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Abschied nehmen

Wenn ich an den Oktober/November vor vierundzwanzig Jahren denke, habe ich klar und deutlich das Bild eines guten Freundes vor Augen und sogar noch seine Stimme im Ohr.

 

Eines Abends bekam ich folgenden Anruf: „Hallo Rebekka, siehst du auch die Bilder im Fernsehen? Ist das nicht fantastisch? Diese jubelnden Menschen! Ich freue mich so für Deutschland und dass ihr jetzt endlich wieder vereinigt seid!“

Ich erinnere mich, dass ich mich damals über diese Geschehnisse auch gefreut habe, aber durch einen Jobwechsel war ich sehr damit beschäftigt, mich am neuen Arbeitsplatz einzugewöhnen. Abends kam ich meist spät nach Hause und war dann zu kaputt, um mich mit Freunden auszutauschen oder das aktuelle Tagesgeschehen zu verfolgen.

 

Mein guter Freund Sene war seinerzeit ein festes Mitglied meines multikulturellen Freundeskreises. Er war klein und stämmig, hatte eine dunkle Hautfarbe, kurze Kraushaare und kam… aus Äthiopien. In seiner Heimat war er politisch verfolgt gewesen und hatte jahrelang im Gefängnis gesessen. Seine politischen Äußerungen missfielen der Derg, der damaligen äthiopischen Militärregierung, die von einem gewissen Herrn Mengistu geführt wurde. Irgendwie hatte Sene die Flucht aus der Inhaftierung und aus seinem Heimatland geschafft und sich nach Deutschland durchgeschlagen. Zunächst hatte er in einem Asylantenheim gewohnt, konnte jedoch nach einiger Zeit stolz eine eigene kleine Wohnung beziehen. Unser Freund war ein hoch gebildeter Mann. Er hatte bei der Industrie- und Handelskammer in seinem Land gearbeitet, war während seiner Tätigkeit viel herumgekommen und hatte während dieser Reisen sogar Japan besucht. Sene liebte politische Diskussionen und war ein ausgezeichneter Schachspieler, gegen den ich leider nie gewann.

 

Ich hatte ihn einmal gefragt, ob er sich in Deutschland wohlfühlen und er unser Land als seine neue Heimat ansehen würde. Da sein Asylverfahren noch in der Schwebe war, war sein weiterer Verbleib ja noch sehr ungewiss.

„Ich liebe Deutschland und bin sehr froh, dass ich im Moment in eurem Land bleiben darf“, hatte er mir lächelnd geantwortet. „Wenn hier jemand klingelt oder an meine Türe klopft, weiß ich, dass es nur ein Freund sein kann und kein Gewehr, das mir beim Öffnen an den Kopf gehalten wird.“

 

An einem Freitagabend im Spätherbst bekam ich einen Anruf von meiner Freundin Barbara.
„Hast du was von Sene gehört?“, fragte sie besorgt.
„Nein“, antwortete ich, „seit letzten Freitag, als ich mit dir zusammen Sene besucht habe, hat er sich noch nicht wieder bei mir gemeldet. Aber du weißt ja, seitdem ich den neuen Job habe, habe ich abends kaum noch Zeit, Freunde anzurufen.“
„Ich verstehe das nicht“, sagte Barbara und ihre Stimme klang sehr beunruhigt, „normalerweise ruft mich Sene zwei- bis dreimal in der Woche an. Ich habe selbst schon ein paar Mal versucht, ihn zu erreichen, aber er nimmt einfach nicht ab. Irgendetwas stimmt da nicht.“
„Ach, der wird sich wieder melden!“, versuchte ich, Barbara zu beruhigen.

 

Ein paar Tage später rief mich Barbara wieder an. Jetzt war sie ganz aufgeregt.
„Stell dir vor, ich konnte Sene immer noch nicht erreichen. Und gestern hat mich sein Bruder aus Frankfurt angerufen. Seit anderthalb Wochen haben die Geschwister nichts mehr von Sene gehört. Sie machen sich große Sorgen. Deshalb haben sie mich gebeten, einmal bei ihm vorbeizuschauen, ob er vielleicht doch zuhause ist. Aber allein möchte ich nicht gehen! Ich habe wirklich Angst, dass etwas passiert ist. Begleitest du mich?“
„Ja, sicher doch!“ Wir verabredeten uns für den nächsten Tag.

 

Um sechs Uhr abends trafen wir uns vor dem grauen Mietshaus, in dem unser Freund damals wohnte. Da auf unser Klingeln niemand öffnete, sahen wir uns Senes Briefkasten an: Er quoll über vor Post. Nun wurde uns angst und bange! Wo steckte unser Freund nur? Was war passiert? Wir fassten uns ein Herz und klingelten bei anderen Mietern, die uns jedoch keine Auskünfte geben konnten. Schließlich trafen wir den Hausmeister an, der uns erzählte, dass er unseren Freund ebenfalls seit längerer Zeit nicht mehr gesehen hätte.

 

„Das ist doch alles sehr seltsam“, meinte Barbara, „aber vielleicht ist Sene für ein paar Tage zu Freunden gefahren?“
„Nee, das glaube ich nicht“, sagte ich, „er besucht doch regelmäßig seinen Deutschunterricht. Und er hätte uns bestimmt Bescheid gesagt, wenn er tatsächlich vorgehabt hätte, für einige Tage zu verreisen.“
„Vielleicht liegt er ja verletzt oder krank in seiner Wohnung und braucht Hilfe?“
Wir wagten kaum, uns das auszumalen. Der Hausmeister hatte leider keinen Zweitschlüssel, um Senes Wohnung zu öffnen und so  überlegten Barbara und ich fieberhaft, was wir tun konnten.

 

Schließlich fuhren wir zur nächstgelegenen Polizeistation und schilderten dort die Situation.
„Wenn Sie keine Verwandten von Herrn Terefe sind“, belehrte uns der diensthabende Beamte, „dann dürfen wir in Ihrem Beisein auch nicht die Wohnungstür öffnen. Vielleicht wollen Sie ja nur Ihre Stereoanlage oder irgendwelche Sachen, die Sie Ihrem Bekannten geliehen haben, aus der Wohnung holen.“

Meiner Freundin und mir blieb fast die Spucke weg! Wir kamen um vor Sorge und dann wurden uns unlautere Motive unterstellt! Der Beamte ließ nicht weiter mit sich reden und so blieb uns nichts anderes übrig, als nach Hause zu gehen.

 

Umgehend rief Barbara Senes Geschwister in Frankfurt an und diese wollten nun so schnell wie möglich nach Düsseldorf kommen. Zwei Tage später, wieder an einem Freitagabend, trafen wir uns mit ihnen vor dem Haus, in dem ihr Bruder wohnte. Mittlerweile war es genau eine Woche her, dass sich Barbara das erste Mal Sorgen um den Verbleib unseres Freundes gemacht hatte.

 

Ungeduldig und mit bangem Herzen warteten wir nun im Treppenhaus auf das Eintreffen der Polizei und des Schlüsseldienstes. Der Handwerker kam und machte sich umgehend an die Arbeit. In weniger als einer Minute hatte er das Schloss aufgebrochen. Wir hielten den Atem an. Die Tür ließ sich jedoch nur ein paar Zentimeter öffnen, dann schlug sie hart gegen die von innen zugezogene Sicherheitskette. Wir sahen uns entsetzt an! Die versperrte Tür konnte nur eine einzige Bedeutung haben. Senes Schwestern brachen auf der Stelle in lautes Wehklagen aus.

„Aiyeuh! Aiyeuh!“, weinten sie und rauften sich wie wild die Haare. Ihr Gewimmer ging uns durch Mark und Bein.

 

Jetzt durchtrennte der Handwerker gekonnt und schnell die Kette und machte die Türe weit auf. Der Polizist betrat die Wohnung und wir warteten angsterfüllt auf das, was er vorfinden würde.
Nach ein paar Minuten, die uns wie eine Ewigkeit vorkamen, erschien der Polizist wieder an der Tür und sagte zu Salomon, Senes Bruder: „In der Wohnung liegt ein Toter. Vermutlich ist es ihr Bruder. Kommen Sie bitte zunächst allein herein!“
Salomon nickte und kam nach ein paar Minuten schluchzend wieder zu uns hinaus.

 

Der Polizist bat uns, zu warten, da er die Wohnung noch näher untersuchen musste. Als er nach einiger Zeit wieder zu uns hinaustrat, konnte er uns beruhigen, es wären keine Spuren von Gewalt zu sehen. Auch der herbeigerufene Arzt konnte auf den ersten Blick nichts Außergewöhnliches an Senes Leiche feststellen. Unser Freund lag, als wenn er ganz friedlich eingeschlafen wäre, in seinem Bett. Fassungslos sahen wir zu, wie sein Leichnam auf einer Bahre heraus getragen wurde. Stumm und wie versteinert gingen Barbara und ich nach Hause. Senes Geschwister übernachteten in einem Hotel. Am nächsten Tag informierte uns der Arzt, dass Senes Leichnam nicht mehr obduziert werden konnte, da er ungefähr zwei Wochen in der Wohnung gelegen hatte und die Verwesung schon weit fortgeschritten war.

 

Jetzt durften wir Senes Wohnung betreten.  Gleich fielen uns drei leere Teetassen auf, die auf dem Tisch standen. Es waren die Tassen, aus denen Brigitte und ich mit Sene an unserem letzten gemeinsamen Abend getrunken hatten, also mussten wir die letzten gewesen sein, die unseren Freund lebend gesehen hatten.

 

Wir stellten das ganze Appartement auf den Kopf! Es musste doch irgendeinen Hinweis auf seinen plötzlichen Tod geben. Aber… wir fanden nichts, keine Medikamente, keinen Abschiedsbrief. Wir zerbrachen uns den Kopf. Wie konnte ein gesunder Mann von 43 Jahren so plötzlich sterben? Sene hatte uns nie von irgendwelchen Krankheiten erzählt. Ob sein Körper vielleicht doch während der vierjährigen Haftzeit in Addis Abeba Schaden genommen hatte? Sene hatte zwar nie konkret von Folterungen berichtet, aber seinen Andeutungen hatten wir entnehmen können, dass er Schlimmes durchgemacht haben musste. So hätte er die gesamte Zeit seiner Inhaftierung auf dem kalten Steinfußboden verbracht. Oder hatte Sene jetzt Selbstmord begangen, weil sein Asylantrag abgelehnt worden war und er dagegen Berufung einlegen musste? Sah er einfach keine Zukunftsperspektive mehr? Oder war er doch einsam gewesen? Hätten wir uns mehr um ihn kümmern müssen? Fragen über Fragen.

 

Schwester Dietlind von der evangelischen Gemeinde, zu der Sene engen Kontakt gehabt hatte, brachte einige Tage später etwas Licht in das Dunkel. Sie erzählte uns, dass Sene im vergangenen Jahr einmal wegen eines Herzanfalles mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht worden wäre. Barbara und ich hatten Sene im Krankenhaus besucht, aber unser Freund erzählte uns, dass er im Krankenhaus einen ganz normalen Check-up hätte machen lassen. Wir hatten ihm das damals geglaubt, obwohl es natürlich im Nachhinein seltsam schien, dass er für einen bestätigten Termin mit Blaulicht eingeliefert worden war.

 

Wir rätselten weiter über die Todesursache: War Senes Herz vielleicht schon während seines Gefängnisaufenthaltes geschwächt und zermürbt worden? Oder war es vielleicht zerbrochen, vor lauter Heimweh nach Äthiopien? So sehr wir uns auch den Kopf zerbrachen und nach Hinweisen suchten: Wir haben nie eine Antwort auf diese Fragen erhalten.

 

Eine Woche später, an einem trockenen und sonnigen Novembertag, fand die Beerdigung unseres Freundes statt. Fast einhundert Freunde und Verwandte waren aus ganz Deutschland angereist, um Sene zu seiner letzten Ruhestätte zu begleiten. Als sich unser imposanter Trauerzug in Bewegung setzte und die äthiopischen Frauen in ihr lautes Wehklagen verfielen, blieben die anderen Friedhofsbesucher verwundert stehen. Am offenen Grab spielten sich dann erschütternde Szenen ab.

„My Brother! My Brother!“, weinten Senes Schwestern, rissen sich an den Haaren und sahen aus, als wollten sie sich gleich mit ins Grab stürzen. Nur mit Mühe konnten wir sie beruhigen. Tief bewegt nahmen alle Trauergäste Abschied von unserem Freund und wir gingen langsam zum Ausgang zurück.

 

Nach der Beisetzung fand im evangelischen Gemeindehaus eine Trauerfeier statt, die wir zusammen mit Schwester Dietlind organisiert hatten. Barbara erinnerte noch einmal mit Daten und Fakten, die sie zusammengetragen hatte, an den bewegten Lebenslauf unseres verstorbenen Freundes. Am Abend verabschiedeten wir uns von Senes Geschwistern, die nach Frankfurt zurückfuhren. Ich sollte sie nie wiedersehen.

 

10 Jahre später - 1999

 

 Es ist einer dieser verregneten Novembertage. So wie jedes Jahr an Allerheiligen will ich auch dieses Jahr das Grab meines Freundes besuchen.

 

Ich habe meinen kleinen Sohn wieder mit zum Friedhof genommen. Es regnet, die Wege sind verschlammt, aber Mike springt fröhlich in seinen Gummistiefelchen durch die Pfützen. Ich habe ihm viel von Äthiopien und Senes dramatischer Flucht erzählt und Mike hat immer aufmerksam zugehört.

Nun stehen wir am Grab meines Freundes. Die vielen Trauerkränze und Blumen sind längst verschwunden und langsam breitet sich Buschwerk auf Senes letzter Ruhestätte aus. Bald schon wird das schlichte weiße Steinkreuz, das nur noch wenig aus dem Gestrüpp hervorragt, ganz zugewachsen sein. Ich schiebe die Ranken beiseite, bis die Inschrift mit dem gemeißelten äthiopischen Kreuz zu sehen ist: Sene Terefe 1946 - 1989.

 

Ich stecke eine Kerze an und bete: “Tadias*, mein lieber Freund. Du wirst immer in meinem Herzen bleiben, auch nach zehn Jahren habe ich dich nicht vergessen. Schade, dass du meinen Sohn nicht kennenlernen konntest! Ihr wärt sicherlich gute Freunde geworden und du hättest ihm wunderbar Schachspielen beibringen können.“

Einige Minuten verharre ich noch reglos, dann öffne ich das Türchen der Laterne, die fest auf dem Grab verankert ist, zünde eine Kerze an und stelle sie in die Kammer. Ein wenig zaghaft beginnt das Licht aufzuleuchten.
„Komm Mike! Wir gehen wieder“, rufe ich und nehme meinen Sohn an die Hand.
Wir drehen uns noch einmal zum Grab um und ich sage leise: „Bis nächstes Jahr, mein guter Freund!“

 

20 Jahre später - 2009

 

Es ist einer dieser milden Herbstabende. Den ganzen Tag über hat uns die Sonne mit ihren Strahlen verwöhnt und nun, in den frühen Abendstunden, ist es immer noch angenehm warm. Ich habe stundenlang vor dem Bildschirm gesessen und nun pocht der Kopfschmerz hinter meinen Schläfen. Genug gearbeitet! Ich brauche unbedingt frische Luft und so schalte ich kurz entschlossen den PC aus.

 

Ich fahre zum Südpark, um dort eine kleine Runde zu drehen. Über den Bäumen wölbt sich ein azurblauer Himmel, Kinder und Jugendliche spielen auf den Rasenflächen Fußball und Liebespaare gehen händchenhaltend und munter turtelnd an mir vorbei. Tief atme ich die milde, würzige Herbstluft ein und marschiere los, ohne festes Ziel. Plötzlich halte ich inne, denn ich stehe in der Nähe des Friedhoftores. ‚Eigentlich könnte ich jetzt doch einmal zum Grab gehen, wer weiß, ob an Allerheiligen so schönes Wetter ist!‘, denke ich und erinnere mich an verregnete und auch stürmische Tage, an denen es fast unmöglich gewesen war, eine Kerze anzuzünden und in die kleine Grablaterne zu stellen.

 

Ich gehe durch das Tor, dann am Urnenfeld vorbei, folge dem Weg, der einen großen Bogen nach links macht und biege dann scharf nach rechts in einen anderen Weg ein.
‚Nanu‘, frage ich mich, ‚habe ich mich wieder verlaufen? Warum kann ich mir die Nummer des Feldes nicht merken? ‘
Denn dort, wo sich eigentlich inmitten vieler weiterer Gräber das Grab meines Freundes befinden soll, sehe ich nur eine große, glatte Rasenfläche. Ich gehe den Weg noch einmal zurück, prüfe, ob ich falsch abgebogen bin, nein, nach einigen Minuten stehe ich wieder vor dem gleichen, freien Feld.

 

In der Nähe sind ein Mann und eine Frau damit beschäftigt, eine Grabhecke zu beschneiden.
„Entschuldigen Sie bitte“, spreche ich die Leute an.  „Ich suche ein Grab. Wissen Sie zufällig was mit den Gräbern passiert ist, die sich dort hinten befanden?“ 
„Ja, wissen Sie das denn nicht?“, antwortet der Mann. „Die sind doch vor einem halben Jahr eingeebnet worden!“

Ich bin erschüttert und muss mich auf eine Bank setzen. Immer wieder blicke ich auf das freie Feld und rufe mir das Bild des Grabes vor Augen: Ein schlichter weißer Stein mit einem eingemeißelten orthodoxen Kreuz, Name, Geburts- und Sterbejahr, und Buschwerk, das sich immer mehr ausbreitet und am Grabstein hinaufkriecht.

 

Die Erinnerungen kommen zurück…

 

Was hatte sich mein Freund damals über den Fall der Berliner Mauer gefreut! Und wie wohl hatte er sich in Deutschland gefühlt, obwohl die Behörden zögerten, seinen Status als politischen Flüchtling anzuerkennen. Ein paar Wochen später war er tot und die genaue Todesursache konnte niemals geklärt werden. Und dann die große Beerdigung! So viele Freunde und Verwandte waren damals angereist und hatten gemeinsam mit mir am Grab Abschied genommen.

 

Aber in all‘ den Jahren, in denen ich seine letzte Ruhestätte besuchte, habe ich dort nie jemanden angetroffen. Anfangs hatte mich Barbara ab und zu auf den Friedhofsbesuchen begleitet. Irgendwann hat sie sich dann ausgeklinkt, ihr Vater war verstorben, sie könne es zeitlich nicht mehr schaffen, zwei Gräber zu besuchen.

Und so fand ich oft nach Monaten noch die Reste der Allerheiligenkerze vor, der Kerze, die ich selbst angezündet hatte, die nun leer und ausgebrannt, wie ein stummer Vorwurf übriggeblieben war. Das Grab wurde anfangs – vermutlich von einem Friedhofsgärtner – gepflegt, später nicht mehr, und es verwilderte immer mehr. Oft hatte ich mir vorgenommen, es selbst neu zu bepflanzen und das Buschwerk zu beschneiden, aber es blieb bei dem Vorsatz. Ich war ja selbst immer zu beschäftigt, bei voller Berufstätigkeit, Haushalt und Kind.

 

Jetzt habe ich kein Grab mehr, an dem ich meinen alten Freund besuchen kann. Wo werde ich ihn nun finden? Aber selbst heute noch, vierundzwanzig Jahre nach seinem Tode, habe ich noch genau seine Stimme im Ohr. Das Telefon klingelt, er ist dran, er möchte sich nur einmal kurz melden und nach meinem Befinden erkundigen. Er hat meinen Namen immer auf der ersten Silbe statt auf der zweiten betont, aber das war in Ordnung, ich habe ihn nie korrigiert.

 

Plötzlich fällt mir ein, dass ich noch ein kleines Gemälde von meinem Freund besitzen muss. Sene war ein bescheidener Hobbymaler und er hatte mir einmal eins seiner Werke zu Weihnachten geschenkt: Ein Stillleben mit Kerze und Obstschale, in einen dunklen Holzrahmen gesteckt. Ich erinnere mich, dass ich es beim letzten Umzug in eine Kiste mit Glassachen gepackt und noch nicht wieder herausgeholt habe. Die Kiste müsste doch noch im Keller stehen…

In den nächsten Tagen werde ich einmal hinuntergehen, aufräumen und nach der Kiste suchen. Wer weiß, welche Andenken und Schätze ich dort noch finden werde…

 

Aber Erinnerungen kann man nicht in Kisten stecken, die bleiben für immer im Herzen.

 

                                               *          *          *

 

* Tadias: Wie geht’s? Traditioneller Gruß auf Amharisch

 

 

Impressum

Texte: Rebekka Weber
Bildmaterialien: Rebekka Weber, Park in Düsseldorf
Tag der Veröffentlichung: 03.07.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
* * * Für Sene Terefe * * *

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