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... und die Welt sieht anders aus

„Geschafft!“, sagte der Handwerker und versenkte mit seinem Akku die letzte Schraube in der Anbauwand. „Ich wünsche Ihnen viel Freude mit Ihrer neuen Küche!“

Er packte sein Werkzeug zusammen und schob der jungen Frau ein Formular zu.

„Wenn Sie hier bitte hier noch quittieren würden, Frau Winter!“

 

Kaum hatte der Handwerker das Haus verlassen, da klingelte es an Anitas Wohnungstür. Nanu, wer konnte das sein? fragte sich die junge Frau, denn für den Postboten war es noch zu früh und die anderen Mieter im Haus kannte sie noch nicht. Vorsichtig lugte sie durch ihren Spion und erblickte eine Nachbarin, die vor ihrer Tür stand. Es war Frau Zenker, die in der Wohnung unter ihr wohnte. Anita hatte sie bis jetzt erst einmal flüchtig im Hausflur gesehen. Die Nachbarin musste schon Rentnerin sein, machte jedoch einen recht resoluten Eindruck.

 

Oh, sie wird sich sicherlich vorstellen wollen, dachte Anita und öffnete erfreut die Wohnungstür.

„Also, dieses Gepolter, das kann unmöglich vom Einbau Ihrer neuen Küche kommen!“, keifte Frau Zenker ohne zu grüßen gleich drauf los. „Ist das etwa Ihr Sohn, der so herumspringt? Dieses Gehopse ist ja nicht auszuhalten! Meine Wohnzimmerdecke wackelt und bebt!“

Anita zuckte zusammen.

„Entschuldigen Sie bitte!“, stammelte sie, völlig überrascht von dieser Attacke. „Ich sage meinem Sohn gleich Bescheid, dass er aufhören soll!“

„Dann ist es ja gut“, Frau Zenker drehte sich herum und rauschte hoch erhobenen Hauptes die Treppe herunter.

 

Puh, das fängt ja gut an! dachte Anita, schloss die Tür und ging in ihre neue, gemütliche Küche. Jetzt brauchte sie unbedingt einen Cappuccino und einen Riegel Schokolade, um sich wieder zu beruhigen. Aber zuerst musste sie mit Philipp, ihrem siebenjährigen Sohn, sprechen. Nachdem sie ihm klar gemacht hatte, dass es wohl besser wäre, mit seinen Autos zu spielen, statt in einer Tour von seinem Bett auf den Boden zu springen, nahm sie ihre Kaffeetasse und setzte sich auf den Balkon.

 

Es war ein milder Frühlingstag und Anita genoss die ersten wärmenden Sonnenstrahlen. Wie schön es doch hier war, mit dieser herrlichen Aussicht auf die grünen und blühenden Bäume! Nur hatte der ärgerliche Vorfall mit der Nachbarin ihr die Stimmung verdorben und sie war nun doch ein wenig traurig. Sie dachte daran, wie sehr sie sich auf die neue Wohnung gefreut hatte, in die sie mit ihrem kleinen Sohn nach der Trennung von ihrem Ehemann eingezogen war. Es sollte ein Neuanfang werden, aber mit derart unfreundlichen Nachbarn hatte sie wirklich nicht gerechnet. Hoffentlich waren die anderen Mieter umgänglicher! Sie seufzte und ging wieder hinein, um die restlichem Umzugskartons auszupacken.

 

Das Mietshaus jedoch, in dem ihre neue, liebevoll eingerichtete Wohnung im 1. Stock lag, entpuppte sich als sehr hellhörig und ihre Nachbarn, besonders das Ehepaar Zenker, schien äußerst ruhebedürftig zu sein. Sobald Philipp fröhlich durch die Zimmer sprang, hatte Frau Zenker den Finger auf der Klingel! Aber auch Anita selbst litt unter Geräuschen, vor allem nachts, wenn der Lärm, den die anderen Mieter verursachten, zu ihr drang, sie am Einschlafen hinderte oder sogar aus dem Schlaf riss.

 

Und ausgerechnet Herr Zenker, der Ehemann ihrer unfreundlichen Nachbarin, schien blasenschwach zu sein! Nachts suchte er häufig die Toilette auf und betätigte nach jedem erfolgreichen Strullern kräftig und andauernd die Druckspülung. Anita wurde dann jedes Mal erschrocken wach und saß senkrecht im Bett! Und wenn Herr Zenker nicht mehr schlafen konnte, riss er um fünf Uhr früh mit Schmackes die Jalousien hoch und Anita wieder aus dem Schlaf. Herr Zenker war jedoch nett und freundlich zu ihrem Sohn und sagte nie ein böses Wort zu ihm. Er half Philipp auch öfters, sein Kinderfahrrad aus dem Keller zu tragen und einmal sogar die Reifen aufzupumpen.

 

Eines Tages, als Anita gerade vom Brötchenholen zurückkam, traf sie Frau Hempel. Das war eine Nachbarin, die über ihr, jedoch auf der anderen Seite des Treppenhauses, wohnte.

„Nun, Frau Winter“, eröffnete die Nachbarin das Gespräch, „haben Sie sich schon eingelebt?“

„Ja, danke der Nachfrage.“

„Und hat sich unsere allseits beliebte Frau Zenker denn schon über Krach und andere Sachen bei Ihnen beschwert?“

„Ja, leider“, Anita nickte traurig.

„Ja, ja, die Zenker!“, geiferte Frau Hempel nun. „Die will hier im Haus alles kontrollieren und Hausmeister spielen. Und sie redet schlecht über andere. Das ist eine ganz falsche Schlange!“

Anita dachte sich ihren Teil, grüßte und ging die Treppe hinauf.

 

Die ewigen Beschwerden seitens Frau Zenker drückten sehr auf die Stimmung der kleinen Familie und die junge Frau fragte sich, ob die Nachbarin im Recht war. Schließlich erkundigte sie sich jedoch beim örtlichen Mieterverein, ob ihr Sohn herumspringen durfte oder nicht. Er dürfe springen, wurde ihr gesagt, aber er hätte Ruhezeiten einzuhalten, und zwar mittags von eins bis drei und abends von acht bis morgens um sechs.

 

Als Frau Zenker sich das nächste Mal über Gepolter beschwerte, war Anita gewappnet und konterte, dass ihr Sohn das Recht hätte, sich zu bewegen und gerade jetzt um diese Uhrzeit dieses Recht in Anspruch nehmen würde. Beleidigt zog Frau Zenker davon, machte jedoch ihrer neuen, ungeliebten Nachbarin weiterhin das Leben schwer. Ständig hatte sie etwas auszusetzen, mal störte sie der im Flur abgestellte Roller, mal das Kinderfahrrad. Der Gipfel der Gehässigkeiten war jedoch, als Anita einmal ihre Tischdecke auf dem Balkon ausschüttelte und Frau Zenker rein zufällig im Garten stand und sie dabei beobachtete.

„Unterlassen Sie das gefälligst!“, schnauzte sie Anita an. „Ich möchte ihre Flusen nicht auf meinen Begonien haben!“

Anita war den Tränen nahe und bereute mehr als einmal, dass sie in diese Wohnung gezogen war. Dieser ewige Streitzustand mit ihren Nachbarn war ja kaum noch zu ertragen! Aber „kein Zustand dauert ewig“, denn das Rentnerehepaar Zenker fuhr im August in Urlaub, und das sogar für mehrere Wochen. Nachts herrschte nun himmlische Ruhe im Haus, die junge Frau konnte wieder durchschlafen und Philipp tagsüber so viel herumspringen wie er wollte.

 

Leider hatten diese paradiesischen Zustände auch einmal ein Ende und Anita begegnete ihrer Nachbarin wieder im Hausflur, nur ihren Ehemann, Herrn Zenker, sah sie gar nicht mehr. Und nachts war es seltsamerweise immer noch still, da keine Toilettenspülung mehr rauschte und niemand mehr frühmorgens die Jalousien hochriss. Ob Herr Zenker vielleicht krank und bettlägerig oder vielleicht sogar im Krankenhaus war?

 

Ein paar Tage später sollte sich die Angelegenheit aufklären, denn Anita traf ihre andere Nachbarin, Frau Hempel, im Hausflur. Die Frauen grüßten sich, dann eröffnete Anita das Gespräch: „Leider ist Frau Zenker wieder aus dem Urlaub zurück. Es war so  angenehm, als sie fort war. Wo ist ihr Mann eigentlich? Ich sehe ihn gar nicht mehr!“

„Ja, wissen Sie das denn nicht?“, flüsterte Frau Hempel und trat etwas näher an sie heran. „Der ist doch tot!“

„Wie, der ist tot?“, fragte Anita völlig verblüfft. „Ich verstehe das nicht. Was ist denn passiert?“

„Seine Frau, diese Hexe, hat ihn umgebracht!“, flüsterte Frau Hempel und rollte mit den Augen.

„Nein, nicht doch! Was reden Sie denn da?“, fragte Anita und zuckte ganz entsetzt zurück.

„Doch, ganz sicher! Die Zenker hat ihren Mann auf ihrem schwarzen Gewissen. Die war doch mit ihm auf Mallorca. Während einer Radtour hat sie mit ihm Rast gemacht. Da hat sie ihm einen Schubs gegeben und er ist einen Abhang hinunter gestürzt!“

„Das glaube ich nicht!“

„Doch, doch, das hat sie gemacht!“

 

Anita war erschüttert! Nachdem sie ihren Sohn von der Schule abgeholt hatte, setzte sie sich mit ihm ins Wohnzimmer und versuchte ihm irgendwie und doch ganz vorsichtig beizubringen, dass Herr Zenker nicht mehr lebte. Die genauen Umstände, die sie selbst noch nicht wusste, behielt sie jedoch für sich. Philipp war sehr traurig, denn zu ihm war der Nachbar ja immer freundlich gewesen.

„Können wir eine Kerze für ihn anzünden?“, fragte der Junge leise.

„Ja, sicher, wir stellen sie heute Abend auf die Fensterbank“, sagte seine Mutter und drückte ihn fest.

Ein paar Tage später erfuhr die junge Frau von einer anderen Nachbarin Näheres über den mysteriösen Todesfall: Herr Zenker hatte tatsächlich im Urlaub gemeinsam mit seiner Frau Radtouren unternommen, allerdings war er dabei nicht verunglückt, sondern hatte einen Herzinfarkt erlitten.

 

Ein paar Wochen später zog die trauernde Witwe, Frau Zenker, in eine kleinere Wohnung in der Nachbarschaft, der Vermieter ließ die Druckspülungen im Haus durch moderne geräuscharme Spülkästen ersetzen und die neuen Mieter, die unter Anita einzogen, waren kinderfreundlich und schwerhörig.

 

Endlich kehrten Ruhe und Frieden im Mietshaus ein und Anitas Erinnerungen an die ersten unruhigen Monate waren bald verblasst. Und von dieser Zeit an lebte sie glücklich und zufrieden mit ihrem Sohn in ihrer schnuckeligen Wohnung, ganz so wie sie es sich gewünscht hatte.

 

* * *

 

Impressum

Texte: Rebekka Weber
Bildmaterialien: pixelio, FG manwalk, Bucht auf Mallorca
Tag der Veröffentlichung: 06.06.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
* * * Mein Beitrag zum Juni-Wettbewerb 2013 der KG-Gruppe, Thema: „No condition is permanent, kein Zustand dauert ewig“ * * *

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