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Lost - Vermisst

Ein wenig zögerlich sah sie sich in dem Restaurant um, das zum weitläufigen Hotelkomplex gehörte. Die meisten Tische waren schon besetzt und gegenüber der Eingangstür, in der sie noch immer stand, war ein üppiges Buffet aufgebaut. Ob sie hier wohl richtig war? Eine Hotelangestellte, angetan mit schwarzer Bluse, schwarzem Rock und einer burgunderroten Schürze, trat auf sie zu.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie freundlich.

„Mm, ja...“, meinte Marlen, „ich weiß nicht, ob ich hier richtig bin. Ich habe einen Gutschein für ein Candlelight-Dinner. Allerdings bin ich allein.“

„Das geht schon in Ordnung. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“

Die Bedienung führte sie an einen kleinen Tisch, der nur für eine Person gedeckt war.

„So, hier wären wir. Nehmen Sie doch bitte Platz. Ich zünde schon mal die Kerze an und hole gleich den Wein, der zu Ihrem Menü gehört.“

Marlen machte es sich auf ihrem Stuhl bequem und schaute sich weiter um. Das war ja klar, dachte sie, dass sie wieder einmal einen Katzentisch bekommen hatte! Dieser war halb von einer Säule verdeckt und stand in der Nähe der geöffneten Terrassentür. Alle Gäste, die zum Buffet wollten, mussten an ihr vorbei und warfen ihr – so schien es Marlen jedenfalls – mitleidige Blicke zu. An den anderen Tischen saßen turtelnde Pärchen, plaudernde Familienverbände mit ihren Kindern oder sogar mit den Großeltern und alleinerziehende Mütter mit ihren halbwüchsigen Sprösslingen, die jedoch meist gelangweilt vor sich hinblickten oder Pommes Frites in sich hineinschaufelten.

„So, hier ist der Weißwein.“ Die Kellnerin war zurück, stellte eine gut gefüllte Karaffe auf den Tisch und schenkte ihr daraus ein. „Möchten Sie auch gleich mit dem Menü starten?“

„Ja, gerne.“ Marlen nickte, obwohl sie sich eigentlich ein Candlelight-Dinner ein wenig romantischer vorgestellt hatte. Eine lärmende All-inclusive-Gästeschar, die sich hemmungslos am Buffet bediente, gehörte sicherlich nicht dazu.

„So, hier ist das Entrée, ein Senfschaumsüppchen…“

Marlen tauchte ihren Löffel in die köstlich duftende Terrine, die  nun vor ihr auf dem Tisch stand. Sie war hungrig, denn während der stundenlangen Autofahrt zum Hotel, das idyllisch am Rande eines Mittelgebirges lag, hatte sie außer ein paar Keksen nichts zu sich genommen. Die Suppe schmeckte hervorragend und auch der zweite Gang – überbackenes Hähnchenfilets auf Reis – war ein Gedicht.  Und von Glas zu Glas, das sie von dem gut gekühlten und erfrischend schmeckenden Wein trank, merkte sie, wie sie sich entspannte und lockerer wurde. Und was kümmerten sie eigentlich die anderen Hotelgäste? Sie war hier, um sich ein paar Tage lang zu erholen und würde keinen Anschluss brauchen, sie kam doch bestens allein zurecht.

Nach dem Dessert – Beerenkompott mit Schokosoße – zog sie sich mit der noch halbvollen Weinkaraffe auf ihr Apartment zurück und setzte sich in einen bequemen Balkonstuhl. Der Hotelkomplex selbst, zwei riesige Hochhäuser mit jeweils 15 Stockwerken, verschandelte in ihren Augen zwar die Landschaft, dafür war die Aussicht aus dem obersten Stockwerk, in dem sie nun logierte, phänomenal.  Entzückt sah Marlen den rosa- und goldengefärbten Abendwolken zu, die über die bewaldeten Hänge heraufzogen und auf die ersten Lichter, die im Tal angingen.

Die nächsten Tage verbrachte sie mit ausgiebigen Wanderungen und abends entspannte sie sich im hoteleigenen Schwimmbad oder in der dazugehörenden Sauna. Einmal rief ihr Sohn an und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Marlen hatte ihr einziges Kind zu einem selbständigen, jungen Mann erzogen und ihm trotz der Scheidung der Eltern nie den Vater madig gemacht oder vorenthalten. Ihr Sohn Mike war selbstbewusst, kannte seine Ziele im Leben, nahm weder Drogen, noch rauchte er und wusste mit gelegentlichem Alkoholkonsum im Freundeskreis umzugehen. Bei ihm war ihre Saat gut aufgegangen und bestens gediehen. Aber was war mit ihr selbst? Ihre eigenen privaten Wünsche und Ziele waren nach der Scheidung von ihrem Mann auf der Strecke geblieben, da sie sich nur auf zwei Dinge konzentriert hatte: auf das Wohlbefinden ihres Sohnes und auf ihre finanzielle Absicherung. Aber bald würde Mike aus dem Haus sein und sein eigenes Leben führen. Wollte sie selbst im Alter wirklich alleine sein? Darauf lief es ja mittlerweile hinaus.

Sie konnte sich gut allein beschäftigen, denn sie brauchte kein männliches Gegenstück, um sich „komplett“ zu fühlen. Bei ihr zuhause, in ihrer vertrauten Umgebung, machte es ihr auch nichts aus, wenn sie allein war. Aber hier in diesem Hotel… inmitten all‘ dieser Familien und Pärchen um sie herum… da kam sie sich doch ziemlich fehl am Platze vor. Vielleicht hätte sie doch besser eine Reise gebucht, die speziell für Singles und Alleinreisende ausgerichtet war. Aber nun war sie einmal hier und sie wollte sich während ihres einwöchigen Aufenthaltes gut erholen. So verbrachte sie die Tage an der frischen Luft und anstatt abends wieder allein im Restaurant zu sitzen, bereitete sie sich lieber kleine kalte Mahlzeiten auf ihrem Zimmer zu.

Am dritten Abend ihres Aufenthaltes regnete und gewitterte es. Als sich das Wetter am nächsten Morgen beruhigt hatte, beschloss sie, eine Wanderung zur Talsperre zu unternehmen. Sie zog die festen Wanderschuhe mit der geriffelten Sohle an, denn die Waldwege würden sicher verschlammt und rutschig sein. Wie gewohnt marschierte sie wieder einmal allein los. Aber das machte ihr nichts aus, denn selbst in ihrer Ehe war sie meist allein spazieren gegangen. Ihr Mann hatte es vorgezogen, am Fernseher Fußball oder die Formel-Eins-Rennen zu verfolgen, anstatt sie zu begleiten und ihr Sohn war, als er noch Kind war, nur mitgegangen, wenn er wusste, dass am Ziel ein McDonalds oder ein Spielplatz warteten.

Die Luft im Wald war nach dem Regen herrlich frisch und würzig und Marlen schritt munter aus. Sie hatte überhaupt keine Angst, alleine zu wandern. Wer würde ihr schon etwas tun? Sie war schließlich kein hübsches junges Mädchen mehr und Geld oder andere wertvolle Gegenstände hatte sie nicht dabei.

Als sie ungefähr eine Stunde gelaufen war und sie schon das Wasser der Talsperre durch die Zweige der Bäume funkeln sah, kam ihr ein Mountainbikefahrer entgegen. Er grüßte sie freundlich und fuhr, ohne anzuhalten, weiter. Marlen grüßte ebenfalls und freute sich, dass die Leute hier so freundlich waren und sie ihr

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Rebekka Weber
Bildmaterialien: Manuela Schauten, Ölkreide 21 x 29 cm 2023
Cover: Rebekka Weber
Tag der Veröffentlichung: 22.08.2013
ISBN: 978-3-7309-6086-8

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