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Es war zehn Uhr am Morgen. Sibylle warf rasch noch einen prüfenden Blick auf das Tablett. Nichts schien zu fehlen. Sechs Besucherkaffeetassen mit Untertellern nebst Kaffeelöffelchen standen zwischen zartgeblümten Servietten, Keksen, Zuckerwürfeln und kleinen Milchportiönchen.

 

Die junge Frau atmete tief durch und klopfte an die Türe des Konferenzzimmers. Als sie eintrat, verstummten die anwesenden Herren abrupt und ihr Chef blickte sie sogar recht unfreundlich an. Sofort hatte Sibylle das Gefühl, dass sie störte und sie beeilte sich, den Herren Kaffee einzugießen. Die Atmosphäre war angespannt, das merkte sie sofort! Außer Herrn Schröder, ihrem Chef und Geschäftsführer, waren Herr Friedemann, der Prokurist, Herr Dunkel, der technische Leiter und die drei anderen Gesellschafter der Firma anwesend, alle hatten ernste Gesichter und verzogen keine Miene, als sie sich selbst ein höfliches Lächeln abrang. Schnell verließ die Sekretärin das Zimmer wieder, setzte sich an ihren Schreibtisch und dachte über das seltsame Verhalten der Herren nach.

 

Sie arbeitete erst seit drei Monaten in dieser Firma, hatte sich jedoch schnell eingearbeitet und verstand sich mit Herrn Schröder, dessen rechte Hand sie war, bestens. Auch mit dem Prokuristen kam sie gut aus. Sie hatte jedoch bereits nach kurzer Zeit festgestellt, dass nicht alle Mitarbeiter der kleinen Firma – diese hatte gerade mal zehn Angestellte – kritiklos hinter Herrn Schröders Firmenpolitik standen. Das hatte sie von Gesprächen unter den Kollegen aufgeschnappt.

 

Während sie versuchte, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren, wurde auf einmal die Tür zum Sekretariat aufgerissen und Herr Schröder stürmte herein.
„Das lasse ich mir nicht gefallen!“, schnaubte er, außer sich vor Wut. „Von denen doch nicht! Ich werde sofort meinem Anwalt konsultieren!“
Er verschwand in seinem Zimmer, knallte die Türe hinter sich zu und griff nach seinem Telefon. Fünf Minuten nachdem er sein Gespräch beendet hatte, stürmte er wieder heraus, griff sich Hut und Mantel von der Garderobe und warf seiner Sekretärin im Hinausgehen zu: „Ich fahre jetzt zu meinem Anwalt. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird und wann ich zurück sein werde.“

 

Was war nur im Konferenzraum vorgefallen? grübelte Sibylle, die ziemlich verdattert an ihrem Schreibtisch saß. Aufklärung brachte Herr Friedemann, der Prokurist, der plötzlich neben ihr stand und sie bat, die Kollegen zusammenzurufen. Es gäbe etwas Wichtiges zu verkünden. Zehn Minuten später war die komplette Belegschaft versammelt.

 

Einer der noch anwesenden Gesellschafter ergriff das Wort: „Meine Damen und Herren, verehrte Kollegen und Kolleginnen. Ich möchte Ihnen mitteilen, dass wir soeben mit dreiviertel Stimmenmehrheit Herrn Schröder als Geschäftsführer der Forte Maschinenbau GmbH abgesetzt haben. Bis wir einen Nachfolger gefunden haben, bin ich vorläufiger Geschäftsführer. Wir, die Gesellschafter, untersagen Herrn Schröder, weiterhin die Geschäftsräume zu betreten. Bitte, Herr Friedemann“, damit wandte er sich dem langjährigen Mitarbeiter zu, „sorgen Sie dafür, dass die Schlösser an den Eingangstüren umgehend ausgewechselt werden.“

 

Keiner der Kollegen sagte ein Wort! Sibylle war völlig geschockt und verwirrt und die Gedanken schossen nur so durch ihren Kopf. Das konnte man doch nicht so einfach machen! Was hatte Herr Schröder denn verbrochen, das ein solch rüdes Verhalten rechtfertigte? Sie hatte in den vergangenen Wochen überhaupt nichts bemerkt, was auf ein Fehlverhalten ihres Chefs gedeutet hätte. Hilfesuchend blickte sie ihre Kollegen an, aber alle schauten nur betreten auf ihre Schuhspitzen. Ein junger Ingenieur, der genau wie sie gerade die Probezeit mit Bravour bestanden hatte, wurde in den nächsten Baumarkt geschickt und machte sich gleich nach seiner Rückkehr mit den neuen Schlössern in der Hand an die Arbeit.

 

Bevor die drei Gesellschafter die Firma verließen – mittlerweile war es halb zwölf geworden - kam der neue vorläufige Geschäftsführer an Sibylles Schreibtisch.

„Ich habe den Herren Friedemann und Dunkel Anweisung gegeben, die Geschäfte wie bisher weiterlaufen zu lassen. Sollten Sie irgendwelche Probleme haben, rufen Sie mich bitte in meinem Büro in Essen an. Sie wissen ja, wie Sie mich erreichen können.“

 

Sibylle war von den Vorkommnissen der vergangenen Stunde noch so benommen, dass sie nur nicken konnte. Nachdem sie sich jedoch ein wenig gefasst hatte, suchte sie das Büro des Prokuristen auf, der gerade mit dem technischen Leiter in eine heftige Diskussion verwickelt war.
„Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber kann mir bitte einer von Ihnen erklären, was hier eigentlich läuft? Warum ist Herr Schröder abgesetzt worden?“
„Er hat krumme Geschäfte gemacht!“, antwortete Herr Dunkel lapidar. “Und jetzt bekommt er die Quittung!“
„Das glaube ich nicht! Ich hab‘ nichts davon bemerkt!“
„Das konnten Sie auch nicht. Sie sind ja noch nicht so lange hier.“
„Ist das wahr Herr Friedemann, was Herr Dunkel da behauptet?“, fragte sie ungläubig.
Der Prokurist schaute verlegen und statt ihr zu antworten, zuckte er nur müde die Schultern.

 

Gegen dreizehn Uhr klingelte es an der Eingangstür. Sibylle betrat den Flur und sah durch die Glasscheibe Herrn Schröder vor der Türe stehen. Ihr Chef war ein großer, kräftiger Mann, Ende Fünfzig, glücklich verheiratet und hatte zwei Söhne, die beide studierten. Die Firma bedeutete ihm unglaublich viel. Er hatte sie mit aufgebaut und opferte sogar oft die Wochenenden, wenn wichtige geschäftliche Angelegenheiten riefen. Sibylle hatte er persönlich eingestellt und sie immer freundlich und höflich behandelt. Obwohl sich beide immer noch siezten, hatten sie fast ein Vater-Tochter-Verhältnis.

 

Jetzt rief Herr Schröder Sibylle jedoch ärgerlich und ein wenig ungehalten durch die Scheibe zu: „Verdammt noch mal, was ist denn nur mit der Türe los? Ich bekomme sie nicht auf. Würden Sie mir bitte aufmachen, Frau Berger?“
Ihr rutschte das Herz in die Hose und sie begann unwillkürlich zu zittern. Wie sollte sie sich nun verhalten? Unschlüssig blieb sie stehen und überlegte, was sie tun sollte. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie die nun einzige Verbindung zu Herrn Schröders Heiligtum, zu „seiner“ Firma war, das er nun unbedingt wieder betreten wollte. Sollte sie ihn hereinlassen? Hatte er das Recht hereinzukommen? Sie wusste es einfach nicht!

 

Herr Schröder klopfte an die Scheibe.
„Bitte, Frau Berger, nun machen sie schon auf!“, wieder- holte er, diesmal jedoch mit einem fast schon flehentlichen Unterton in seiner Stimme.
Schon legte sie die Hand an den Türknauf, als sie wieder an die strikte Anweisung dachte, die sie von den anderen Gesellschaftern bekommen hatte. Konnte sie diese Order ignorieren und würde eine Zuwiderhandlung nicht ihre fristlose Kündigung nach sich ziehen?
Sie seufzte, schüttelte schweren Herzens den Kopf und antwortete mit kläglicher Stimme: „Die Schlösser sind ausgewechselt worden, Herr Schröder. Ich darf Sie nicht reinlassen!“
„Ich bin immer noch der Geschäftsführer dieser Firma. Machen Sie doch bitte auf!“
Sie schüttelte resigniert den Kopf und schlich zu ihrem Schreibtisch zurück. Nach ein paar Minuten sah sie durch ihr Fenster, wie Herr Schröder in seinen Wagen stieg und davon brauste.

 

In den nächsten Tagen herrschte in der Firma eine seltsam angespannte Atmosphäre. Nach außen hin schien es, als wäre nichts Besonderes vorgefallen und als würde normal weitergearbeitet, aber Herr Schröder meldete sich jeden Tag per Telefon und ließ verlauten, dass er rechtliche Schritte eingeleitet hätte und bald wieder auf seinem Chefsessel sitzen würde. Und das wünschte sich Sibylle eigentlich in ihrem Innersten auch! Der ganze Stress in der Firma zerrte schließlich so an ihren Nerven, dass sie nach zwei Wochen so starke Rückenschmerzen bekam, dass sie nicht mehr arbeiten konnte und sich krankschreiben ließ.

 

In der darauffolgenden Woche, am Mittwochmorgen, als sie mit Wärmflasche im Kreuz auf ihrer Wohnzimmercouch lag, klingelte ihr Telefon. Herr Friedemann, der Prokurist der Firma, meldete sich am anderen Ende der Leitung.
„Ich habe Ihnen eine furchtbar traurige Nachricht zu übermitteln, Frau Berger“, ein kurzes Räuspern erklang, dann fuhr er fort. „Herr Schröder ist am Montag verstorben. Die Beerdigung ist am Freitag. Sicher möchten Sie auch, genauso wie die Belegschaft, kommen?“
„Ja, aber wieso denn? Warum? Was ist genau passiert?“, stammelte sie und suchte nach Worten. Diese Schreckensnachricht kam einfach zu plötzlich!
„Wir wissen es nicht genau. Wahrscheinlich etwas mit dem Herzen.“

 

Zur Herrn Schröders Beerdigung hatten die Kollegen Fahrgemeinschaften gebildet. Das sonnige Herbstwetter und der strahlend blaue Himmel passten jedoch nicht so recht zu dem traurigen Ereignis und Sibylle hoffte immer noch, jeden Moment aus einem furchtbaren Albtraum aufzuwachen. Aber die verweinten, verstörten Gesichter von Frau Schröder und den beiden Söhnen sprachen eine bittere Wahrheit. Als Sibylle nach der Andacht der Familie kondolierte, konnte sie ihre Tränen nicht zurückhalten.
„Es tut mir so leid, Frau Schröder, dass wir uns hier wiedersehen müssen!“, schluchzte sie. „Auf der Messe im August hatten wir doch noch zusammen Hand in Hand gearbeitet und so viel Spaß gehabt.“
„Danke, dass Sie gekommen sind“, erwiderte Frau Schröder leise und drückte ihre Hand.

 

Auf der Rückfahrt im Auto, als alle Insassen schweigend vor sich hinbrüteten, meinte Sibylle auf einmal: “Ich verstehe immer noch nicht, wieso Herr Schröder so plötzlich verstorben ist! Ich dachte immer, dass er obwohl er stark auf die Sechzig zuging kerngesund war.“
„Das war er auch“, antwortete Herr Dunkel. „Aber bei einem Jagdgewehr nützt auch der gesündeste Körper nichts.“
„Ich verstehe nicht was sie damit sagen wollen“, verständnislos sah Sibylle ihren Kollegen an, der ihr von Anfang an, seit ihrem Eintritt in die Firma, unsympathisch gewesen war.
„Er hat sich erschossen. Mit seinem Gewehr. Und die Putzfrau hat ihn tot im Schlafzimmer gefunden.“
„Aber, aber wieso denn?“, stammelte sie.
„Er konnte es nicht verkraften, dass er abgesetzt worden war und sah keinen Sinn mehr in seinem Leben. Mit 58 Jahren findet man ja so leicht keine neue Aufgabe mehr und vor allem nicht wieder eine Stelle als Geschäftsführer.“
„Aber das ist ja furchtbar!“, entfuhr es ihr. „Der arme Mann!“
„Ach, der ist es nicht wert, betrauert zu werden.“
„Also, hören sie mal“, sagte sie empört. „Immerhin habe ich eng mit ihm zusammen gearbeitet und zu mir war er immer freundlich.“
„Sie sind viel zu sensibel. In ein paar Wochen haben wir einen neuen Geschäftsführer und der wird den Laden wohl besser leiten.“
Der Wagen hielt vor dem Mietshaus, in dem Sibylle wohnte, und sie war froh aussteigen zu können.

 

In ihrer Wohnung angekommen, ließ sie sich aufs Sofa fallen und versuchte, sich zu beruhigen. Die Offenbarung des Kollegen hatte ihr doch sehr zugesetzt. Wieder und wieder spielte sich in ihrem Kopf die Szene ab, als ihr Chef bettelnd vor der Firmentür gestanden hatte. Wäre alles anders gekommen, wenn sie ihn hereingelassen hätte? Wenn sie die neue Firmenanordnung ignoriert hätte? Wenn sie auf ihr Herz statt auf ihren Verstand gehört hätte? Es war müßig darüber nachzudenken, denn die Vergangenheit konnte sie doch nicht ändern. Erschöpft schloss sie die Augen und schlief auf den Kissen ein.

 

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Impressum

Texte: Rebekka W.
Bildmaterialien: pixelio, Fotograf Cornelia Menichelli
Tag der Veröffentlichung: 06.01.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
*** Mein Beitrag zum Januar-Wettbewerb 2013 der Kurzgeschichtengruppe ***

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