Sie wohnte damals in einem kleinen Apartment mitten in der Innenstadt. Irgendwann, wenn sie genügend Geld gespart hatte und sich eine anspruchsvolle Bleibe leisten konnte, wollte sie dort ausziehen. Vorläufig war sie mit ihrer Behausung jedoch zufrieden, denn ihre Arbeitsstelle auf der Königsallee und die Altstadt waren schnell und fußläufig zu erreichen.
An jenem Abend, an dem sich diese Geschichte zutrug, ging sie zunächst, als sie aus dem Haus getreten war, ein Stück die belebte Geschäftsstraße entlang, überprüfte dabei in den Schaufenstern, die sie passierte, den korrekten Sitz ihrer Kleidung und bog am Busbahnhof beschwingt in die ruhige Nebenstraße ein, die sie durchqueren musste, um auf kürzestem Wege zu ihrem Ziel zu gelangen.
Ein dunkler Wagen mit einem Stern vorne an der Kühlerhaube, Marke Geschäftsmann, kam ihr langsam entgegen. Der Fahrer kurbelte das Fenster herunter, lehnte sich hinaus und musterte sie in geradezu unverschämter Weise. Sie wollte ihn ignorieren und einfach an ihm vorbeigehen, aber als sie auf gleicher Höhe mit ihm war, rief er ihr zu: „Hey Süße, hast du Zeit für mich?“
Diese Anmache war eine Frechheit, aber sie hatte beschlossen, sich an jenem Abend über niemanden zu ärgern. So lächelte sie nur und rief ihm lässig zu: „Für dich leider nicht!“
Sie überquerte die Immermannstraße, ging an den imposanten Marmorwänden der Bank of Tokyo vorbei, betrat das Hotel Nikko durch den Eingang neben der zum Hotel gehörenden Boutique und ließ bewundernd ihre sorgfältig geschminkten Augen über die exklusiven Auslagen schweifen.
„Alles viel zu teuer für mich!“, seufzte sie und lenkte ihre Schritte zur Lobby.
In der Eingangshalle angekommen, versuchte sie unter den vielen Gästen, die dort an kleinen Tischen saßen und Zeitung lasen, sich unterhielten oder an ihrem Café oder Drink nippten, ihre Verabredung, Herrn Nakamura, ausfindig zu machen. Der Japaner war klein, schwarzhaarig und trug eine Brille, genau wie so viele seiner Landsleute, die sie im Laufe der Jahre durch die engen Beziehungen ihres Arbeitgebers zum Mutterhaus in Japan kennengelernt hatte. Er war morgens in ihrem Büro gewesen und sie erinnerte sich noch genau an sein Gesicht, als der Chef sie miteinander bekannt gemacht hatten.
„Oh, such a tall woman, so eine große Frau!“, hatte Herr Nakamura gesagt und dabei theatralisch die Augen verdreht. „How to handle? Wie soll man damit umgehen?“
Alle Kollegen mussten lachen, und sie hatte in das Lachen eingestimmt. Bei der anschließenden Besprechung hatte sich Herr Nakamura jedoch als äußerst kompetent in Geschäftsfragen und sehr charmant in seinen Umgangsformen erwiesen.
Sie hatte eigentlich geplant, sich an jenem Abend einem Wohlfühlritual, das aus einen Schaumbad, Bodypeeling und anschließendem Kuscheln auf der Couch mit einem spannenden Buch bestehen sollte, hinzugeben. Da der Chef jedoch keine Zeit hatte, sich um den Geschäftsbesuch aus Tokio zu kümmern, musste sie kurzfristig einspringen und ihn vertreten. Nun sollte sie den Gast um acht Uhr abends im Hotel abholen und ihn zum Dinner ausführen.
Nun ja, da der Abend auf Geschäftskosten ging, hatte sie beschlossen, sich so richtig aufzubrezeln. Vielleicht war ja nach dem Dinner mit dem netten japanischen Kollegen noch ein Besuch in einer Disko oder einem Nightclub drin. So hatte sie sich sorgfältig geduscht und geschminkt, die weiße Bluse mit dem tiefen Ausschnitt und den vielen kleinen Knöpfchen angezogen, dazu das neue schwarze Lederkostüm mit dem engen Rock, schwarze Strümpfe und Pumps mit einem moderaten, aber doch eleganten Absatz. Ihr abschließender prüfender Blick in den Spiegel war äußerst zufrieden ausgefallen.
Nun stand sie hier in der Hotelhalle, aber von dem kleinen quirligen Japaner war noch keine Spur zu sehen. Sie schaute auf ihre Armbanduhr: Fünf Minuten nach acht! Sie war pünktlich um acht Uhr dagewesen, aber wo blieb nur Herr Nakamura? Sie wartete noch weitere fünf Minuten, dann schritt sie zur Rezeption.
„Was kann ich für sie tun?“, fragte die junge Hotelangestellte, die hinter dem Tresen stand und dienstbeflissen ihren Kugelschreiber zückte.
„Mein Name ist Becker. Ich bin mit Herrn Nakamura verabredet. Er ist z.Z. ihr Gast. Würden Sie ihn bitte auf seinem Zimmer anrufen und ihm sagen, dass ich hier bin?“
„Gerne!“, die Dame nickte, griff nach dem Telefon und wählte die Zimmernummer. „Good evening, Mr. Nakamura, here is Mrs. Becker for you! Shall I send her upstairs? Hier ist Frau Becker für Sie, soll ich sie raufschicken?”
Ihr wurde siedend heiß und Röte überzog ihr Gesicht. Ach du lieber Himmel, dachte sie, nahm diese Tusse etwa an, dass sie in einem gewissen Gewerbe arbeitete?
„Nein, nein!“, rief sie und winkte ab. „So ist das nicht gemeint. Er möchte bitte runterkommen. Sagen Sie ihm bitte, dass ich hier auf ihn warte.“
„Er kommt sofort!“, nickte die Rezeptionistin und legte den Hörer auf. „Das hat er mir schon gesagt. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend!“
Ein paar Minuten später stand Herr Nakamura neben ihr.
„Entschuldigen Sie die kleine Verspätung. Ich hatte mich ein wenig hingelegt und war eingenickt. Aber wow! Sie sehen toll aus!“, er blickte sie bewundernd an. „Und wohin entführen Sie mich nun?“
„Stellen Sie sich vor, was mir gerade passiert ist!“, sprudelte es aus ihr hervor und aufgeregt erzählte sie ihm von den Verdächtigungen, die ihr gerade widerfahren waren.
„Take it easy and forget it!”, Herr Nakamura lachte und zwinkerte ihr zu. „Nehmen Sie’s leicht und vergessen Sie’s!”
Bestens gelaunt und munter plaudernd traten beide ins Freie.
Der Taxifahrer, der gerade in die Hoteleinfahrt bog, grinste als er das ungleiche Paar sah und dachte: „Steiler Zahn, diese Frau! Was die wohl für eine Nacht nimmt? Aber die Gäste hier können es sich ja leisten!“
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Texte: Rebekka Weber
Bildmaterialien: Pixelio / Fotografin Pauline
Tag der Veröffentlichung: 25.05.2012
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