Wenn ich meine Familiengeschichte erzähle, sagen viele Leute: „Boah, die ist ja ganz schön kompliziert!“ Das finde ich selbst nicht, aber vielleicht ist sie für Außenstehende besser verständlich, wenn ich sie aufschreibe. Es mag vielleicht etwas verwunderlich klingen, dass ich gleich zu Anfang das „Singen“ erwähne, dies klärt sich jedoch am Ende meiner Geschichte auf.
Ich bin in der bergischen Klingenstadt geboren und habe dort eine glückliche Kindheit und Jugend verbracht. Zu Hause hörten wir viel und oft Radio und Schallplatten, aber gesungen haben wir selten, auch zu Weihnachten nicht.
„Mir haben sie immer gesagt, ich könnte nicht singen“, meinte meine Mutter zu mir, „ich würde brummen, und du brummst auch!“
Da ich dieses Stigma nun einmal hatte, hielt ich mich in der Schule im Musikunterricht zurück. Obwohl wir dort wirklich schöne Sachen sangen, z.B. schottische Volkslieder wie „Loch Lomond“, oder schmissige italienische Lieder wie „Funiculi, Funicula“. Ich hätte gerne laut mitgesungen, aber es hieß ja, ich könnte nicht singen. In meiner Teeniezeit war dann eine Band aus Liverpool sehr populär. Ich saß oft stundenlang vor dem Radio – damals gab es MTV und Viva noch nicht – und versuchte, die Texte mitzuschreiben. Leise sang ich mit. Ich hätte gerne Gitarrespielen gelernt, aber meine diesbezüglichen Ambitionen wurden ja zuhause nicht ernst genommen.
Und nun komme ich zu den Familienverhältnissen: Meine Mutter, inzwischen ist sie verstorben, hatte aus erster Ehe drei Söhne. Das waren meine drei Brüder, eigentlich meine Halbbrüder. Nach dem Krieg hatte der erste Mann meiner Mutter, also der Vater meiner drei Brüder, meine Mutter verlassen und eine andere Frau geheiratet. Meine Mutter blieb eine Zeitlang allein, dann lernte sie durch eine Bekanntschaftsanzeige einen Mann aus Süddeutschland kennen und verliebte sich in ihn. Dieser Mann ließ meine Mutter über seine Familienverhältnisse im Unklaren. Er erzählte ihr nur, er wäre schon einmal verheiratet gewesen und hätte Kinder. Aber wie viele Kinder er hatte, das verriet er meiner Mutter nicht. Das blieb lange Jahre ein großes Geheimnis. Meine Mutter wurde dann von diesem Mann schwanger. Da sie schon drei Söhne hatte, wünschte sie sich eine Tochter. Dieser Wunsch ging in Erfüllung, denn sie bekam ein Mädchen: mich. Geheiratet haben meine Eltern nicht. Mein Vater starb vier Monate nach meiner Geburt an einem Gehirntumor und so habe ich ihn nie kennengelernt.
Nach seinem Tode beantragte meine Mutter Halbwaisenrente beim Jugendamt und bekam dort zunächst einmal einen Schock: Es stellte sich nämlich heraus, dass mein Vater noch verheiratet gewesen war. Er hatte Frau und Kinder verlassen, die Verbindung zu ihnen komplett abgebrochen und war in meine Geburtsstadt gezogen. Seine Witwe war nun natürlich alles andere als erfreut, als sie übers Jugendamt erfuhr, dass ihr treuloser Ehemann noch ein weiteres Kind gezeugt hatte. Einen Kontakt mit meiner Mutter lehnte sie kategorisch ab.
So wuchs ich ohne Vater auf. Aber ich hatte ja ältere Brüder, die nur zu gerne während ihren Besuchen Erziehungsversuche an mir unternahmen. Meine Brüder nannten mich aber nicht „Maus“ oder „Mäuschen“, so wie ältere Geschwister oft liebevoll ihre kleine Schwester rufen, sondern „Ratte“ oder sogar „Rohrratte“. Aber das war nicht böse gemeint, denn mit meinen Brüdern habe ich mich immer gut verstanden. Da wir alle groß und blond sind, fiel und fällt es nicht auf, dass wir nicht den gleichen Vater haben. Und ich habe sie nie als Halbbrüder angesehen, sondern als meine richtigen Brüder. Ich hatte auch liebevolle Großeltern, die Eltern meiner Mutter, die sich um mich kümmerten. Als meine Großmutter starb, zog mein Großvater zu meiner Mutter und mir und lebte bis zu seinem Tode bei uns. Ich erinnere mich, dass ich mit meinem Opa oft Räuberskat gespielt und Bonanza im Fernsehen geguckt habe.
Einer meiner drei Brüder zog später nach München. Meine Mutter und ich haben ihn oft besucht. Wenn wir auf der Autobahn an der Stadt vorbeifuhren, in der mein Vater gewohnt hatte, sagte meine Mutter immer zu mir: „Stell’ dir vor, du gehst dort spazieren und dann läuft dir jemand über den Weg, der genauso aussieht wie du!“
Ich nahm mir vor, irgendwann einmal nachzuforschen, ob ich tatsächlich noch weitere Geschwister hatte.
Und wie das Schicksal so spielt! Als ich Anfang dreißig war, bekam ich Rückenprobleme und durfte deshalb eine Kur machen. Während dieses Kuraufenthaltes lernte ich eine Frau kennen, die in der Nachbarstadt der Stadt, aus der mein Vater kam, wohnte. Ich freundete mich mit ihr an und erzählte ihr meine Familiengeschichte. Sie lud mich ein, sie einmal zu besuchen, und sie versprach, mir bei der Suche nach meinen Halbgeschwistern väterlicherseits zu helfen.
Nach der Kur fasste ich mir zunächst ein Herz und schrieb an die Witwe meines Vaters. Ihren vollständigen Namen und ihre Adresse hatte ich im Telefonbuch gefunden. Damals lebte ich schon in Düsseldorf und bewohnte in der Innenstadt ein Apartment im fünften Stock. Nach ein paar Wochen steckte in meinem Briefkasten ein großer Umschlag, Absender war die Witwe meines verstorbenen Vaters. Mir klopfte das Herz bis zum Halse, als ich den Umschlag aufmachte. Aber der Brief war nicht von der Witwe, sondern von ihrer jüngsten Tochter geschrieben worden, die den gleichen Vornamen wie sie hatte, also von meiner Halbschwester, von deren Existenz ich bis jetzt nichts gewusst hatte. Und dann erfuhr ich aus diesem Brief so viele Neuigkeiten auf einmal, dass ich mich erst einmal auf die Treppenstufen setzen musste. Ich glaube, ich habe dort eine Stunde gesessen und versucht, die Nachrichten, die soeben auf mich einstürmten, zu erfassen und zu begreifen!
Mein Vater, oder besser gesagt mein Erzeuger, so schrieb meine Schwester, hätte im Krieg im Konzentrationslager in Dachau gearbeitet - unfreiwillig. Als er nach Kriegsende nach Hause kam, wäre er verändert, wahrscheinlich schon krank, gewesen. Er hätte ihre Mutter und die Geschwister verlassen. Die Frau, die mir nun schrieb, war das jüngste von zehn Kindern! Ich hatte also tatsächlich noch fünf Schwestern und fünf Brüder. Mit zwei Brüdern oder Schwestern, oder vielleicht auch mit drei Geschwistern hatte ich ja gerechnet – aber nicht mit zehn. Das war unglaublich! Ich konnte es nicht gar nicht fassen! Es dauerte eine geraume Weile, bis ich schließlich nach oben in meine Wohnung gehen und dort weiterlesen konnte.
Lange Zeit hätte die Familie nicht gewusst, wo sich der Vater aufhielt, aber er wäre schon immer ein Frauenschwarm und Filou gewesen. In seiner Heimatstadt hätte mein Vater nicht den besten Ruf gehabt. Wahrscheinlich hat er sogar, außer mir, noch weitere uneheliche Kinder gezeugt, so vermutet seine Familie. Seine von ihm verlassene Ehefrau war nicht gerade glücklich gewesen, als sie erfuhr, dass er tatsächlich noch ein weiteres Kind, nämlich mich, in Solingen gezeugt hatte.
Viele Jahre waren nun vergangen. Die Witwe meines Vaters, der ich geschrieben hatte, wollte keinen Kontakt mit mir, aber sie verstand, dass ich näheres über meine Geschwister wissen wollte. Deshalb hatte sie meinen Brief an meine jüngste Schwester weitergegeben. Ich erfuhr, dass alle Geschwister noch lebten, außer einer Schwester, die im Jahr meiner Geburt gestorben war. Und alle Geschwister wohnten noch in ihrer Heimatstadt, nur eine Schwester war aus beruflichen Gründen ins Rheinland gezogen. Meine jüngste Schwester, die den Brief geschrieben hatte, und noch sechs weitere Geschwister wollten mich kennenlernen, die anderen hatten kein Interesse.
Ein paar Wochen später besuchte ich meine Bekannte aus dem Kururlaub und wohnte ein paar Tage bei ihr. Mit meinen „neuen“ Geschwistern verabredete ich telefonisch ein erstes Treffen, und meine Freundin fuhr mich mit ihrem Wagen dorthin. Als ich aus dem Auto stieg, hätten mich meine Halbgeschwister sofort erkannt, so erzählten sie mir später. Sie hätten einstimmig genickt und gesagt: „Ja, das ist sie! Sie hat die gleiche Nase wie der Vater, und sie sieht ihm sehr ähnlich!“
Es war ein sehr bewegender Moment, als ich - damals war ich 32 Jahre alt - das erste Mal meinen Halbgeschwistern väterlicherseits gegenüberstand. Einige waren wie ich blond, mittlerweile sind sie auch grau, und blauäugig – wir sehen uns tatsächlich ähnlich - die anderen ähneln mehr ihrer Mutter, die dunkle Haare und dunkle Augen hatte. Nachdem wir uns beschnuppert hatten und uns sympathisch fanden, wollten wir unsere Beziehung festigen. So habe ich meine „neuen“ Geschwister in den folgenden Jahren ein paar Mal besucht, mal für einige Tage bei dem einen Bruder, mal bei dem anderen gewohnt. Ich lernte einige meiner dortigen, vielzähligen Neffen und Nichten kennen, 28 sind es insgesamt. Ein richtiges Familienzusammengehörigkeitsgefühl ist jedoch nicht gewachsen. Uns fehlen halt die Jahre einer gemeinsamen Kindheit, die uns vielleicht zusammengeschweißt hätten. Und seit mein ältester Bruder, zu dem ich noch den engsten Kontakt hatte, vor einigen Jahren verstorben und meine Schwägerin zu ihrer Tochter in die Nähe der ostdeutschen Grenze gezogen ist, ist der Kontakt zu den anderen Geschwistern sogar eingeschlafen.
Eine Sache ist jedoch erstaunlich: alle meine Halbgeschwister väterlicherseits singen gerne. In ihrer Kindheit wäre im Elternhaus viel gesungen worden, so haben sie mir erzählt. Einige meiner Geschwister singen heute noch im Gesangsverein oder im Chor. Eine Schwester ist sogar Opernsängerin und hat in der Rheinoper gesungen, mittlerweile ist sie pensioniert.
Also hatte ich mir eines Tages gedacht, dass ich vielleicht doch ein paar von den väterlichen Genen geerbt habe. Und dann traute ich mich endlich und trat unserem Gemeindechor bei. Dort habe ich ca. zehn Jahre lang mitgesungen. Leider zog die Chorleiterin in eine andere Stadt und das neue Repertoire gefiel mir nicht mehr. Seit fünf Jahren treffe ich mich jedoch einmal im Monat im kleinen Freundeskreis und dann spielen wir Gitarre, singen Oldies, Rock- und Popsongs.
Und was ich noch erzählen wollte: Die Kleinstadt, in der meine Halbgeschwister väterlicherseits leben, ist übrigens die gleiche, aus der ein junger deutscher Formel-Eins-Rennfahrer kommt. Dieser junge Mann macht seit drei Jahren durch seine sportlichen Erfolge von sich reden und hat jetzt den dritten Grand-Prix-Sieg eingefahren. Würde mich nicht wundern, wenn ich mit diesem Rennfahrer auch verwandt wäre…
* * *
Texte: Rebekka Weber
Bildmaterialien: eigenes Foto, die Autorin im zarten Alter von sechs Jahren
Tag der Veröffentlichung: 08.12.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
*** 2. Platz im Wettbewerb autobiografischer Texte Dezember 2012 ***