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Monsun

Erschreckt fahre ich aus dem Schlaf auf! Ein lautes Krachen hat mich geweckt. Schlaftrunken versuche ich, durch die Maschen des Moskitonetzes, das mich wie ein Zelt umhüllt, etwas zu erkennen. Draußen scheint der Tropensturm mit aller Macht zu wüten, aber im Haus selbst ist es ruhig und stockdunkel. Bin ich etwa die Einzige, die das Tosen dieses Unwetters registriert hat und sich mittlerweile große Sorgen macht? Da wieder ein Krachen! Es hört sich an, als wenn Holz splittert. Hoffentlich hält unser Haus stand! Was passiert mit uns, wenn unser Dach weggerissen wird? Ich versuche mich zu beruhigen, sage mir, dass das Haus stabil ist, es ist mit dicken Mauern versehen, keine Bambus- oder Strandhütte.

 

Auf einmal bekomme ich doch panische Angst und beschließe, die anderen Familienmitglieder zu wecken. Ich betrachte meinen kleinen, dreijährigen Sohn, der immer noch friedlich schlafend neben mir liegt und in tiefen Träumen versunken scheint. Glückliches Kind! Es bekommt nichts von den Sorgen seiner Mutter mit. Ich öffne das Moskitonetz, schwinge meine Beine aus dem Bett und betätige den Lichtschalter. Nichts! Kein Strom! Im Dunkeln versuche ich mich zurechtzufinden…

 

Der zehnstündige Nachtflug war wieder sehr anstrengend gewesen, das heißt, er war es für mich, nicht für meinen Sohn und auch nicht für meinen Mann. Die beiden können überall und sogar im Flugzeug schlafen, ich kann das leider nicht. Und vor allem nicht, wenn das Licht in den Gängen nicht abgedunkelt wird und non-stop Actionfilme gezeigt werden. Am Morgen sind wir kurz nach acht heil und glücklich in Colombo gelandet. Die schwüle, heiße Luft, die der in einem Treibhaus gleicht, empfängt mich wie eine dicke Wand. Noch während wir in der Warteschlange vor der Passkontrolle stehen, ziehe ich Jeans und Sweatshirt aus. Ja, nur in Shorts und T-Shirt, die ich wohlweislich druntergezogen hatte, kann ich es mit den tropischen Temperaturen aufnehmen. Nachdem wir die Zollkontrolle passiert, unsere Koffer und zahlreichen Gepäckstücke vom Fließband eingesammelt haben, betreten wir die gutgekühlte Wartehalle. Welche Wohltat! Mein Schwiegervater und mein Schwager, die dort schon ungeduldig gewartet haben, erspähen uns sogleich und schließen das „heimgekehrte“ Familienmitglied, nebst Frau und Kind, überglücklich in die Arme.

 

Wir klettern in den Van, verstauen Körper, Gliedmaßen und Gepäck und fahren los, Richtung Süden der Insel.

Als wir mitten in der Hauptstadt in einem Stau stehen, macht sich mein Sohn bemerkbar: „Mama, mir ist schlecht!“

Ich schaffe es gerade noch, eine Plastiktüte aus meiner Handtasche zu ziehen, die ich für Notfälle immer dabei habe. Mein Sohn spuckt sich aus und döst erleichtert wieder ein. Um halb zwölf trudeln wir bei Auntie, Fathers Schwester ein, bei der wir immer einen Zwischenstopp mit einer kurzen Imbisspause einlegen. Die ganze Nachbarschaft kommt, um den „hohen Besuch“ aus Germany zu bestaunen und willkommen zu heißen.

 

Auf der Weiterfahrt fällt mir auf, dass sich am tropischen Himmel, den ich als meist tiefblau in Erinnerung habe, Wolken zusammenziehen.

„Seltsam“, meint Father und wiegt bedächtig seinen Kopf, „eigentlich müssten wir jetzt im April eine stabile Wetterlage haben. Ja, das kommt nur durch den Klimawandel. Es sieht nämlich ganz nach Monsun aus, aber eigentlich ist es für den noch viel zu früh.“

 

Um vier Uhr nachmittags kommen wir endlich in Gintota, der Siedlung am Stadtrand von Galle an und fahren über den Ginganga, den großen Fluss. Inmitten von Palmen und tropischen Gewächsen, fast schon wie im Dschungel, wohnen meine Schwiegereltern. Großes Hallo und Willkommen, mein Sohn wird bestaunt, weil er seit dem letzten Besuch vor zwei Jahren so gewachsen ist. Ich packe das Nötigste aus, verteile Mitbringsel und Geschenke und sehe gähnend auf meine Armbanduhr, die ich noch nicht vorgestellt habe. Sie zeigt acht Uhr an, während es auf der Insel schon Mitternacht ist. Ich bin froh, dass ich durch die Zeitverschiebung – Sri Lanka ist Deutschland ja vier Stunden voraus  – mit dem Kind ins Bett gehen kann, ohne unhöflich zu wirken.

 

Hundemüde wie ich bin, versinke ich in bleischweren Schlaf, denke, dass ich morgen noch alles auspacken kann, aber dazu wird es nicht kommen. Mitten in der Nacht werde ich wach. Der Wind heult und pfeift ums Haus, Regen klatscht gegen die Fensterscheiben. Da schon wieder ein Krachen und Splittern! Ich verlasse mein Bett und tappe ins große, gemeinsame Familienwohnzimmer. Wieso schlafen alle anderen noch? Wieso bin ich die einzige, die sich Sorgen macht?

„Mother!“, rufe ich kläglich. Da sehe ich einen Lichtschein auf mich zukommen und die Gerufene steht im Nachthemd vor mir. In der Hand hält sie eine Kerze, die sie auf einen kleinen Teller geklebt hat.

„Hast du das Krachen gehört?“, frage ich aufgeregt. „Ich habe furchtbare Angst, dass uns was passiert!“

„Cool down, beruhige dich“, sagt sie zu mir. „Der Sturm geht bald vorüber. Wir sind hier sicher.“

 

Aber nun wecken wir doch alle Familienmitglieder auf: Joe, meinen Mann, Father, meinen Schwager und noch eine Schwägerin, die zu Besuch ist. Meinen schlaftrunkenen Sohn nehme ich auf den Arm. Zwei Stunden lang sitzen wir im Wohnzimmer, im größten Raum, genau in der Mitte des Hauses. Die Zimmer haben alle keine Decke, man starrt direkt ins Gebälk, wenn man nach oben blickt und… genau darüber tobt der Sturm! Stunden vergehen, draußen schüttet es wie aus Kübeln. Gegen vier Uhr lässt der Wind endlich nach und wir gehen alle wieder zu Bett.

 

Am nächsten Morgen trete ich besorgt, aber auch neugierig vor die Haustür. Fast glaube ich, meinen Augen nicht trauen zu können: Quer in unserer Einfahrt liegt ein dicker Baum und versperrt uns den Weg. Die Nachbarn sind jedoch noch stärker betroffen. Dort ist ein großer Baum ins Haus gestürzt und hat das halbe Dach demoliert. Ich bin gespannt, ob bald die Feuerwehr oder ein anderer Notdienst anrücken wird. Da der Strom in der ganzen Siedlung ausgefallen ist, hat Mother auf ihrer alten Kochstelle mit Holz ein Feuerchen angezündet und kocht Tee. Ich hätte lieber einen starken Kaffee gehabt, aber das Tein hilft auch, meine Lebensgeister zu beleben. Der Schrecken der vergangenen Nacht lässt sich nicht so leicht abschütteln und steckt mir immer noch in den Knochen.

 

An diesem Tag und auch an den darauffolgenden bleibt der Himmel trübe und verhangen und sendet uns weitere ausgiebige Regenschauer. Wie soll ich in unserem Zimmer bei spärlichem Kerzenlicht unsere Sachen auspacken und für Ordnung sorgen? Ich beschränke mich wieder aufs Nötigste und lasse unser Gepäck einfach offen stehen.

 

Vor dem Haus ertönt plötzlich lautes Rufen und Gelächter. Ein paar Freunde und Nachbarn, denen sich unsere männlichen Familienmitglieder angeschlossen haben, sitzen auf dem umgekippten Baumstamm in unserer Einfahrt und zersägen das Ungetüm in handliche Stücke. Und das mit reiner Muskelkraft, denn eine elektrische Säge kann ja wegen des andauernden Stromausfalls nicht angeschlossen werden. Anschließend wird alles auf einer Karre verladen und abtransportiert. Mein Sohn darf sich oben auf die Fuhre setzen. Was für ein Erlebnis für den Kleinen! Am frühen Nachmittag ist unsere Einfahrt wieder frei und alle Männer ziehen zum Nachbarhaus, um dort zu helfen. Ah, denke ich, so einfach funktioniert hier Nachbarschaftshilfe! Alle packen mit an, wenn es nötig ist. Da könnten wir uns zuhause in der deutschen Heimat doch eine Scheibe von abschneiden…

 

Vier Tage lang sind wir an Haus und Garten „gefesselt“. Der Stromausfall dauert an und weil deswegen unsere Wasserpumpe nicht funktioniert, müssen wir mit Eimern Wasser aus dem Brunnen holen. Unser Zufahrtsweg, der in die Dorfstraße mündet, hat sich in eine einzige Schlammwüste mit riesengroßen Pfützen verwandelt. Die Dorfstraße selbst steht tagelang knietief unter Wasser und die Tuk-Tuks (Taxis) trauen sich nicht, zu uns raus zu fahren, aus Angst „abzusaufen“ oder im Morast steckenzubleiben. Dann ist endlich wieder Strom da und ich kann mir meinen heißgeliebten Filterkaffee, den ich wie immer mitgebracht habe, aufbrühen. Später erfahre ich, dass die Hotels an der Küste – im Gegensatz zu uns hier draußen – schon nach einem Tag wieder Strom hatten. Als ich dies höre, kann ich nicht verhindern, dass in mir leichter Neid aufflackert!

 

Vor dem Abflug hatten wir eigentlich geplant, einen Wagen zu mieten und mit diesem eine mehrtägige Tour ins Landesinnere zu machen. In den Nachrichten erfahren wir jedoch, dass der Monsun dort schwere Schäden angerichtet hat: Die Hauptverkehrsstraße nach Kandy, der alten Hauptstadt, ist wegen Erdrutschen und Überschwemmungen gesperrt. Der Zugverkehr von Colombo nach Galle ist eingestellt worden, weil Gleise unterspült sind. Und in der Nähe von Colombo hat es leider viele Todesopfer gegeben. Dort hatten Anwohner in einem trockenen Flussbett gesiedelt. Der Monsun mit seinen Regenmassen hatte das Flussbett jedoch in einen reißenden Strom verwandelt und die überraschten Menschen in ihren leichten Hütten und ihre Haustiere mit sich gerissen.

 

Ein Highlight erleben wir dann doch noch, denn wir machen einen unglaublich schönen Bootsausflug. Joe mietet einen geräumigen Kahn und drei Mann Besatzung, dann steigen wir mit Kind und Schwager zu. Als wir durch die überflutete Flusslandschaft gleiten, komme ich mir vor wie am Amazonas! Wasser, soweit das Auge reicht!

„Und wenn jetzt Krokodile auftauchen?“, frage ich Joe besorgt.

„Die gibt es hier doch nicht mehr!“, lautet seine beruhigende Antwort.

„Wirklich?“, frage ich skeptisch.

„Ja, die hat Father vor einigen Jahren doch alle abgeschossen oder verjagt.“

Auf einmal schreie ich auf. Wir sind direkt unter ins Wasser hängenden Zweigen entlang geglitten. Darauf hatten sich rote Ameisen geflüchtet, die sich nun mit Wonne auf mich, die einzige hellhäutige Person an Bord, stürzen. Großes Gelächter seitens der männlichen Besatzung, aber alle helfen mir, die Viecher wieder abzuklopfen.

 

Insgesamt bleibt das Wetter zwei Wochen lang unbeständig und lässt uns die Nachwehen des Monsuns spüren. Immer wenn wir draußen etwas unternehmen wollen, gibt es wieder einen kräftigen Regenschauer. Ich bin doch etwas enttäuscht, denn ich hatte mich sehr auf die drei Wochen Urlaub gefreut, von denen ja jetzt vierzehn Tage sprichwörtlich ins Wasser gefallen sind. Wenn ich dann aber Mother sehe, die verzückt ihren ersten Enkel betrachtet, den sie ja aufgrund der riesigen Entfernung zwischen Deutschland und Sri Lanka nur ganz selten zu Gesicht bekommt, bin ich wieder versöhnt.

 

In der dritten Woche haben sich alle Monsunwolken endlich verzogen. Die Tropensonne scheint wieder mit voller Kraft und trocknet Tümpel und Wege. Endlich können wir nach Hikkaduwa ans Meer zum Baden fahren! Als wir am Strand entlang spazieren, finden wir auch dort immer noch Andenken, die der Monsun hinterlassen hat: angeschwemmtes Holz und Unrat, abgerissene Palmwedel und Zweige.

 

Aber dann stürzt sich mein Sohn jauchzend ins badewannenwarme, türkisblaue Wasser…

 

 

* * *

 

 

Impressum

Texte: Rebekka Weber
Bildmaterialien: Rebekka Weber, eigene Fotos aufgenommen in Sri Lanka
Tag der Veröffentlichung: 01.09.2013

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