Cover

Die ersten wärmenden Strahlen der Frühlingssonne blitzten durch die halbgeschlossenen Lamellen und warfen ihre verspielten Lichter auf die Pflanzen, die auf der Fensterbank standen.

 

Ihr Blick fiel auf die Orchidee, die sie vorletztes Jahr zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. Damals hatte die Blume in voller Blüte gestanden, doch nach und nach waren die Blütenblätter verwelkt. Sie hatte lange gezaudert, ob sie die verwelkten Blüten abzupfen und die verbliebenen trockenen Pflanzenstängel, diese „dürren Dinger“, wie sie sie nannte, abschneiden sollte. Auf einen Rat eines Freundes, der sich mit Pflanzen auskannte, hatte sie es schließlich gewagt und zur Blumenschere gegriffen.

 

Viele Monate hatte die Orchidee auf ihrer Fensterbank ein recht tristes Dasein gefristet und sie hatte sich gefragt, ob die Pflanze jemals wieder blühen würde. Aber Wunder über Wunder, Anfang Januar hatten sich erste Knospen gezeigt und nach und nach waren die Blüten aufgegangen und hatten sich wieder in ihrer vollen Pracht entfaltet. Sie fand, dass die Blüten ein kleines Meisterwerk der Natur waren: Weiße sternförmige Blätter, deren rosarote Sprenkel immer dichter, fast schon violett wurden, je mehr sie zur Blütenmitte verliefen.

 

Erst vor einigen Jahren hatte sie Orchideen zu schätzen und lieben gelernt, denn eigentlich liebte sie die bunten Frühlingsboten ihrer Heimat: Tulpen, Glockenblumen und Primelchen. Und im Sommer freute sie sich über hübsch gebundene Moosröschensträuße mit Schleierkraut und weißen Margeriten.

 

Während sie die neu erblühte Pflanze ein wenig drehte und bewunderte, erinnerte sie sich wieder an ihren Aufenthalt auf der Tropeninsel, auf der Orchideen in Hülle und Fülle wuchsen. Zu ihrer Hochzeit hatte ihr Mann ihr einen lila Orchideenstrauß geschenkt, der farblich perfekt zu ihrem Hochzeitskleid und seinem Anzug mit dem breiten lila Kummerbund passte. Und später, als sie wieder in Deutschland waren und sich dort niedergelassen hatten, bekam sie von ihrem Mann jedes Jahr zum Hochzeitstag Orchideen in der gleichen Farbe geschenkt.

 

Obwohl sie nun mittlerweile längst von ihrem Mann geschieden war, überfiel sie manchmal doch Wehmut, wenn sie an die ersten glücklichen Zeiten ihrer Ehe, an ihre Schwangerschaft und die Geburt ihres gemeinsamen Kindes dachte. Was hatten sie beide für Illusionen gehabt, als er aus dem fernen, exotischen Land hier nach Deutschland kam! Kinder wollten sie haben, sich eine gemeinsame Existenz aufbauen und später, wenn sie es sich vielleicht finanziell erlauben konnten, wollten sie in seine Heimat übersiedeln.

 

Orchideen brauchen viel Wärme, Licht und Pflege. Vielleicht brauchte dies auch ihre Liebe und sie ist deshalb verdorrt, weil sie nicht genügend beachtet und gepflegt wurde? Weil sie mit den Sorgen des Alltags zugedeckt wurde und nach und nach verkümmerte? Weil sich keiner von ihnen beiden die Mühe machte, das verkümmerte und verdorrte Pflänzchen Liebe wieder aufzupäppeln?

 

Ach, das waren doch nur sentimentale Erinnerungen und schwermütige Gedanken, die sie versuchen sollte, schnellstens wegzuwischen! 

 

Man soll sich doch darüber freuen, was man hat und nicht darüber traurig sein, was man nicht hat, dachte sie, ein wenig trotzig.

 

Sie hatten schöne, wenn auch teils stressige Jahre miteinander verbracht, ein Kind gezeugt und großgezogen. Nun, ihre Wege hatten sich dennoch getrennt. Sie wandte sich der nächsten Pflanze auf ihrer Fensterbank zu, zupfte hier ein Blättchen, da ein Blättchen. 

 

Es ist nie zu spät für einen Neuanfang, dachte sie und freute sich auf den sonnigen Tag, der vor ihr lag.

 

* * *

 

Impressum

Texte: Rebekka Weber
Bildmaterialien: eigenes Foto
Tag der Veröffentlichung: 28.07.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /