Ich bin in der bergischen Großstadt, die für die Produktion ihrer Klingen bekannt ist, geboren und aufgewachsen. Aufgrund ihrer sehr hügeligen Lage bietet die Stadt in schneereichen Wintern – und die gab es in meiner Kindheit eigentlich immer – viele Möglichkeiten, um dort Schlitten zu fahren. Ich erinnere mich nur zu gerne an die „Todesbahn“. Diese Abfahrt verdankte ihren makabren Name ihrer Lage direkt neben dem Friedhof und weil sie extrem steil nach unten führte. Viele Male bin ich dort hinunter gesaust, habe den Schlitten schnell wieder hochgezogen, gleich wieder aufgesessen… und ab ging die neue Fahrt bergrunter!
Fahrradfahren im Sommer machte auch viel Spaß, aber eigentlich nur wenn es bergab ging, denn die vielen oft sehr steilen Hügel wieder hinaufzutreten war ganz schön anstrengend. Trotzdem wünschte ich mir zu Weihnachten ein neues schickes Fahrrad, denn das alte klapprige Hollandrad, das ich einmal geerbt hatte, war in die Jahre gekommen und ich genierte mich sehr, weiter darauf herumzufahren.
An diesem Heiligabend, von dem ich nun erzählen möchte, bat mich meine Mutter, dass ich mich für die Bescherung doch umziehen möchte. Ich muss damals elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein und lief meistens in meinen heißgeliebten rosa Cordhosen und braunen Wildlederboots herum. Ich sah gar nicht ein, dass ich mich für den Anlass anders kleiden sollte, denn ich fühlte mich in meinen Sachen sehr wohl. Meine Mutter war dann leicht angesäuert, konnte mich aber nicht überreden, ihrer Bitte nachzukommen.
Ich muss nun erklärend hinzufügen, dass mein Vater sehr früh verstorben war und ich mit meiner Mutter und meinem Opa zusammenlebte. Aus der ersten Ehe meiner Mutter habe ich drei Brüder, die alle schon aus dem Haus waren. An diesem Abend war jedoch mein jüngster Bruder bei uns zu Gast, der in der Landeshauptstadt studierte und dort eine Studentenbude besaß.
Meine Mutter hatte nun den Baum geschmückt, klingelte mit dem Glöckchen und zu den Weihnachtsliedern eines Kinderchores, die von einer LP erklangen, traten mein Opa, mein Bruder und ich in das festlich dekorierte Wohnzimmer ein. Ich ließ meine Blicke umher schweifen, das heiß ersehnte Fahrrad konnte ich leider nirgendwo erspähen. Unter dem Christbaum lagen nur viele kleine Päckchen.
Nachdem wir gegessen und uns beschert hatten, intonierte mein Opa mit brüchiger Stimme „Es ist ein Ros entsprungen“. Das gehörte zu unserem weihnachtlichen Ritual. Großvater war übrigens der einzige, der in unserer
Familie sang, denn alle anderen Familienmitglieder hielten sich für ziemliche „Brummer“. Opa bestand jedoch alljährlich auf seiner Gesangsdarbietung, obwohl seine Stimme immer spröder wurde und auch diesmal bei „bracht“ ganz „in den Keller rutschte“. Damit war seine weihnachtliche Gesangseinlage auch beendet.
Nun kam mein Bruder mit seinem „Vortrag“ an die Reihe. Er war mit seinen zwei Brüdern im Krieg aufgewachsen und erzählte oft, wie sie als Kinder immer sehr karge Weihnachten erlebt hatten. Sein Lieblingsgedicht, das uns jedoch immer zum Schmunzeln brachte, lautete so:
„Der Weihnachtstisch ist öd und leer,
die Kinder stehen blöd umher.
Da lässt der Vater einen krachen,
da fangen alle an zu lachen.
So kann man auch mit kleinen Sachen,
den Kindern eine Freude machen.“
Nach seinem Beitrag klingelte es an der Eingangstür und mein zweiter Bruder kam schwer beladen die Treppe hinauf.
„Das Kind wollte sich nicht umziehen!“, beschwerte sich meine Mutter, gleich nachdem mein Bruder eingetreten war und das funkelnagelneue Fahrrad in der Diele abgestellt hatte.
„Wenn du dich nicht umziehst“, meinte mein Bruder zu mir, „dann nehme ich das Fahrrad wieder mit!“
„Ist mir doch egal!“, erwiderte ich trotzig. „Ich zieh‘ mich nicht um!“
Und… weg war mein Bruder mitsamt dem neuen Fahrrad, das er auf Wunsch meiner Mutter besorgt hatte und vorbeibringen wollte. Heiligabend wollte er dagegen mit seiner Frau und den Schwiegereltern in seiner eigenen Wohnung feiern.
Am nächsten Morgen war ich doch ziemlich geknickt, weil ich mein heißersehntes Geschenk nicht bekommen hatte! Meine Mutter hatte mir längst verziehen, weil ich mich am Vorabend nicht umgezogen hatte. Sie tröstete mich und meinte, dass ich nun zu Fuß zur Wohnung meines Bruders gehen und mein Geschenk selbst abholen sollte.
Nur – wir wohnten oben auf dem Berg und mein Bruder unten im Tal. So kam ich ob des langen Fußmarsches schon ziemlich geschafft bei meinem Bruder an, erhielt das Fahrrad und… musste, obwohl ich nun schon genug gestraft war, das Fahrrad auch noch den Berg nach Hause hochschieben. Es hatte zwar noch nicht geschneit und die Wege waren trocken, aber zum Hochradeln hatte ich einfach noch nicht die Kondition und Puste!
Auf jeden Fall war mir dieser Vorfall eine Lehre gewesen und soweit ich mich erinnern kann, habe ich mich von da an auch immer lieb und brav am Heiligabend umgezogen.
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Texte: Rebekka Weber
Bildmaterialien: Cover eigenes Foto, Fahrrad und Liedtext frei zur nichtkommerziellen Nutzung
Tag der Veröffentlichung: 23.12.2012
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