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1.

1.

 

„Was treibst du da?“

Die fremde Stimme traf mich aus dem Nichts. Hier draußen im Wald, wo ich seit Stunden ganz allein unterwegs war. Ich erschrak so sehr, dass ich mit dem rechten Fuß ins schlammige Wasser abrutschte. Mit den Händen bekam ich gerade noch einige herausragende Äste zu fassen, ehe auch noch der Rest von mir im Fluss versank. Mein Herz raste, aber ich grinste dennoch. Ich war ohnehin schon lange bis auf die Unterhose durchnässt.

Am Flussufer stand ein Junge in meinem Alter. Er hatte wilde, ungekämmte Haare und trug Kleidung, die ihm mindestens zwei Nummern zu groß war. Zwischen seinen Fingern rollte er einen abgetrennten Ast hin und her, dessen Ende über den matschigen Boden schleifte.

Ich zog mich entlang der Äste nach oben, bis ich wieder am oberen Rand des Biberbaus balancierte, an dessen Gerüst ich schon den ganzen Nachmittag arbeitete. „Da hat früher eine Biberfamilie gewohnt“, erklärte ich. „Etwas hat ihren Bau zerstört, deshalb baue ich ihn wieder auf. Vielleicht kommen sie dann wieder.“

„Ist das nicht Zeitverschwendung?“

„Keine Ahnung. Nicht, wenn ich sie zurückholen kann.“ Ich sah erneut zu dem Jungen zurück. Ich kannte ihn nicht, was seltsam war, denn normalerweise kannte ich jeden hier in der Gegend. Vielleicht war er neu in der Stadt? „Kann ich deinen Stecken haben?“, fragte ich kühn.

Mit verwunderter Miene streckte er den Ast in seinen Händen hoch. „Den hier?“

„Ja. So einen brauche ich noch.“

„Okay.“ Schulterzucken. „Von mir aus.“

„Bringst du ihn mir?“

Stirnrunzelnd blickte der Junge zum Wasser. Er rührte sich nicht, also nahm ich an, dass er sich fürchtete. „Der Bau ist stabiler, als er aussieht“, sagte ich deshalb beschwichtigend. „Dazwischen sind auch immer wieder Steine, auf die du treten kannst. Siehst du? Es ist wirklich ganz einfach. Sonst -“

„Ich schaffe das schon.“

„Aber Vorsicht, es ist rutschig.“

Der Junge nutzte den Stecken zum Ausbalancieren, während er sich einen Fuß nach dem anderen zu mir vortastete. Braunes Flusswasser sickerte über seine Stiefelspitzen und durchnässte seine Hosenbeine, aber er beklagte sich nicht, was ich cool fand. Auf halber Strecke blieb er dann stehen und reichte mir den Stecken über das Astgestrüpp hinweg.

„Danke“, sagte ich, nachdem ich das Holzende an mich herangezogen hatte. „Du könntest mir helfen, magst du? Zu zweit geht es sicher schneller.“

„Ich weiß nicht. Ich sollte eigentlich wieder zurück.“

„Du kannst dafür mein Mittagessen haben. Meine Mum hat mir ein Schinkensandwich mit Mayonnaise gemacht. Sie macht die besten Sandwiches der Welt. Komm, du sammelst die Äste ein und ich verbaue sie.“

„Was für Äste brauchen wir überhaupt?“

„Dicke. Dünne. Aber möglichst lang sollten sie sein.“

In meinem Traum lächelte mir Nate in dem Moment zu, was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Ich konnte mich erinnern, dass er zu Beginn recht widerwillig an die Arbeit ging. Im Laufe des Tages entwickelte er jedoch immer mehr Eifer, bis wir sogar völlig die Zeit übersahen und bis zur Dämmerung am Wideraufbau des Biberbaus arbeiteten. Wir schufteten den ganzen Tag, aber die Biber kamen nie zurück.

Erst viel später erfuhr ich, dass Nates Vater alle erschossen hatte. Nate war an diesem Tag bei ihm gewesen. Er hatte seinem Vater dabei geholfen, die schweren, toten Biberkörper bis nach Hause zu schaffen, wo sein Vater ihnen das Fell abzog. Als er mich dann später bei den verlassenen Biberbauten antraf, wo ich mühsam darum kämpfte, sie Ast für Ast zurückzulocken, fühlte er sich schuldig. Er sagte kein Wort darüber, dass die Biber tot waren, aber er schichtete mit mir Äste zusammen, bis unsere Hände bluteten. Obwohl er wusste, dass die ganze Arbeit umsonst war. Obwohl er wusste, dass kein neuer Bau der Welt die Biber je zurückholen würde.

 

Ich sah noch immer Nates Gesicht vor mir, als ich die Augen aufschlug. Nicht mehr das des kleinen Jungen, sondern wie er jetzt mit zwanzig aussah. Die dunklen Haare noch immer ungebändigt, aber Wangen und Kinn kantiger und mit einem leichten Bartschatten überzogen.

Wie seltsam, dass ich ausgerechnet jetzt von ihm träumte, nachdem wir uns so lange nicht gesehen hatten. Andererseits so seltsam war es vielleicht gar nicht. Schließlich war ich nun wieder zurück in meiner Heimatstadt, wo meine Freundschaft mit Nate vor dreizehn Jahren seinen Anfang genommen hatte. Ich starrte an die Decke meines ehemaligen Kinderzimmers, die gleiche Decke, unter der wir als Kinder so oft nebeneinander gelegen und stundenlange Gespräche geführt hatten.

Es war ein komisches Gefühl wieder hier zu sein. Als hätte sich überhaupt nichts verändert, während sich gleichzeitig alles verändert hatte.

Bloß das Zimmer sah noch immer genauso aus, wie ich es vor zwei Jahren verlassen hatte, als ich aus Redville weggezogen war, um in Kalifornien aufs College zu gehen. Meine Mutter hatte nichts angerührt. Sogar die Unordnung auf meinem Schreibtisch war unangetastet, wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Die Wände waren mit staubigen Postern und Landkartenausschnitten zugeklebt. Neben dem Schrank lehnte noch immer meine alte Gitarre, auf der ich nie wirklich gelernt hatte zu spielen und auf der Nate wahre Wunder vollbracht hatte.

Meine Mutter hatte alles so belassen, weil sie wollte, dass ich mich wohlfühlte, wenn ich zu Besuch hier war und genau das war eigentlich der Plan gewesen. Dass ich nur noch zu sporadischen Familienbesuchen an Weihnachten und Thanksgiving in diesem Zimmer schlief. Niemals hätte ich gedacht, dass ich nochmal nach Redville kommen würde, um zu bleiben.

Ein Klappern aus dem Untergeschoss riss mich schließlich aus meinen Gedanken. Es war schon fast sieben. Wenn ich mich nicht beeilte, würde ich noch zu spät zu meiner ersten Vorlesung kommen.

Ich übersprang die Dusche und wusch mir nur schnell das Gesicht im Waschbecken. Fertig angezogen und mit einer vollgepackten Tasche über der Schulter kam ich die Treppe hinunter. Ein Déjà-vu wie aus meiner Highschool-Zeit. Sogar die Luft roch gleich. Nach Kaffee, warmen Früchten und Honig.

Ich folgte dem Duft und den klappernden Geräuschen bis in die Küche, wo meine Mutter in einem türkisfarbenen Morgenmantel am Herd stand und eine Pfanne schwenkte.

„Da bist du ja. Noch immer derselbe Langschläfer, wie ich sehe.“

„Guten Morgen.“ Ich küsste sie zur Begrüßung auf die Wange, was sie erstrahlen ließ. „Was machst du da?“

„Bananenpfannkuchen, so wie früher. Ist das noch immer dein Lieblingsfrühstück?“

„Ist es, aber du hättest nicht extra wegen mir aufstehen müssen.“

„Rede keinen Unsinn. Du kennst mich ja. Ich konnte noch nie morgens liegen bleiben. Außerdem ist heute dein erster Tag.“

„Es ist kein richtiger erster Tag und du sollst dich doch schonen.“

Ihre Hände wurden schneller. Ihre Mundwinkel kräuselten sich, während sie den Pfannkuchen mit einer geübten Bewegung wendete. „Ein Frühstück für meinen Sohn werde ich ja wohl noch hinbekommen.“ Dann atmete sie lange und schwer aus. „Ich fühle mich furchtbar, dass du extra wegen mir zurückgekommen bist. Ich weiß, wie hart du dafür gearbeitet hast, um in Berkley aufgenommen zu werden und wie gut es dir dort gefallen hat. Es ist schrecklich, dass …“

Ihre Arme zitterten heftig, als sie die Pfanne zu neigen begann. Sie konnte sie nicht gerade halten und die Hälfte vom Pfannkuchen landete neben dem Teller, was sie lauthals fluchen ließ.

„Mum.“ Ich nahm ihr die Pfanne ab und hielt ihre Hände, bis das Zittern abgenommen hatte und sah ihr fest in die Augen. „Ich bin gerne wieder hier, in Ordnung?“

Sie lächelte unsicher, nickte jedoch und hob schließlich die Reste des klebrigen Pfannkuchens auf meinen Teller. „Hier. Mit Kirschmarmelade. So wie du es am Liebsten hast.“

„Danke.“ Ich hatte eigentlich noch gar keinen Hunger, aber um sie nicht zu enttäuschen, aß ich dennoch schnell einen der Pfannkuchen im Stehen und packte den Rest für später ein. Den Mund voller Teig gab ich ihr einen weiteren flüchtigen Kuss im Vorbeigehen. „Ich muss los.“

„Alles gut, mein Schatz. Ich wünsche dir einen schönen ersten Tag. Grüße Nate von mir, wenn du ihn siehst!“

Die Erwähnung seines Namens ließ mich zusammenzucken. Nate schon wieder. Dabei hatte ich sein Gesicht eben erst wieder aus meinen Gedanken verdrängt. Ich bekam ein mulmiges Gefühl im Magen, wenn ich daran dachte, dass ich ihm heute zum ersten Mal nach zwei Jahren wieder begegnen würde. Wir hatten uns gestritten, kurz bevor ich aus Redville weggezogen war und hatten seither keinen Kontakt gehabt. Anfangs hatte ich ihm noch hin und wieder geschrieben, aber nachdem nie etwas von ihm zurückgekommen war, hatte ich auch damit irgendwann aufgehört.

Wie es ihm jetzt wohl ging? Ich wusste nur, dass er die Stadt nie verlassen hatte und am St. Mary College studierte. So wie ich auch jetzt.

Das College war nicht weit entfernt, wie überhaupt nichts in Redville je weit entfernt war, weshalb ich die Strecke mit dem Fahrrad fuhr. Der Campus lag auf einem Hügel am Stadtrand und war ursprünglich ein Kloster gewesen, weshalb einem am Eingang noch immer die Statuen diverser Heilige begrüßten, deren Namen ich aber schon wieder vergessen hatte. Die Highschool, auf der ich meine halbe Kindheit verbracht hatte, befand sich im selben Gelände, weshalb ich mich zumindest ein wenig auskannte, wenn auch nicht ganz so gut wie erhofft.

Um mich herum herrschte ein reges Treiben aus ein und ausgehenden College Studenten und Professoren, doch davon war ich der einzige, der nervös den Plan in seinen Händen mit den Gebäuden ringsum verglich. Laut Kalender musste ich als erstes in Gebäude B, aber welches davon war Gebäude B?

Das versprach kein guter Tag zu werden. Ich war mitten im Semester gewechselt. Ich würde also nicht nur der Neue sein, sondern hatte mich auch bei der Kursauswahl mit den übrig gebliebenen Resten begnügen müssen. Mit einem sauren Gesichtsausdruck registrierte ich, dass meine erste Vorlesung Kreatives Schreiben war. Für mich ein völlig sinnloser Kurs. In Berkley hatte ich hauptsächlich Business und Wirtschaftsfächer belegt. Ich hatte ein Jurastudium angestrebt. Bevor … Aber es half nichts, jetzt der Vergangenheit nachzutrauern. Ich war nun hier, in Redville, auf dem Weg zu meiner ersten Vorlesung.

Es würde schon alles gut werden.  

2.

2.

 

„Hey, kenne ich dich nicht?“

Ich war einer der letzten, der den Unterrichtsaal verließ, weil Dr. Mitchell, der Professor für Kreatives Schreiben, mir noch extra Aufgaben gegeben hatte, um den vergangenen Stoff aufzuholen. Ich war noch in meine Unterlagen vertieft und wäre beim Hinausgehen fast mit einem dunkelhäutigen Studenten zusammengestoßen, der mir mit seinen breiten Schultern den Weg versperrte.

„Wir kennen uns doch“, wiederholte er und grinste mich über beide Ohren an. „Jamie, richtig?“

„Äh, ja“, antwortete ich irritiert und prüfte das Gesicht vor mir noch ein zweites und drittes Mal, dabei war ich mir ziemlich sicher, dass ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte.

„Kennst du mich nicht mehr? Ich bin’s, Albin!“

„Albin?“ Nun klappte mir vor Verblüffung der Mund auf. „Das gibt’s nicht. Du bist ja riesig geworden!“ Tatsächlich war der Junge, den ich aus Highschooltagen kannte, kaum wieder zu erkennen. Damals hatte er mir nur knapp bis zur Schulter gereicht und war ein eher schmächtiger Typ gewesen, dessen halbes Gesicht von dicken, runden Brillengläsern verdeckt worden war. Kein Vergleich zu dem sportlichen, selbstbewussten Mann, der nun vor mir stand und mir so fest auf die Schulter klopfte, dass es mich beinahe umhaute.

„Ja, ich weiß. Die Pubertät hat bei mir etwas später eingesetzt.“ Lachend rieb Albin sich über den kurzrasierten Hinterkopf. „Aber was treibst du hier? Ich dachte, du bist in Kalifornien?“

„War ich auch. Ich bin erst vor kurzem wieder zurück gewechselt. Heute ist mein erster Tag.“

„Krass. Damit habe ich ja gar nicht gerechnet! Wieso bist du zurück?“

Ich scheute mich davor, den wahren Grund zu nennen. „Heimweh, schätze ich“, gab ich ausweichend zurück.

„Ohne Scheiß? Bist du wahnsinnig? Ich schwöre, ich würde keine Sekunde lang zurückblicken, wenn ich auch nur einen Fuß aus diesem Kaff bekäme.“

„Ach ja? Wieso bist du dann noch hier?“

„Naja, du weißt doch, dass meine Eltern eine Farm in der Nähe haben. Die rechnen damit, dass ich den Laden einmal für sie schmeiße. Aber du kannst mich aufmuntern, indem du mir alles über Kalifornien erzählst. Kommst du mit mir in die Cafeteria? Ich habe jetzt Pause.“

Ich prüfte kurz den Zeitplan auf meinem Unterlagenstapel. „Passt gut. Ich auch.“

Albin ging voraus, ich eine Schrittlänge hinterher. Auf dem Weg nach draußen erzählte Albin munter über das Campusleben und verschiedene Professoren, während seine Hände immer wieder in alle möglichen Richtungen gestikulierten, um mir verschiedene Dinge zu zeigen. Ich war dankbar für seine Hilfe. Dankbar, nicht mehr ganz so allein zu sein. Als wir noch zusammen die Highschool besucht hatten, hatten wir nicht viel miteinander zu tun gehabt, aber es tat gut jemanden Vertrautes bei mir zu haben, der mir zur Seite stand. Es half mir dabei, mich nicht mehr ganz so verloren zu fühlen.

Die Cafeteria befand sich ein Gebäude weiter im Student Center, wo auch noch einige Gemeinschaftsräume und ein Fitnessstudio waren, wie Albin mir beim Eintreten erklärte.

Ich hatte keinen großen Hunger und holte mir bloß eine Cola aus dem Automaten, während Albin sich gleich ein ganzes Mittagessen bestehend aus überbackenen Nudeln und zwei Sandwiches auftischte. Um diese Uhrzeit war es noch relativ ruhig und wir bekamen einen Tisch gleich vor den großflächigen Glasfronten, von denen man Einsicht auf die obersten Sportplätze hatte. Eben wärmte sich eine Mädchenklasse auf der Laufstrecke auf. Man sah auf die Entfernung nicht viel von ihnen, aber Albin stierte dennoch unterm Kauen hinüber.

„Hast du dich eigentlich schon für einen Sportclub eingetragen?“, fragte er dann, nachdem er fast die Hälfte seiner Nudeln mit zwei großen Bissen hinuntergeschlungen hatte.

„Äh, nicht wirklich. Ich hatte mich für das Football-Team beworben, aber es hieß, sie nehmen niemanden mehr auf.“

„Was hast du denn in Kalifornien sonst noch für Sport gemacht?“

„Das übliche. Basketball, Baseball. Eine Zeitlang auch Schwimmen.“

„Du solltest in unser Basketball-Team kommen! Die anderen Sportclubs hier kannst du sowieso vergessen. Weißt du was? Ich rede nachher mal mit unserem Trainer, damit du nächste Woche zur Probe kommen kannst. Was hältst du davon?“

„Klar. Wieso nicht.“ Ich zuckte die Achseln. Ich war zwar kein großes Ass in Basketball, aber Sport hatte mir schon immer dabei geholfen, meine Gedanken zu fokussieren und in mir selbst zur Ruhe zu kommen. Etwas, das ich zurzeit bitter nötig hatte. Ich ertappte mich sogar dabei, wie ich Albin dankbar anlächelte. Zum ersten Mal, seitdem ich zurück in Redville war, spürte ich so etwas wie inneren Frieden. Das Gefühl hielt jedoch nur einen Sekundenbruchteil lang an. Plötzlich setzte mein Herzschlag aus. Auf der anderen Seite des Raums betrat soeben Nate mit einem Laptop unterm Arm die Cafeteria. Ich brauchte gar nicht sein Gesicht zu sehen, allein der vertraute Gang verriet mir sofort, dass er es war. Ich sah kurz rüber und dann schnell wieder auf meine Colaflasche, deren Form vor meinen Augen zu verschwimmen begann.

Scheiße. Wieso war das bloß so schwer? Inzwischen waren zwei Jahre vergangen. In der Zeit war doch sicher Gras über die Sache gewachsen, also wieso konnte ich nicht einfach rüber gehen und Hallo sagen wie man das unter alten Freunden normalerweise tat?

Albin musste mir mein Unbehagen ansehen, denn er folgte meinem Blick und pfiff dann langsam durch die Zähne.

„Hey, du und Nathan. Wart ihr nicht mal die dicksten Freunde oder so? Man hat euch doch ständig nur zu zweit gesehen.“

„Ja. Waren wir.“ Ohne den Blick zu heben, drehte ich die Colaflasche zwischen meinen Handflächen hin und her.

„Waren? Was ist da los?“

„Wir haben uns gestritten. Kurz bevor ich gegangen bin.“

„Wirklich? Um was ging’s?“

Ich zuckte die Schultern. Eigentlich wollte ich gar nicht wirklich darüber reden. „Was wohl. Eine Frau.“

Albin schüttelte seine Finger aus, als hätte er sich verbrannt. „Scheiße.“

„Ja.“ Ich lächelte müde. „Scheiße.“

„War sie wenigstens heiß?“

„Keine Ahnung.“ Die Frau war mir eigentlich gar nicht so wichtig gewesen, was das Ganze noch zermürbender machte.

„Aber hey, du kennst doch das Sprichwort. Broes before Hoes.“

„Ich weiß nicht, ob es so leicht ist. Ich habe damals echt Mist gebaut.“

„Ach, komm. Wie lang ist das jetzt her? Zwei Jahre? Mindestens. Aber, wenn ich ehrlich sein soll, du hast nichts verpasst, was Nate betrifft.“

„Was meinst du?“

„Naja, er war ja schon immer eher der zurückhaltende Typ, aber seit dem College ist er noch eigenbrötlerischer geworden. Ich habe ihn noch auf keiner einzigen Party gesehen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er überhaupt Freunde hat. Das heißt doch irgendwas, oder?“

„Ich weiß nicht.“ Nate hatte sich schon immer schwer mit anderen Menschen getan, das hatte unsere Freundschaft auch zu etwas so Besonderem gemacht. Ich war immer irgendwie stolz darauf gewesen, dass dieser verschlossene, ernste Junge sich ausgerechnet bei mir öffnete.

Bis zu dem Tag, an dem ich ihn verraten hatte.

Der Gedanke versetzt mir auch nach all der Zeit immer noch einen schmerzhaften Stich. Ich hob erneut den Blick in Nates Richtung, nur um festzustellen, dass sein Platz sich schon wieder geleert hatte. Ich erhaschte gerade noch einen Blick auf seine Rückseite, als er die Cafeteria durch einen Seiteneingang verließ. Dabei hatte er sich eben erst hingesetzt. Lag es an mir? Hatte er mich gesehen?

Ich widerstand dem Drang, aufzuspringen und ihm nachzurennen, wie ich es wahrscheinlich früher getan hätte. Meine Feigheit fesselte mich an meinen Stuhl, wo ich mit halb tauben Ohren Albin dabei zuhörte, wie er von ausufernden College Partys erzählte und wer von unseren alten Highschool-Freunden mit wem alles was hatte.

Den restlichen Tag ertappte ich mich dabei, wie ich immer wieder in den Gängen und Sälen nach Nate Ausschau hielt, aber wir begegneten uns kein zweites Mal. Der Campus war nicht sonderlich groß und ich begann mich zu wundern, ob er mir vielleicht absichtlich aus dem Weg ging. Konnte es sein, dass er mir immer noch nicht verziehen hatte?

Der Gedanke beschäftigte mich auch am Abend noch, als ich gegen sieben nach Hause kam. Es war später als erwartet, weil ich noch etliche Stunden damit zugebracht hatte, mir fehlende Bücher und Unterlagen zu besorgen. Mein Kopf barst mit all den Aufgaben, die mir die Professoren auferlegt hatten, um mit meinen Kommilitonen mithalten zu können. Wer hätte gedacht, dass das St. Marys College anstrengender werden würde als Berkley?

Ich rechnete eigentlich damit, dass meine Mutter mich gleich am Eingang begrüßen würde, wie ich es von früher gewohnt war, doch das Haus war dunkel, als ich eintrat und von einer drückenden Stille erfüllt, die mich an Ort und Stelle gefrieren ließ.

Ich wagte kaum zu atmen. „Hallo?“, rief ich leise in den leeren Flur hinein.

Ich vermutete bereits das Schlimmste, doch dann erklangen endlich Schritte in den hinteren Räumen und kurz darauf erschien mein Vater in der angelehnten Küchentür. Seine Augen hatten einen müden Glanz, den ich erst seit Kurzem an ihm kannte, doch als er mich anlächelte, wusste ich, dass alles nur halb so schlimm war. „Hallo Junge. Wie war’s am College? Wir müssen etwas leise sein. Deine Ma hat sich hingelegt. Ihr geht es heute nicht so gut.“

Schwerfällig hievte ich meine vollgepackte Tasche zu Boden. „Was hat sie?“

„Das übliche. Schwindel. Erschöpfung. Du weißt doch, wie sie ist. Man muss ihr zehn Mal sagen, dass sie sich endlich mal ausruhen soll, bis es sie dann irgendwann umhaut.“

„Aber geht es ihr jetzt besser?“

„Sie wird schon wieder. Sie ist viel zu stur, um sich lange unterkriegen zu lassen. Ich wärme mir gerade was aus dem Tiefkühler auf. Keine Ahnung, was es ist, aber willst du auch eine Portion?“

„Danke, aber ich habe schon auf dem Campus gegessen. Ich werde auch gleich nach oben gehen. Ich habe Hausaufgaben für zehn bekommen. Keine Ahnung, wie ich das alles aufholen soll.“

„Jamie, warte noch einen Moment“, bat mein Vater mich zurück, als ich bereits auf halbem Weg die Treppe hoch war.

Mein Fuß verharrte über der nächsten Stufe. „Ja?“

„Ich will nur, dass du weißt … du musst das nicht tun, okay? Deine Ma und ich kommen schon zurecht. Du musst nicht für uns sorgen. Du bist jung und hast noch alles vor dir. Du solltest dich lieber um deine Zukunft kümmern und ich weiß, St. Mary ist nicht gerade die Erfüllung deiner Träume, also falls du doch wieder wechseln willst …“

„Dad …“ Ich kam wieder einige Stufen runter, um ihm ins Gesicht sehen zu können. „Ich weiß das zu schätzen, aber ich werde nicht wieder gehen. Ich kann vielleicht nicht viel für euch machen, aber ich will zumindest da sein. Und St. Mary ist eigentlich gar nicht so übel.“ Ich bemühte mich um ein Lächeln. „Ich komme wahrscheinlich sogar ins Basketball Team.“

„Ach ja? Ich verstehe. Ich will nur nicht, dass du dich verpflichtet fühlst und deine Ma genauso wenig. Das ist alles.“

„Macht euch um mich keine Sorgen. Ich komme schon klar.“

„Na dann. Da bin ich froh. Ich halte dich auch nicht länger auf. Vergiss nur nicht, leise zu sein und deine Ma nicht zu wecken.“ Die Schultern meines Vaters sackten zusammen, als er sich von mir wegdrehte, als hätte das Gespräch ihn viel Kraft gekostet. Er war schon immer mehr der praktisch veranlagte Typ gewesen. Große Gefühle und tiefsinnige Reden

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Abbi W. Reed
Cover: sturmmöwen.at
Tag der Veröffentlichung: 07.08.2020
ISBN: 978-3-7487-5280-6

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