Meine Mutter, mit dem schönen Namen Charlotte Elisabeth, war immer eine aktive und agile Frau gewesen. Bis kurz vor ihrem Tode – sie starb mit knapp 84 Jahren – hatte sie in ihrer eigenen Wohnung gelebt und sich zum größten Teil selbst versorgt. Sie ging spazieren, machte kleinere Erledigungen und nahm regelmäßig an den Treffen des Hausfrauenbundes teil, wo sie seit vielen Jahren Mitglied war und viele Freundinnen hatte. Einmal in der Woche kaufte ein Enkel im Supermarkt für sie ein und eine Enkelin half ihr beim wöchentlichen Wannenbad.
Eines Abends im Frühjahr, ein halbes Jahr vor ihrem Geburtstag, bekam meine Mutter starke, kolikartige Schmerzen in der Seite und wurde mit dem Notfallwagen ins Krankenhaus gebracht. Die Familie machte sich große Sorge, denn wir vermuteten, dass ihre Schmerzen von Gallensteinen herrührten. Diese anfängliche Diagnose wurde jedoch vom Krankenhaus nicht bestätigt. Als es Charlotte nach ein paar Tagen wieder besser ging, wurde sie entlassen, ohne dass ein konkreter Befund gefunden worden war. Bei erneuten Beschwerden sollte sie halt wieder zu ihrem Hausarzt gehen, wurde ihr lakonisch gesagt.
Zurück in ihrer gewohnten häuslichen Umgebung ging es Charlotte anfangs wieder gut. Nach drei Monaten – mittlerweile war es Anfang Juni geworden – traten jedoch plötzlich wieder starke Schmerzen auf, die sich so verschlimmerten, dass eine erneute Krankenhauseinlieferung unumgänglich war. Ein Bruder von mir, der damals im gleichen Ort wie Mutter wohnte, besuchte sie und rief mich an anderen Morgen, ziemlich früh und unsensibel, im Büro an.
„Mit der Mutter, das wird nichts mehr, die wird wohl das Krankenhaus nicht mehr lebend verlassen“, teilte er mir kurz und knapp mit.
Diese schlimme Nachricht erschütterte mich sehr! Während der Arbeit musste ich mit den Tränen kämpfen und konnte mich kaum auf meine Aufgaben konzentrieren. Abends rief ich natürlich meine Mutter gleich an und versuchte näheres zu erfahren. Sie war allerdings recht guter Dinge, da sie starke Schmerzmittel bekommen hatte und sich besser fühlte.
Am darauffolgenden Wochenende fuhr ich mit meinem ältesten Bruder ins Krankenhaus. Wir hatten einen Gesprächstermin beim Chefarzt. Dieser eröffnete uns, dass unsere Mutter Bauchspeicheldrüsenkrebs im fortgeschrittenen Stadium hatte, diesen könnte man nicht mehr in Griff bekommen, geschweige denn heilen. Wir waren fassungslos, denn wir verstanden nicht, warum dieser Krebs nicht schon vor drei Monaten entdeckt und unsere Mutter nicht dahingehend behandelt worden war. Nun war es zu spät! Der Chefarzt meinte noch, dass es mit ihr sehr schnell gehen könnte, vielleicht würde sie aber auch noch zwei, drei Monate leben. Das könnte man bei dieser Krankheit nicht absehen.
Ich wohnte damals 25 km von meiner Mutter entfernt, war in Vollzeit berufstätig und hatte ein kleines Kind zu versorgen. Dennoch besuchte ich Charlotte am Krankenbett so oft ich konnte. Aber unser eigenes Leben ging natürlich weiter und in den nächsten Tagen stand sogar eine Kurzreise an, die ich wegen der großen Nachfrage bereits im Januar gebucht hatte. Die Reise sollte nun Mitte Juni stattfinden und meinen kleinen Sohn und mich nach Hamburg führen. Dort wollten wir uns das Musical „Der König der Löwen“ ansehen und ein wenig die Stadt erkunden. Der Reisetermin rückte immer näher, Mutter war jedoch sterbenskrank und angesichts dieser Situation konnten wir doch unmöglich fahren. Das versicherte ich auch meiner Mutter.
Charlotte bestand jedoch darauf, dass mein Sohn und ich die Reise antraten. Sie würde sich bereits auf unsere Rückkehr und den Reisebericht mit vielen Fotos freuen. Und sie wollte bis zur Einschulung meines Sohnes Anfang September wieder fit sein! Das hatte sie sich fest vorgenommen, so zwinkerte sie uns zu. Ich hatte allerdings nicht mit ihr darüber gesprochen, dass sie Krebs hatte und ich wusste auch nicht, ob sie selbst über ihren genauen Zustand Bescheid wusste. Vielleicht wollte sie ihn einfach nicht wahrhaben und versuchte die Wahrheit zu verdrängen. Jedenfalls war ich mir bewusst, dass ihre Zuversicht, die sie uns vorgaukelte, nur eine Utopie war, an die wir uns nur zu gerne geklammert hätten. So verabschiedete ich mich von meiner Mutter mit einem lachenden und einem weinenden Auge.
Zwei Tage später fuhren mein Sohn und ich los. Der Zug war pünktlich und wir kamen am frühen Nachmittag in der Hafenstadt an. Nachdem wir uns frischgemacht hatten, fuhren wir voller Vorfreude ins Musical-Theater, das auf einer kleinen Insel liegt. Die Überfahrt mit der Fähre dorthin war natürlich für meinen damals sechsjährigen Sohn ein besonderes Highlight. Gespannt saßen wir dann auf unseren Plätzen und warteten auf den Beginn der Vorstellung, die um acht Uhr anfangen sollte.
Es wurde acht Uhr, aber nichts rührte sich hinter der Bühne!
Es wurde fünf nach acht, aber es passierte immer noch nichts!
Zehn nach acht, immer noch nichts, viertel nach acht, immer noch nichts…
Allmählich wurden im Publikum die ersten unruhigen Stimmen und Pfiffe laut. Endlich um zwanzig nach acht!!! erklang Musik und die ersten Darsteller tanzten durch die Reihen des Publikums auf die Bühne zu und zogen uns sogleich mit ihrer zauberhaften und großartigen Darbietung in ihren Bann. Während der zweieinhalbstündigen Vorstellung schlief mein Sohn zwar zwischendurch kurz ein, aber es war ja auch ein langer und harter Tag für den kleinen Kerl gewesen. Müde und glücklich fielen wir in unsere Hotelbetten und ich dankte meiner Mutter in Gedanken, dass wir so einen schönen Abend erlebt hatten.
Am nächsten Morgen genossen wir in einem roten Doppeldecker-Bus eine Stadtrundfahrt und kamen gut gelaunt gegen ein Uhr mittags ins Hotel zurück. Dort lag jedoch an der Rezeption ein Zettel für uns mit der Bitte, gleich zu Hause anzurufen. Ich bekam einen Riesenschreck, denn ich wusste gleich, dass mit Mutter etwas geschehen war. Während des folgenden Telefonats erfuhr ich, dass Charlotte am Vorabend gegen sechs Uhr ins Koma gefallen und so zwischen acht und viertel nach acht Uhr abends!!! endgültig von uns gegangen war.
Ich bin mir ganz sicher, auch heute noch, dass „der Geist meiner lieben Mutter über meinen Sohn und mich hinweg geschwebt ist“, weil sie sich von uns verabschieden wollte und dass dadurch die Vorstellung im Musical-Theater verspätet angefangen hat. Sicher mögen das viele Leute für Unsinn halten, aber für mich war dies ihr Abschiedsgruß, ohne jeden Zweifel.
Bei der Einschulung meines Sohnes, die zwei Monate später stattfand, haben wir Charlotte schmerzlich vermisst. Wie schön wäre es gewesen, wenn sie diesen besonderen Tag im Leben ihres jüngsten Enkels noch miterlebt hätte! Es hat nicht sein sollen.
Ihren letzten Gruß, den sie uns geschickt hatte, als wir im Theater saßen, werde ich jedoch nie vergessen!
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Texte: Rebekka Weber
Bildmaterialien: pixelio, FG Werner Stadelmann
Tag der Veröffentlichung: 02.05.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
*** Für Charlotte Elisabeth ***