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Das Handy brummte. Ein wenig schläfrig langte sie in ihre Hosentasche, zog es hervor und las die Nachricht, die gerade von ihrer Mom eingegangen war: „Alles klar bei dir, Kleines?“
“Ja, sicher! Sitze gerade im Bus“, schrieb sie zurück.
„Ich vermisse dich!“
„Ich dich auch!“
„In zwei Tagen bist du ja wieder hier.“
„Ja, ich freu‘ mich!“
„Ich mich auch. See you!“

 

Sie steckte das nagelneue Smartphone, das sie zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, wieder ein und blickte aus dem Fenster. Grün und hügelig breitete sich die südenglische Landschaft vor ihr aus. In einer Stunde sind wir da, hatte der Busfahrer durch den Lautsprecher bekanntgegeben. Allerdings steckten sie jedoch seit fast zwei Stunden in einem Stau und es ging nur Stop-and-Go weiter. Endlich hatten sie die Ausfahrt nach Stonehenge erreicht und reihten sich in den nie-enden-wollenden Besucherstrom ein.

 

Jennifer und ihre Mitschüler waren frühmorgens aus Cambridge, der Stadt im Nordosten Londons, losgefahren und hatten nun am frühen Nachmittag endlich ihr Ziel erreicht. Erleichtert stiegen die Jugendlichen aus und folgten ihrer englischen Lehrerin, die diese Abschlussfahrt für sie organisiert hatte. Erst vor kurzem war ein Tunnel eröffnet worden, der vom Parkplatz direkt unter der stark befahrenen Autobahn hinweg zu den berühmten Steinen führte. Leider war es nicht mehr erlaubt, zwischen den Megalithen frei umherzugehen. Vor einigen Jahren hatten die Behörden den freien Zugang unterbunden, da der Vandalismus zunahm und mehr und mehr Besucher Stücke von den Steinen abbrachen, um diese dann als Andenken mitzunehmen.

 

Nichtsdestotrotz war der Anblick der hohen Megalithen sehr beeindruckend. Interessiert hörte Jennifer den Ausführungen ihrer Lehrerin zu, die erzählte, dass sich viele Sagen und Legenden um den Bau dieser Anlage rankten. Waren es Aliens gewesen, die mit den Steinen einen Landeplatz markierten? Oder war es der Zauberer Merlin aus der Artussage gewesen, der diesen Steinkreis hier errichtet hatte? Oder hatte doch der Teufel seine Hand im Spiel gehabt? Nach den neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen hatten wahrscheinlich Kelten – das waren die Ureinwohner dieses Landstriches – um 3000 v. Chr. angefangen, hier in Stonehenge eine religiöse Kult- und Grabstätte zu errichten. Andere Forscher datierten den Zeitpunkt, als dort der erste Graben ausgehoben und der erste Stein gelegt wurde, auf noch viel früher.

 

Als Jennifer zum Parkplatz zurückkam, schaute sie sich ein wenig in dem kleinen Andenkenladen um. Die meisten ihrer Mitschüler waren noch unterwegs, um Fotos zu schießen. In einer halben Stunde sollten jedoch alle wieder am Bus sein, um die Rückfahrt nach Cambridge anzutreten. Besser wäre es, noch einmal für kleine Mädchen zu gehen, bevor wir losfahren, dachte Jennifer und machte sich auf die Suche nach den Besuchertoiletten.

 

Als sie sich die Hände am Waschbecken wusch und in den Spiegel schaute, glaubte sie auf einmal, ihren Augen nicht trauen zu können. Sie sah sich zweimal im Spiegelbild! Erstaunt und über alle Maßen erschrocken drehte sie sich um und blickte dem Mädchen, das hinter ihr stand, ins Gesicht. Tatsächlich, dieses Mädchen musste ungefähr so alt wie sie sein, hatte das gleiche rötlich-blonde Haar, die gleiche Augenfarbe und Gesichtszüge, nur dass auf ihrer kleinen, gerade Nase ein paar Sommersprossen prangten.
„Hey“, sagte Jennifer, „you look like me! Du siehst genauso aus wie ich!”
„Yeah“, antwortete das Mädchen, „I just wanted to say the same to you! Ja, das wollte ich auch gerade zu dir sagen!”
“It’s really incredible! Das ist wirklich unglaublich!”, riefen beide wie aus einem Mund.
„Woher kommst du?“, fragte Jennifer. „Bist du Engländerin?“
„Ja, ich komme aus einer kleinen Stadt an der Grenze zu Wales. Ich bin mit ein paar Freunden hier. Woher kommst du?“
„Aus Deutschland. Ich mache gerade Sprachferien in Cambridge. Wie heißt du?“
„Julia. Und du?“
„Jennifer. Ich muss allerdings gleich zum Bus zurück, hab‘ nur noch wenig Zeit. Hast du Lust, draußen ein wenig zu plaudern?“
„Ja, gerne!“

 

Die beiden Mädchen setzten sich auf einen Stein am Rande des Parkplatzes und sahen sich erst einmal genau von oben bis unten an. Sie waren beide ungefähr gleich groß, Julia war nur ein klein wenig pummeliger. Beide waren auch tatsächlich gleich alt, nämlich sechzehn. Julia war am 10. Januar in Shrewsbury geboren und Jennifer am 5. Januar im gleichen Jahr in Köln.
„Dann können wir keine Zwillinge sein, wenn wir nicht am gleichen Tag geboren sind“, lachte Julia.
„Vielleicht doch“, grinste Jennifer, „das müssen wir herausfinden! Wir müssen unbedingt in Kontakt bleiben!“
Die Mädchen tauschten ihre email-Adressen und Handy-Nummern aus, dann ging jede zu ihrer Reisegruppe zurück.

 

Als Jennifer wieder im Bus saß, dachte sie über diese unglaubliche Begegnung nach. Hatte Esther, ihre Mutter, ihr vielleicht verschwiegen, dass sie eine Zwillingsschwester hatte? Soweit sie sich erinnern konnte, war sie jedoch immer mit ihrer Mutter alleine gewesen. Sicher, da gab es einen Erzeuger, der den Kontakt zu Esther jedoch schon während ihrer Schwangerschaft abgebrochen hatte. Auch auf den Baby-Fotos, die ihre Mom, wie sie ihre Mutter nannte, sorgfältig in Alben geklebt hatte, war immer nur ein Baby zu sehen gewesen. Sie beschloss, gleich nach ihrer Rückkehr diese Familienangelegenheit genauestens aufzuklären.
 
  Als sie am Abend wieder auf ihrem Zimmer in der Sprachschule war, schrieb sie gleich eine Nachricht per SMS an ihre neue Bekannte und Julia antwortete prompt. Jennifer erfuhr, dass ihre „Twin Sister“, also Zwillingsschwester, wie sie sie spaßeshalber von nun an nannte, allein mit ihrem Vater zusammenlebte. Dieser hieß Ben, war Musiker und viel unterwegs. Julia hätte eine Stiefmutter gehabt, von der sich der Vater vor ein paar Jahren getrennt hätte. Bei dieser Gelegenheit hatte Ben ihr erzählt, dass ihre Stiefmutter gar nicht ihre richtige Mutter war. Ihre richtige Mutter hätte den Vater und sie kurz nach der Geburt verlassen, weil sie ihre Karriere als Sängerin wegen des Babys nicht gefährden wollte. Mehr hatte Julia nicht erfahren, da Ben nicht gerne darüber sprach. Jetzt hätte Julia eine Nanny, die sich um den Haushalt kümmerte.

 

* * * 

 

Zwei Tage später hielt der Bus mit den Heimkehrern auf dem heimatlichen Busbahnhof und Jennifer fiel ihrer Mutter glücklich um den Hals. Sie freute sich sehr, dass Esther es geschafft hatte, sich freizunehmen und sie abzuholen. Als Personalchefin einer großen Firma war sie nämlich sehr eingespannt und musste oft Überstunden machen. Mutter und Tochter verstanden sich jedoch prächtig in ihrem Zwei-Frauen-Haushalt. Es gab zwar ab und zu einen Mann in Esthers Leben, aber keiner blieb jemals auf Dauer. Jennifers Mutter verdiente sehr gut, war großzügig und las ihrer Tochter jeden Wunsch von den Augen ab. Den vierwöchigen Sprachurlaub in England hatte sie Jennifer geschenkt, weil sie in diesem Sommer keine Gelegenheit hatten, gemeinsam in Urlaub zu fahren. Als sie nun das Reisegepäck im Kofferraum verstaut hatten, lenkte Esther den Wagen durch den abendlichen Berufsverkehr zu ihrer gemütlichen Altbauwohnung in Köln-Lindenthal. Während der Fahrt erzählte Jennifer aufgeregt von ihren Erlebnissen in England, zu denen Ausflüge nach London, Stratfort-on-Avon und natürlich Stonehenge gehört hatten.

 

Als Mutter und Tochter sich abends gemütlich auf der Wohnzimmercouch fläzten, fragte Jennifer: „Sag‘ mal Mom, hast du mir eigentlich etwas verschwiegen was meine Geburt betrifft?“
„Nein, warum sollte ich?“
„Hast du mal was mit einem englischen Musiker gehabt? War der vielleicht mein Erzeuger?“
„So ein Blödsinn! Wie kommst du denn darauf?“
So erzählte Jennifer ihrer Mutter von ihrer wundersamen Begegnung mit Julia und dass dieses Mädchen ihr so ähnlich sah.
Esther musste hellauf lachen: „Ha, ha! Und jetzt glaubst du, ich hätte ein Baby nach der Geburt weggegeben und ihr habt euch beide zufällig wiedergetroffen, so wie in dem Buch ‚Das doppelte Lottchen‘ von Erich Kästner! Ha, ha, das ist zu lustig! Hör‘ mal, meine Kleine, so etwas gibt es doch nur im Film!“
„Ja, aber Julia sieht mir wirklich unglaublich ähnlich!“
„Das mag ja sein, aber sie ist wahrscheinlich eine Doppelgängerin von dir. So etwas gibt es tatsächlich im Leben! Und ich habe dir doch erzählt, dass dein Vater, ähem dein Erzeuger, nichts von uns wissen wollte. Es war ganz schön schwer, dich während des Studiums alleine aufzuziehen, aber lieber hätte ich mir die Zunge abgebissen, als ihn um Alimente zu verklagen. Aber das hab‘ ich dir doch alles schon zig Mal erzählt!“
„Och, ich hätte so gerne noch eine Schwester gehabt, Mom! Schade, dass du dich nicht noch einmal richtig verliebt hast!“
„Tja, was soll ich machen, wenn mir der Richtige nicht über den Weg läuft? Aber wir zwei sind doch auch alleine ganz glücklich! Nicht wahr, meine Kleine?“
Jennifer nickte und kuschelte sich an ihre Mutter.

 

* * * 

 

Jennifer und Julia hatten ihre Skype-Namen ausgetauscht und als Jennifer ihre neue Freundin über Skype anrief und ihr Bild auf dem Bildschirm erschein, war Esther sehr verblüfft. Julia sah ihrer Tochter tatsächlich zum Verwechseln ähnlich! Sie hatte jedoch nichts dagegen, dass Jennifer weiterhin den Kontakt zu ihrer neuen Freundin pflegte. Ganz im Gegenteil, denn durch diese neue Freundschaft besserten sich Jennifers Englischkenntnisse erheblich! Die beiden Mädchen hatten sogar ähnliche Interessen und so ging ihnen der Gesprächsstoff nicht aus.

 

Eigentlich brannte Jennifer nun darauf, allen Freunden und Bekannten zu verkünden, dass sie eine Doppelgängerin und vielleich sogar eine Zwillingsschwester hatte. Plötzlich hatte sie jedoch eine Idee und sie beschloss, vorerst niemandem von ihrer Ferienbekanntschaft zu erzählen. Es fiel ihr zwar unsagbar schwer, aber sie hielt sich im Zaum! Eine Woche später fing die Schule wieder an. Jennifer war tagsüber wieder sehr eingespannt und freute sich jeden Abend umso mehr darauf, mit Julia zu korrespondieren und zu chatten. Die Engländerin ihrerseits hatte Ben, ihrem Vater, von Julia erzählt und er hatte sich ebenfalls sehr gefreut, dass seine Tochter eine nette Freundin gefunden hatte.

 

„Bitte, bitte, Mom!“, bettelte Jennifer eines Tages. „Können wir Julia nicht einmal für ein paar Tage einladen? Vielleicht in den Herbstferien?“
„Gerne, wenn Julias Papa auch einverstanden ist!“
Ben war einverstanden und die Mädchen fieberten den Ferien entgegen. Leider hatte Julia, anders als Jennifer in Deutschland, nur eine Woche Herbstferien. Aber ihr Vater meinte, das würde zunächst genügen, um sich zu „beschnuppern“. Als Esther und Jennifer ihren Gast am Flughafen abholten, fielen sich die beiden Mädchen gleich vor Freude um den Hals. Und Esther war wirklich verblüfft, wie ähnlich sich die beiden Mädchen sahen.
„Komm‘ schon Mom, gib endlich zu, dass Julia meine richtige Zwillingschwester ist und du dich von Ben getrennt hast!“
„Nein, nein“, lachte Esther, „nun glaubt mir doch, dass ich nur ein Baby hatte! Ich hätte auch nie ein Kind weggeben können!“

 

In den folgenden Tagen, die Julia in der Domstadt weilte, verstanden sich die drei prächtig und Esther schloss das junge Mädchen aus England gleich in ihr Herz. Tagsüber machten die Mädels Sightseeing, abends bereiten sie ein leckeres Abendessen vor, über das sich Esther sehr freute, wenn sie müde nach Hause kam. Am letzten gemeinsamen Wochenende machten alle zusammen einen Ausflug ins Sauerland, um bei dieser Gelegenheit die Oma zu besuchen. Den größten Spaß hatten die Mädels jedoch, als sie shoppen gingen und sich die gleichen Klamotten kauften: Lustige Sweatshirts, Jeans und bunte Kappen. Als sie sich dann gleich gekleidet mit Jennifers Freunden und Bekannten trafen, fielen diese erstmal in Ohnmacht, da diese glaubten, plötzlich doppelt zu sehen. Und Jennifer freute sich riesig, dass sie es geschafft hatte, im Vorfeld nichts von ihrer Ähnlichkeit mit Julia erzählt zu haben.

 

Die Zeit von Julias Besuch ging nur zu schnell um. Als Jennifer und Esther den Gast aus England wieder zum Flughafen brachten, fiel allen der Abschied sehr schwer.
„Ich werde meinen Dad fragen, ob ihr uns demnächst besuchen könnt. Ah, ich hab‘ eine Idee! Habt ihr Weihnachten schon etwas vor? Das wäre doch toll, wenn wir die Feiertage zusammen verbringen könnten!“
„Warten wir erstmal ab, was dein Vater dazu sagt“, meinte Esther und versuchte, die Euphorie ein wenig zu dämpfen.

 

Als Julia jedoch wieder zuhause war und mit Begeisterung von ihrer „Twin Sister“ und deren Mutter schwärmte, meinte auch Ben, dass es eine Superidee wäre, die Feiertage und vielleicht auch den Jahreswechsel gemeinsam zu feiern. Seit der Trennung von seiner zweiten Frau fühlte er sich oft recht einsam, wenn er denn mal wieder zuhause war. Glücklicherweise musste er über die Feiertage nicht ins Musikstudio, das konnte er schon absehen. Und so wurde schon bald eine Einladung nach Deutschland geschickt.

 

Aufgeregt kamen Jennifer und Esther am Heiligabend mit dem Flieger in Manchester an und wurden selbstverständlich von ihren neuen Freunden mit dem Wagen abgeholt. In zwei Stunden hatten sie Shrewsbury erreicht, wo Julia und Ben in einem gemütlichen Einfamilienhaus am Stadtrand wohnten. Sie hatten sogar einen kleinen Garten, hinter dem sich gleich ein Wäldchen anschloss.



Ben wollte, dass sich der Besuch aus Deutschland bei ihnen wohlfühlte und so zündete er zur Begrüßung das Feuer im Wohnzimmerkamin an. Als die Flammen lustig züngelten, entkorkte er eine Flasche Portwein und alle stießen gemeinsam auf eine schöne Zeit an.

 

„Ja, Stonehenge ist wirklich ein wundersamer und magischer Ort!“, meinte Ben und lächelte. „Es grenzt tatsächlich an ein Wunder, dass sich unsere beiden Mädels dort getroffen haben! Übrigens Esther, bis Mitte der Achtziger Jahre, als die Steine noch frei zugänglich waren, habe ich ein paar Mal mit meiner Band während der Musikfestivals gespielt, die jedes Jahr im Sommer dort stattfanden. Das war eine irre Atmosphäre, vor allem abends, wenn die Sonne über den Steinen unterging und sich die Musiker und das Publikum von der Stimmung mitreißen ließen. Wir haben einige Filme während dieser Festivals gedreht, die ich dir gerne zeigen würde, das heißt wenn sie dich interessieren?“
„Ja, sehr gerne!“, Esther nickte begeistert.
„Och, diese ollen Filme hab‘ ich schon zig mal gesehen“, meinte Julia. „Ich zeige Jennifer lieber mein Zimmer und wo sie schlafen wird.“

 

Als die Mädels gegen Mitternacht ins Wohnzimmer kamen, um Gute Nacht zu sagen, sahen sie, dass ihre Eltern auf dem Sofa saßen und sich angeregt unterhielten. Ben hatte seinen Arm ganz leicht um Esthers Schulter gelegt.

 

„Vielleicht werden wir ja doch noch eine richtige Familie!“, flüsterte Jennifer und lächelte. „Die beiden scheinen sich ja sehr gut zu verstehen! Und wir würden richtige Schwestern! Wäre das nicht toll?“
Verschwörerisch legte Julia ihren Zeigefinger auf ihren Mund und zwinkerte ihrer „Twin Sister“ zu.

 

 

* * *

 

 

Impressum

Texte: Rebekka Weber
Bildmaterialien: Pixelio, FG Thomas Max Müller
Tag der Veröffentlichung: 08.09.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
*** Mein Beitrag zum Wettbewerb der Kurzgeschichten-Gruppe September 2012 ***

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