Nach den großen Sommerferien sah ich ihn zum ersten Male.
Als er lockerlässig über den Schulhof schlenderte, war ich nicht die Einzige, deren Augen ihm bewundert folgten. Mit seinen sechzehn Jahren war er damals schon ein recht ansehnlicher Kerl: groß, sportlich durchtrainiert, dunkles, leicht welliges Haar, das ihm bis zu den Schultern reichte, grüne Augen und eine scharfe, markante Nase. Da er in der 10. Klasse des Gymnasiums hängengeblieben war, hatten seine Eltern beschlossen, dass er das Schuljahr auf der Realschule wiederholen sollte. Und so kam Frank zu uns, zu meinem Bedauern jedoch in meine Parallelklasse.
Den ersten Körperkontakt mit diesem gut aussehenden Jungen hatte ich in einem Fortgeschrittenen-Tanzkurs, zu dem sich leider mehr Mädels als Jungs angemeldet hatten. Um dieses Manko auszugleichen, lud die Tanzschule männliche Volontäre ein und zu diesen gehörte auch Frank. Als ich nun das erste Mal mit ihm tanzte, wurde mir ganz anders zumute. Ich wagte kaum, ihn anzusehen, stolperte linkisch über meine Füße und versuchte krampfhaft, mich auf die geforderten Foxtrottschritte zu konzentrieren. Frank sah ein wenig gelangweilt aus, führte mich jedoch elegant und tadellos wie eine Eins übers Parkett.
Die Situation änderte sich, als Frank und ich nach Abschluss der Mittleren Reife die Höhere Handelsschule besuchten. Dort kamen wir in die gleiche Klasse und waren auf einmal Klassenkameraden. Durch den täglichen Umgang miteinander verlor ich meine Scheu vor ihm und lernte ihn als netten und hilfsbereiten Mitschüler kennen, der jeden Spaß und Blödsinn mitmachte.
Frank war unsterblich in Julie verliebt, die ebenfalls unsere Klasse besuchte! Dieses Mädchen hatte langes schwarzes Haar, strahlend blaue Augen und eine sehr helle Haut. Sie sah aus wie Schneewittchen und so wurde sie von uns auch liebevoll genannt. Prinz Frank – das war sein Spitzname, weil er leidenschaftlich gerne Kekse aus der Prinzenrolle aß – holte Schneewittchen jeden Morgen an der Bushaltestelle ab. Eng untereinander gehakt gingen sie gemeinsam zur Schule und verbrachten nachmittags so viel Freizeit wie möglich miteinander. Nach den großen Sommerferien gab Julie Prinz Frank jedoch den Laufpass, denn Schneewittchen hatte sich im Urlaub, den sie gemeinsam mit ihren Eltern verbracht hatte, in einen anderen Jungen verliebt und der Prinz war nun nicht mehr ihr Favorit. Frank verstand die Welt nicht mehr und lief wochenlang mit einer tieftraurigen Miene herum. Ich glaube sogar, dass ihn diese erste, tiefe Enttäuschung geprägt und seinen weiteren Lebensweg – vor allem, was seinen Umgang mit dem weiblichen Geschlecht betraf – beeinflusst hat.
Ein halbes Jahr später, nachdem sich Julie von Frank getrennt hatte, feierten wir eine Klassenfete. In einer Tanzpause ließ ich mich erschöpft auf einer der Matratzen nieder, die wir als Sitzgelegenheiten in unserem Partykeller auf dem Boden ausgelegt hatten. Plötzlich saß Frank neben mir, legte den Arm um mich und fing an, mich zu streicheln und zu küssen. Ob dieses Überfalls war ich ziemlich überrascht, denn ich hatte vorher noch nie bemerkt, dass Frank in mir mehr als nur seine Klassenkameradin sah. Nichtsdestotrotz waren wir im weiteren Verlauf des Abends unzertrennlich und als Frank am Montagmorgen an der Bushaltestelle stand und auf mich wartete, konnte ich mein Glück kaum fassen: Ich war das neue Mädchen an seiner Seite!
Frank besaß bereits den Führerschein und durfte das Auto seines Vaters benutzen. So lud er mich nachmittags oft zu Spazierfahrten ein und dabei landeten wir mehr als einmal auf abgelegenen Rastplätzen. Auf den Autositzen ging es anschließend heiß her. Frank war lieb zu mir, zärtlich, er bedrängte mich jedoch nie und zum Letzten ist es auch nie gekommen. Oft hatte ich bei unserem Zusammensein irgendwie das Gefühl, dass Frank es gar nicht so richtig ernst mit mir meinte und dass er nur mit mir befreundet war, um Julie zu vergessen.
An einem Samstagabend waren Frank und ich bei Freunden eingeladen und ich hatte mich schon die ganze Woche darauf gefreut. Am Freitag verkündete mir Frank jedoch, dass er statt zu den Freunden lieber zu Eva gehen wollte, einem Mädchen unserer Klasse, das kurzfristig zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladen hatte. Wir könnten selbstverständlich gemeinsam hingehen, meinte er. Da ich meinen Freunden aber nicht absagen wollte, trennten sich an diesem Abend unsere Wege: Ich nahm die erste Einladung wahr und Frank ging zu Evas Geburtstagsfeier. Am Sonntag wartete ich vergeblich auf Franks Anruf und am Montagmorgen sah ich ihn händchenhaltend mit Eva zur Schule kommen. Es wurde ein sehr harter Schultag für mich, denn ich fühlte mich verletzt und war sehr traurig. Aber ich hatte auch meinen Stolz! Ich bat Frank noch nicht einmal um eine Aussprache.
Nach einiger Zeit normalisierte sich unser Verhältnis und Frank und ich wurden wieder gute Klassenkameraden. Nach der Schulzeit trennten sich unsere Wege, ich zog in eine andere Stadt und hatte nur noch sporadischen Kontakt zu meinen ehemaligen Mitschülern. Später erfuhr ich, dass Frank nach Julie, Eva und mir, noch mit zwei anderen Mädchen aus unserer früheren Klasse enger befreundet gewesen sein soll. Und später, als Twen, soll er auch nichts anbrennen gelassen haben. Nach seinem Schulabschluss studierte er Jura und trat anschließend in die Firma seines Vaters ein, in eine kleine, aber profitable Druckerei. Dort war er, der Sohnemann, fortan für die administrativen Aufgaben zuständig. Mit Mitte dreißig hat er geheiratet und eine Tochter bekommen, die Ehe hatte jedoch keinen Bestand. Und so nahm Frank nach der Scheidung sein unstetes Singleleben wieder auf.
Im Laufe der Jahre verlor ich Frank nie aus den Augen! Gelegentlich liefen wir uns sogar an meinem neuen Wohnort über den Weg, da Frank auch hier geschäftlich und privat unterwegs war, oder man traf sich auf Feiern im gemeinsamen Freundeskreise. Mit der Zeit hatte ich verstanden, dass Frank ein feiner Kerl und guter Freund sein konnte, nur frau durfte sich halt nicht ernsthaft in ihn verlieben! War es jedoch einmal passiert, dann machte Frank mit der Frau, was er wollte. Die Frauen liebten ihn trotzdem, denn zu seinem guten Aussehen kam noch hinzu, dass er ein Charmeur war. Er konnte jede Frau haben, für die er sich interessierte. So flog er nur zu gerne von Blüte zu Blüte und eine längerfristige Beziehung mit einer Frau schien er nicht aufbauen zu können, selbst in seiner Ehe soll er fremdgegangen sein.
Vor drei Jahren nahm das Unheil jedoch seinen Lauf.
An einem Samstagmorgen – ich war gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt und genoss mein erstes Frühstück in der heimatlichen Küche – klingelte das Telefon. Am anderen Ende der Leitung war Timo, ein Freund und ebenfalls ehemaliger Klassenkamerad.
„Morgen Bekki! Sorry, dass ich dich so früh störe, aber es ist etwas Schlimmes passiert. Der Frank ist tot!“
„Wie denn jetzt? Was ist los?“, fragte ich ungläubig. „Woher weißt du das?“
„Ja, ich sitze gerade hier beim Frühstück, schlage unser lokales Käseblättchen auf und sehe seine Todesanzeige.“
„Bist du sicher, dass das unser Frank ist? Sein Vater hat ja den gleichen Vornamen wie er.“
„Ja, sicher! Darin besteht gar kein Zweifel! Es ist unser Frank! In der Anzeige steht ja auch das Geburtsdatum und er ist ja im gleichen Jahr geboren wie ich.“
Wir waren tief betroffen und rätselten hin und her, wieso Frank so plötzlich verstorben war. Uns war nicht bekannt, dass er an einer Krankheit litt oder Selbstmordgedanken gehegt hatte. Folglich konnte es sich nur um einen Unglücksfall handeln. Ich rief eine Freundin an und fragte, ob sie näheres wüsste. Sie wusste leider nichts, versprach jedoch, sich umzuhören. Am Sonntagabend rief sie mich zurück und erzählte mir, dass sie sich gescheut hätte, Franks Eltern anzurufen, sie hätte jedoch gehört, dass vor einigen Tagen in der Wupper, in der Nähe der Müngstener Brücke, ein Mann tot aufgefunden worden wäre, Alter und Beschreibung konnten gut auf unseren gemeinsamen Freund zutreffen. Wir waren geschockt! Hatte Frank wohl doch – aus welchem Grunde auch immer – Selbstmord begangen? Denn darauf deutete es ja nun hin.
Schließlich fasste ich mir ein Herz und rief eine Freundin von Frank an, die ich auch noch von der Schulzeit her kannte. Weinend erzählte sie mir am Telefon die ganze Geschichte:
Vor ca. fünf Jahren hatte Franks Vater die Druckerei schließen müssen, da sie nach vielen erfolgreichen Jahren nunmehr mit Verlust arbeitete. Frank schlug sich von diesem Zeitpunkt an mit befristeten Arbeitsstellen und Gelegenheitsjobs durch. Er war jedoch immer schon, seit er mit der Kamera umgehen konnte, ein begeisterter Amateurfotograf gewesen und eines Tages winkte ihm ein lukrativer Auftrag: Er sollte für einen Verlag, der Fotokalender herausbrachte, spektakuläre Bilder aus der Region schießen.
An jenem verhängnisvollen Sommertag, an dem das Unglück geschah, hatte es, wie in den Tagen zuvor, abends heftige Gewitter gegeben. Frank kam nun auf die Idee, spätabends zur Müngstener Brücke fahren. Dieses 107 m hohe Bauwerk ist eigentlich nur für den Eisenbahnverkehr und nicht für Fußgänger freigegeben. Frank wollte dort jedoch – wir haben es nie genau herausgefunden – entweder oben auf der Brücke entlanggehen, an den Pfeilern oder an der steilen Uferböschung hinaufklettern und dann bei Blitz und Donner das „Superfoto“ schießen. Irgendwie musste er dann bei seiner Kletterpartie abgerutscht und in den Fluss gestürzt sein.
Am nächsten Tag, um die Mittagszeit, sah ein Spaziergänger Schuhspitzen aus der Wupper ragen und alarmierte sogleich die Polizei. Die Beamten bargen einen Mann aus dem Wasser, dessen Identität schnell festgestellt werden konnte, da er seinen Personalausweis in der Gesäßtasche trug und sein Auto in der Nähe der Brücke abgestellt hatte. Es war unser Frank! Während er zur Obduktion gebracht wurde, suchte die Polizei seine Eltern auf, die schon ungeduldig auf den Besuch ihres Sohnes gewartet hatten. Statt nun mit ihm gemeinsam zu Mittag zu essen, wurden sie mit seinem Tod und den mysteriösen Umständen konfrontiert.
Wie genau unser Freund zu Tode gekommen ist, konnte nie geklärt worden. Die Polizei war mit Spürhunden oben auf der Brücke unterwegs, suchte auch die Umgebung ab, es wurden jedoch keine eindeutigen Spuren gefunden, die die Unglücksursache und den Hergang selbst hätten erklären können. Die Gerichtsmedizin stellte an Franks Körper keine Spuren von fremder Gewalteinwirkung fest, jedoch Schürfwunden an Rücken, Armen und Beinen, die er sich aber auch nach dem Absturz zugezogen haben konnte. Ein Selbstmord konnte jedoch definitiv ausgeschlossen werden, da Frank weder einen Abschiedsbrief hinterlassen hatte, noch vor seinem Tode depressiv aufgefallen war.
Zu seiner Beerdigung erschienen fast alle ehemaligen Klassenkameraden. Wir konnten es nicht fassen, dass Frank so früh aus unserer Mitte gerissen worden war! Ich sprach mit den Eltern, mit Franks Schwestern, drückte und umarmte sie, weinte mit ihnen.
* * *
Seit drei Jahren steckt an meiner Pinnwand ein Foto von dir, das ich oft anschaue. Mir ist bewusst, dass du nicht mehr da bist, dass du nicht mehr lebst, aber du gehörst immer noch zu uns!
Lächelnd und charmant, wie eh und je, blickst du mich aus deinen grünen Augen an.
Ich erinnere mich daran, dass wir uns einmal auf einer Party wiedertrafen. Mit den anderen Freunden sprachen und lachten wir über unsere Jugendsünden.
Auf einmal legtest du den Arm um mich und sagtest: “Erinnerst du dich eigentlich noch daran, dass wir auch einmal enger miteinander befreundet waren?“
„Klar doch“, antwortete ich, „aber im Bett waren wir nicht!“
„Das können wir doch jederzeit nachholen“, meintest du lachend.
Tja, dazu wird es nie mehr kommen! Ist auch besser so!
Aber du fehlst, lieber Frank! Als Kamerad, als Freund, als Mensch!
* * *
Texte: Rebekka Weber
Bildmaterialien: Die Müngstener Brücke / pixelio, FG Thomas Max
Tag der Veröffentlichung: 01.07.2012
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Widmung:
*** Mein Beitrag zum Juli-Wettbewerb 2012 der Biografie & Autobiografik-Gruppe ***