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Meine liebe Charlotte,

 

ich wähle bewusst diese Anrede, weil ich weiß, dass du dich darüber freuen wirst. Hast du dich zu Lebzeiten nicht oft darüber beklagt, dass alle Welt dich nur „Lotte“ oder „Lottchen“ nannte? Sogar in deinem Personalausweis war als Vornamen „Lotte“ eingetragen, obwohl du doch zwei so schöne, wohlklingende Vornamen hast.

 

Vielleicht tröstet es dich ein wenig, wenn ich dir berichte, dass heutzutage wieder sehr viele Mädchen „Charlotte“ oder „Carlotta“ gerufen werden? Diese Vornamen gehören mittlerweile wieder zu den beliebtesten, aber das hast du vielleicht schon da oben im Himmel gehört.

 

Du weißt sicherlich auch schon, dass Werner, dein zweiter Sohn, vergangene Woche nach langer schwerer Herzkrankheit gestorben ist, elf Jahre nach deinem Tod. Ich erinnere mich, dass du einmal sagtest: „Das Schlimmste, was es für eine Mutter gibt, ist es, ein eigenes Kind zu überleben und es beerdigen zu müssen.“ Solch ein schweres Schicksal ist dir – dem lieben Gott sei dafür gedankt – erspart geblieben, aber du kannst dir vorstellen, dass Dietmar, Kurt und ich, jetzt sehr traurig sind und erst einmal damit zurechtkommen müssen, dass Werner nicht mehr in unserer Mitte weilt. Er war ja noch nicht so alt und hätte noch zehn, wenn nicht zwanzig Jahre leben können. Morgen ist die Trauerfeier und Beerdigung.

 

Werner hat in seinem Testament verfügt, dass er - genau wie du - verbrannt und dann anonym bestattet werden möchte. Ich ergreife die Gelegenheit, dir zu sagen, dass ich bei deinem Tod über deinen letzten Wunsch sehr betroffen war. Als Kind bin ich immer gerne mit Opa zu Omas Grab gegangen und wir haben es zusammen gepflegt. Du kannst sicher sein, dass ich mich auch um dein Grab gekümmert hätte, aber das wolltest du ja nicht. Ansonsten kann ich dir berichten, dass es allen anderen in der Familie gutgeht, von kleineren Wehwehchen abgesehen.

 

Und dann möchte ich dir etwas berichten, worüber du dich sicherlich sehr freuen wirst. Vielleicht hast du es auch schon von der Wolke, auf der du sitzt, beobachtet: Vor einiger Zeit habe ich mit der Schriftstellerei angefangen und es macht mir großen Spaß. Ich weiß, dass du gerne auch geschrieben und vor allem deine Memoiren der Nachwelt hinterlassen hättest. Du hast ja viel erlebt, warst sehr belesen und konntest dich schriftlich gut ausdrücken. Als wir nach deinem Tod deine Wohnung leerräumten, habe ich ein Heft mit Notizen von dir gefunden. Das war eine große Überraschung! Denn als ich darin blätterte, sah ich, dass du doch angefangen hattest, deine Erinnerungen aufzuschreiben. Wortgetreu gebe ich nun wieder:

 

„Geboren wurde ich, Charlotte Elisabeth, am 27.10.1918, noch eben im 1. Weltkrieg, der dann bald zu Ende ging. Ich hatte eine vier-Jahre-ältere Schwester namens Maria Ida. Mit ihr habe ich mich nie gut verstanden. Sie ärgerte mich immer sehr und hatte einen Höllenspaß, wenn ich weinte. Heute denke ich, sie war als Kind sauer, weil ich ausgerechnet an ihrem vierten Geburtstag zur Welt kam. Ich war also ein Kriegskind, in Vaters letztem Urlaub gezeugt. Dem entsprechend war ich auch mager und dünn. Ein Kriegskamerad meines Vaters, der meiner Mutter Grüße aus dem Feld überbrachte, meinte, als er mich kurz nach der Geburt sah: „Die Kleine sieht aus wie eine nasse Katze.“ Da ich bei der Geburt sehr klein war, passte ich gerade in eine Zigarrenkiste. 

 

Später habe ich sehr aufgeholt. Heute mit 80 Jahren bin ich immer noch stolze 1,74 m groß und wiege 67 Kilo. Von der Kindheit habe ich nicht viel in Erinnerung. Ich weiß nur, als mein Vater als Gefreiter aus dem Feld nach Hause kam, dass wir in ein kleines bergisches Fachwerkhaus gezogen sind. Einmal machten wir einen Ausflug nach Köln zum Zoo. Vierjährig meinte ich im Schatten des ehrwürdigen Domes: „Ach, lass uns doch nach Hause in die Küche gehen.“ Mein Zuhause war mir schon als Kleinkind sehr wichtig. Mit sechs Jahren kam ich in die katholische Volksschule. Da ich immer gerne geredet habe – auch heute noch – konnte ich es nicht lassen, mit meiner Banknachbarin zu quatschen. Die Konsequenz war hart. Ich musste nach vorne zu Lehrer Schmitz kommen und bekam für den kleinen Schwatz mit einem Rohrstock 5 Stockhiebe in die rechte Hand. Das hat sehr weh getan. Aber ich habe nicht geweint….“

 

Meine liebe Charlotte, hier brechen deine Aufzeichnungen leider ab, was ich unglaublich schade finde. Was hältst du nun davon, wenn ich jetzt weiter schreibe? Wir hatten ja immer ein enges Mutter-Tochter-Verhältnis. Du hattest mir viel aus deinem Leben erzählt und wir haben ja auch einiges zusammen erlebt. Wenn ich etwas nicht richtig wiedergebe oder wenn ich etwas vergessen haben sollte, kannst du mir ja eine „himmlische“ Nachricht senden.

 

Zunächst ergänze ich zu deinem Elternhaus und deiner Kindheit:

 

Geboren wurdest du in der Klingenstadt als zweites Kind des Schuhmachers Johann Josef und seiner aus Pommern stammenden Ehefrau Martha. Mit deiner älteren Schwester Maria hast du dich nicht gut verstanden, das hast du ja schon erwähnt. Als du zehn Jahre alt warst, verlorst du deine Rolle als Nesthäkchen, denn dein Bruder Hans – der lang ersehnte Stammhalter – kam auf die Welt.  Du warst von da an das Kind in der Mitte - das Sandwich-Kind, wie man es heutzutage nennen würde – das nicht die gleiche Aufmerksamkeit von den Eltern wie das älteste oder jüngste Kind bekam. Wenn Maria dich wieder einmal ärgerte, hast du dich in deine Bücherwelt verkrochen. Du hast ja als Kind schon viel gelesen, warst auch in der Schule gut.

 

Du hättest gerne weiter gelernt oder sogar studiert, musstest jedoch nach deinem Volksschulabschluss mit 14 Jahren arbeiten gehen, denn dein Vater verdiente als Schuhmacher nicht viel. Zunächst kamst du bei einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie als Haushaltshilfe unter. Die Frau des Hauses war sehr pingelig und hat immer genau kontrolliert, ob du auch alles gründlich gemacht hast. Einmal hattest du vergessen, die untere Tischplatte des großen Wohnzimmertischs zu putzen. Du bekamst einen Anpfiff, obwohl die obere Tischplatte vor Sauberkeit nur so glänzte. Mit sechzehn gingst du in eine Metallwarenfabrik arbeiten und hast dort am Fließband gestanden.

 

Mit neunzehn Jahren hattest du deinen ersten Freund – Karl mit Namen – ein großer schmucker Kerl mit blonden Haaren und blauen Augen. Leider wurdest du von deinen Eltern nicht aufgeklärt, stattdessen einmal auf der Haustreppe von deiner Mutter mit dem Handfeger in der Hand empfangen und verhauen, als du vom Tanzen spät nach Hause kamst. Du weißt nicht, wie es passieren konnte, aber ein paar Monate später warst du schwanger, musstest heiraten und bekamst – gerade zwanzig geworden – dein erstes Kind, meinen Bruder Dietmar.

 

Ein Jahr nach Dietmars Geburt brach der 2. Weltkrieg aus und Karl, der bei der SA im Dienst stand, musste auch an die Front. Jedes Mal, wenn dein Mann Urlaub hatte und nach Hause kam, warst du wieder schwanger. „Wir hatten ja keine Verhütungsmittel“, hast du mir erzählt, „und durften nichts dagegen tun. Hitler wollte ja ein großes Volk.“ So wurden Werner 1941 und Kurt 1943 geboren. „Und wenn ich alle Kinder, mit denen ich schwanger war, bekommen hätte, hätte ich eine halbe Fußballmannschaft gehabt. Ich hatte zum Glück – so traurig das auch klingen mag – Fehlgeburten. Ich weiß nicht, wie ich noch mehr Kinder in den Kriegsjahren hätte durchbringen sollen. Solingen hatte ja schwer unter den Bombenangriffen zu leiden. Ich riss die schlafenden Buben aus dem Bett, eilte mit ihnen in den überfüllten Keller und suchte dort nach einem Plätzchen, wo sie weiterschlafen konnten. Zu essen hatten wir manchmal nur einen halben Laib Brot in der Woche, und das sollte für Kinder, die sich im Wachstum befanden, reichen. Gut ging es uns nur mit Schuhen, da Vater Schuhmacher war. Er konnte immer Schuhe ausbessern und aus alten Latschen oder Resten neues Schuhwerk zusammenflicken.“

 

Da du sehr groß, schlank und blond warst, wurdest du einmal von einem Nazi angesprochen. Ob du dich nicht für den Lebensborn zur Verfügung stellen wolltest, um – heute würde man sagen als „Gebärmaschine“ - mitzuhelfen, die  „Geburtenrate arischer“ Kinder zu erhöhen? Ich weiß nicht mehr, wie du aus dieser Sache herausgekommen bist, aber du wurdest – dem Himmel sei Dank - nicht zu solchen Dienstleistungen gezwungen.

 

Etwas sehr schlimmes ist dir dann gegen Ende des Krieges passiert, als die Russen einmarschierten: Du wurdest von einem Russen vergewaltigt. Dabei hattest du noch Glück im Unglück, denn er hat dich weder geschlagen noch misshandelt, dir auch kein Kind gemacht, aber eine Syphilis als Andenken hinterlassen.

 

Karl, dein erster Mann und Vater meiner drei Brüder, hat nach dem Krieg noch ein paar Jahre mit dir und den Kindern zusammengelebt. Dann hat er sich von dir getrennt und eine jüngere Frau geheiratet, mit der er dann fünf weitere Kinder in die Welt gesetzt hat. Du warst eine Zeitlang allein und hast dann durch eine Kontaktanzeige meinen leiblichen Vater kennengelernt. Als du von ihm schwanger wurdest, hast du dich sehr gefreut, denn du wolltest gerne noch eine Tochter haben. Diesen Wunsch hat dir der liebe Gott erfüllt.

 

Mein leiblicher Vater war jedoch schwer krank, er hatte einen Hirntumor und ist vier Monate nach meiner Geburt auf der Straße tot umgefallen. Nach diesem schweren Schock traf dich der nächste, als du zum Jugendamt gingst, um für mich Halbwaisenrente zu beantragen. Es stellte sich nämlich heraus, dass mein Vater noch verheiratet gewesen war und Frau und Kinder in Süddeutschland hatte sitzen lassen. Später habe ich diese Familie ja gesucht und kennengelernt, aber das ist eine lange, andere Geschichte.

 

Ich bekam dann aber doch einen Stiefvater, einen Mann, den du im Krankenhaus während deiner Arbeit kennengelernt hattest. Er hat mich sogar adoptiert. Ich weiß allerdings nicht mehr, was zwischen euch vorgefallen war, aber eines Tages war er verschwunden, sozusagen „vom Zigarettenholen nicht wiedergekommen.“ Jahre später bekamen wir dann eine Nachricht, dass er in einem Heim in Hemer verstorben war.

 

Wie ging es dann mit dir weiter? In dieser Wohlstandsgesellschaft, die sich nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland entwickelte? Zunächst wurdest du dicker und dicker! Du hattest in deiner Wohnung – Wohnraum war ja noch immer knapp - Untermieter, die einen Süßigkeitenhandel betrieben und abends oft Bruchschokolade mitbrachten, die du dann aufgegessen hast. Und durch diese Futterei nahmst du immer mehr zu und wogst eines Tages zwei Zentner! Später hast du wieder abgenommen, warst jahrelang wieder rank und schlank und sogar als Rentnerin hattest du immer noch Normalgewicht. Eine deiner Schwiegertöchter hat dich von den Vorzügen der Vollwertkost und vom Heilfasten überzeugt. Bis zu deinem Tode hast du sehr gesund gelebt, hast ja auch nie geraucht und nur bei Festivitäten ein Gläschen getrunken.

 

Du warst eine Frau, die sich im Leben durchgebissen hat! Das habe ich immer sehr an dir bewundert. Du hattest kein reiches Elternhaus, Pech mit den Männern, hattest aber vier Kinder und sechs Enkelkinder, die dir zu Lebzeiten immer sehr nahe standen. Auch beruflich hast du dich hochgearbeitet: Mit Anfang 50 sogar noch eine Ausbildung als Altenpflegerin gemacht. Mit 63 bist du dann in Rente gegangen und finanziell ging es dir immer gut.

 

Wofür ich dir auch Respekt zolle, ist dass du immer dafür gesorgt hast, dass es mir als Kind nie an etwas mangelte. Gut, wir waren nicht sehr reich, aber ich war immer adrett gekleidet und wenn Klassenfahrten oder ähnliches anstanden, konntest du das immer finanzieren. Durch deine Vollzeittätigkeit als Stationshilfe im Städtischen Krankenhaus und durch deinen Schichtdienst hast du mich früh zur Selbständigkeit erzogen. Ich hab‘ immer meine Hausaufgaben allein gemacht und wenn ich nachmittags draußen auf der Straße gespielt hatte, kam ich immer pünktlich zum Abendessen nach Hause.

 

Du wolltest mir ein anderes Elternhaus bieten, als du es hattest. Im Gegensatz zu deiner Kindheit sollte ich frei und unbeschwert aufwachsen. Deshalb durfte ich, solange ich wollte, zur Schule gehen und studieren, durfte immer meine Freunde mit nach Hause bringen, egal welche Hautfarbe sie hatten. Und über Sex haben wir immer ganz offen gesprochen.

 

Ganz klasse fand ich auch, dass du immer so aufgeschlossen warst. Du hast dich für alle meine Interessen interessiert und sogar mit Begeisterung jede Musik angehört, die ich zuhause laufen ließ, hast nie verlangt, dass ich die Lautstärke dämpfe. Auch als ich nicht mehr zuhause wohnte, hatten wir weiterhin engen Kontakt und manches Mal hast du mir aus der Patsche geholfen.

 

Deinen 80. Geburtstag wollte die ganze Familie groß feiern, ein paar Tage vorher bist du leider gestürzt und hast dir einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen. Viele ältere Menschen können nach solch einem Bruch nicht mehr richtig laufen, manche sind sogar danach an einen Rollstuhl gefesselt, aber du hattest es tatsächlich geschafft und wieder gehen gelernt und das sogar ohne Krücken. Den runden Geburtstag haben wir dann im kommenden Jahr groß nachgefeiert.

 

Mit 83 Jahren bekamst du auf einmal starke Schmerzen im Unterleib und wurdest mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht. Die dortigen Ärzte konnten zunächst keine klare Diagnose stellen und schickten dich wieder nach Hause. Du hattest jedoch wohl geahnt, dass es auf dein Ende zuging, bist selbst beim Bestatter gewesen, hast alles mit ihm besprochen und dein Testament aufgesetzt. Ein paar Monate später warst du wieder im Krankenhaus und solltest es nicht wieder lebend verlassen: Bauchspeicheldrüsenkrebs ist nicht heilbar.

 

In deinem Testament steht, ich zitiere: „Dies ist mein letzter Wille, nach einem schönen, erfüllten Leben. Meine Kinder haben mir wenig Kummer gemacht und die Enkelkinder nur Freude.“

 

Dann hast du darin ganz praktische Anweisungen gegeben, wie deine Beerdigung ablaufen und wie deine Wohnung leergeräumt werden soll, auch über die Verwendung deiner Sachen hast du dir Gedanken gemacht. Dafür zolle ich dir wirklich Respekt, denn viele Menschen schieben ja den Gedanken an ihren Tod weit von sich und wollen sich gar nicht damit befassen. Aber du warst ja schon immer praktisch veranlagt.

 

Ich hoffe, dass dir deine Beerdigung gefallen hat! Mochtest du das Lied von Elvis Presley, das wir für dich ausgesucht und auf der Orgel haben spielen lassen?

 

Vielleicht gibst du einmal ein Zeichen…

 

Ich sende dir ganz liebe herzliche Grüße

 

Deine Tochter Rebekka

 

P.S. Ich denke sehr oft an dich und danke dir noch einmal für die schöne Zeit, die wir zusammen verbracht haben.

 

 

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Impressum

Texte: Rebekka Weber
Bildmaterialien: Rebekka Weber, Charlotte mit ihrer Schwester Maria
Tag der Veröffentlichung: 06.06.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
*** für meine Mutter ***

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