, die mich immer gefördert hat. Aber wäre mein Leben anders verlaufen, wenn Du mich begleitet hättest? Sicher, dessen bin ich mir ganz bewusst. Bestimmt hätte ich meine Freunde und Männer an Dir gemessen und Dich um Deine Meinung zu ihnen gefragt. Wahrscheinlich hätte ich mir dann manche Enttäuschung erspart.

 

Leider gibt es kein einziges Foto, das Dich mit mir zusammen zeigt. Ich war ja erst vier Monate alt, als Du starbst. Wenn ich jetzt wieder die wenigen Fotos betrachte, auf denen Du zu sehen bist, stelle ich fest, dass ich Dir sehr ähnlich sehe: Wir haben das gleiche helle, glatte Haar, die große Nase mit den ausgeprägten Nasolabialfalten und die tiefliegenden Augen mit den Schlupflidern. Die Augenform hast Du mir und einigen Deiner Kinder in H. vererbt. Meine drei Halbbrüder, die meine Mutter in ihrer ersten Ehe bekommen hat, und sie selbst, haben ganz andere Augen.

 

Es war ein sehr bewegender Moment, als ich Marje, Deiner ältesten Tochter und meiner Halbschwester, das erste Mal gegenüber stand und sie mich mit den gleichen Augen, wie du sie uns vererbt hast, anschaute. Ich erinnere mich daran, dass ich damals sehr bewegt war und geweint habe. Auch Marje war sehr gerührt. Sie war übrigens das einzige deiner Kinder, das manchmal an mich gedacht und sich gefragt hatte, was wohl aus dem kleinen Mädchen geworden war, das der Vater noch kurz vor seinem Tode gezeugt hatte. Die anderen haben ja kaum einen Gedanken an mich verschwendet und mich nicht gerade mit offenen Armen empfangen, als ich nach so vielen Jahren in H. auftauchte.

 

Nun, ich bin das letzte Kind, das Du gezeugt hast – soweit uns bekannt – und meine Halbgeschwister in H. meinten, als wir uns das erste Mal trafen, dass ich das Kind bin, das Dir am ähnlichsten sieht. Es ist so traurig, dass wir dies nie überprüfen konnten, da Du ja so früh gestorben bist.

 

Trotz der vielen Unkenrufe seitens meiner Halbgeschwister in H., die ja kein gutes Haar an dir lassen, weiß ich in meinem Herzen, dass Du Dich ganz liebevoll um mich gekümmert hättest, da können die anderen noch so oft sagen, dass Du ein Hallodri warst und gegenüber deiner Familie verantwortungslos gehandelt hast.

 

Aber vielleicht hätte ich dir ja auch – als Dein letztes Kind – Halt gegeben? Vielleicht wärst Du ja auch bei Charlotte und mir geblieben, wenn Dich der Tod nicht so früh ereilt hätte?

 

Ich lasse mir das schöne Bild, das ich mir von Dir gemalt habe, nicht nehmen, auch wenn es im Laufe der Jahre ein paar Kratzer bekommen hat. Du bleibst für mich immer der Vater, der mich lieb hatte, auch wenn Du mir dies nur für eine ganz kurze Zeit zeigen konntest.

 

Und… das ist meine Meinung... jeder Mensch hat nur ein Leben und niemand kann von ihm verlangen, dass er an einem Ort bleiben muss, an dem er unglücklich ist, geschweige denn, dass er aus Pflichtgefühl eine unerträgliche Situation bis zu seinem Lebensende ertragen soll.

 

Und… vielleicht wusstest Du ja schon, als Du aus H. weggingst, dass Deine Zeit bald abgelaufen sein würde? Vielleicht wolltest Du ja noch einmal die Liebe suchen, noch einmal richtig glücklich sein… Ich könnte Dich verstehen…

 

Es grüßt Dich ganz lieb Deine jüngste Tochter Rebekka 

 

* * *

 

 

 Alois auf der Kirchentreppe, rechts von ihm meine Oma, links mein Opa, hinter Opa meine Mutter Charlotte

Impressum

Texte: Rebekka Weber
Bildmaterialien: privat
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
*** Mein Beitrag zum 50. Wettbewerb der Bio-Gruppe, Oktober 2014 ***

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