»For to have faith, is to have wings.«
– J.M. Barrie, Peter Pan
Ich hatte aufgehört, darauf zu achten, wohin ich überhaupt fuhr. Ich war wie in Trance, ein Fuß fest auf das Gaspedal gepresst und versuchte, den pochenden Schmerz in meinem Gesicht auszublenden. Ein ächzendes Geräusch riss mich in die Gegenwart zurück. Ich trat weiterhin aufs Gas, aber nichts passierte. Der Motor stockte. Ein Blick auf die Tachoanzeige und ich fluchte. Der Tankzeiger war gen Null gerutscht. Ich hatte kein Benzin mehr und der Wagen rollte langsam zum Stillstand. Meine Hände waren so stark um das Lenkrad gekrallt, dass sie zitterten und ich umklammerte es noch fester, weil ich sonst sicher um mich geschlagen und mich selbst verletzt hätte. Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Was konnte heute Abend noch alles schief gehen?
Die Glieder steif vor Wut kletterte ich aus dem Wagen. Mein Brustkorb fühlte sich zu eng an, zu viele angestaute Gefühle, die in meinem Inneren miteinander rangen. Ich trat gegen einen Reifen, fluchte erneut und klopfte dann meine Taschen ab. Ich war überstürzt von zu Hause aufgebrochen, hatte weder Geld noch ein Handy mit, noch irgendeine lausige Ahnung, wo ich mich überhaupt befand. Scheiße. Und das mitten auf dem Highway. Ich hatte so was von genug. Ich wollte nicht mehr. Vereinzelte Regentropfen prasselten neben mir auf den Asphalt. Fehlte mir gerade noch.
Es war mitten in der Nacht. Der Highway lag verlassen und unbeleuchtet. Ich drehte den Kopf nach links und rechts. War ich nicht vor wenigen Minuten an einer Tankstelle vorbeigefahren? Vielleicht konnte mir dort jemand weiterhelfen. Zumindest ein Telefon konnte ich mir dort borgen. Ich war noch nicht bereit, mich wieder bei meinem Vater zu melden, aber ich hatte Freunde, die mir helfen konnten.
Ich zog den Kopf im Schutz vor dem Regen an die Brust und marschierte los. Die Tankstelle musste mehr als ein paar Minuten zurückgelegen haben. Ich war eine gute Viertelstunde unterwegs und durchnässt bis auf die Knochen, als ich endlich das grell erleuchtete Schild in der Dunkelheit ausmachte. Es war eine heruntergekommene Raststätte mit einer kleinen Tankstelle und einem Parkplatz für LKWs, der aber momentan verlassen lag. Wow, was für ein Drecksloch. Mit dem Auto hätte ich hier sicher nicht angehalten. Die Neonbeleuchtung blinkte defekt. Die Tanksäulen und die Überdachung zeigten Spuren von Rost und die Fenster waren ganz schmierig, sodass man kaum etwas vom Inneren erkennen konnte. Zumindest schien geöffnet zu sein. In dem Zustand war ich nicht mehr wählerisch. Zitternd vor Kälte und Nässe trat ich durch die elektronischen Glastüren. Ein rostiges Klingeln ertönte, aber der Junge hinterm Tresen blieb davon ungerührt und schlief weiter mit dem Kopf auf seine Armbeuge gebettet, und schnarchte leise. Er sah friedlich aus. Ich wollte ihn nicht wirklich wecken, was merkwürdig war, weil sich vor wenigen Minuten noch genug Wut in mir angestaut hatte, um mich mit allem und jedem zu prügeln. Ich ging bis zum Tresen vor und tippte vorsichtig gegen seine Schulter.
»Fuck off«, grummelte der Junge und seine Stirn runzelte sich. Er gähnte im Schlaf, was ihn irgendwie liebenswert erscheinen ließ. »Wir haben geschlossen.« Nach ein paar Sekunden begann er wieder zu schnarchen. Meine Hand verharrte über ihm in der Luft. Ich war verunsichert. Es sah nicht so aus, als wäre geschlossen. Die Tankstelle war hell beleuchtet; es war ein Wunder, dass der Junge überhaupt schlafen konnte. Ich zögerte, aber dann stieß ich ihn erneut an.
Der Junge ging hoch, als hätte ihn etwas gebissen und schlug nach mir. Der Stapel Papiere, auf dem er geschlafen hatte, flatterte dabei zu Boden und ich wich gerade noch rechtzeitig vor seinen schwingenden Armen zurück. Mein Herz wummerte, aber ich war mehr irritiert, als wütend. Was sollte das? Begrüßte er die anderen Kunden auch auf diese Weise? Was war das für ein Laden?
Dann schien der Junge mich endlich wahrzunehmen, denn der gereizte Ausdruck verschwand aus seinem Gesicht. Ich schätze, ich musste ziemlich jämmerlich ausgesehen haben, tropfend vor Regen und mit einem hässlichen Veilchen auf dem rechten Auge. Der Blick des Jungen wurde augenblicklich weich und mitfühlend und ich trat nervös auf der Stelle herum.
»Hey«, sagte ich. »Entschuldige, dass ich dich geweckt habe.«
»Ähm. Kein Problem. Alles okay bei dir? Sorry, aber du siehst aus, als wärst du in ein Wasserloch gefallen.« Der Junge grinste und Grübchen erschienen auf seinen Wangen. Dunkelblonde Locken hingen ihm ungekämmt in die Stirn. Seine linke Augenbraue war zweimal gepierct und er hatte ein Tattoo knapp unterhalb des Schlüsselbeins in der Kontur eines Sterns. Das weiße T-Shirt, das er trug, war total zerknittert und zeigte einen großen Kaffeefleck in der Mitte. Meine Eltern hätten mich so nie außer Haus gelassen, aber den Jungen schien es nicht im Geringsten zu stören. Er hatte etwas Wildes, Unbefangenes an sich. Etwas, das ich selbst gerne in mir gehabt hätte. Dadurch sah er jünger aus, als er wahrscheinlich war. Ich schätzte ihn auf neunzehn.
»Ich musste eine Weile gehen, bis ich hier angekommen bin«, sagte ich und strich mir die tropfenden Haare aus dem Gesicht. Weil sie nass waren, klebten sie auf der Haut. »Und draußen regnet es.« Für den Fall, dass er es nicht mitbekommen hatte.
»Du bist zu Fuß hier? Wow. Du bist hier mitten im Nirgendwo, ist dir das schon klar? Hast du versucht, zu trampen? Böser Junge. Hat deine Mom dich nicht vor Fremden gewarnt?«
Die plötzliche Vertrautheit irritierte mich. Normalerweise hätte ich mich vielleicht daran gestört, aber gerade heute Nacht fand ich Trost in den ungenierten Worten und dem breiten Grinsen dieses Jungen. Ich verriet ihm nicht, dass ich mit meinem Wagen gestrandet war. Er müsste sonst annehmen, dass ich wegen Benzin hier war und ich wollte nicht um Almosen bitten, nachdem ich nichts bei mir hatte. Also zuckte ich bloß mit den Schultern. Ich hatte telefonieren wollen, aber wen konnte ich um diese Uhrzeit schon anrufen? Ich kam mir verloren vor, wie noch nie in meinem Leben und der Bluterguss auf meinem Gesicht pochte schmerzhaft.
»Du siehst aus, als könntest du was Wärmendes vertragen. Darf’s ein Kaffee sein? Travis kauft zwar immer nur das Zeug, das wie Spülwasser schmeckt, aber besser als nichts, was denkst du?«
»Danke, aber –« Ich senkte den Blick zu Boden und zog die Wangeninnenseite zwischen meine Zähne, kaute nervös darauf herum. »Ich hab nicht wirklich Geld dabei.«
»Oh.« Der Junge wirkte nachdenklich. Er sah zur Tür, dann wieder zu mir zurück und fuhr sich mit einer Hand durch die Locken. »Okay. Weißt du was? Komm einfach mit mir.« Er verriegelte die Glastüren und zog ein Gitter hinunter, das wohl vor Einbrechern schützen sollte. Dann kam er wieder um den Tresen herum, knipste das Licht aus und öffnete eine Hintertür mit der Aufschrift »Privat«. »Na, komm schon«, sagte er und winkte. »Ich beiße nicht.«
»Kannst du das denn machen? So einfach schließen?«
Der Junge zuckte die Schultern. »Peter wird nichts dagegen haben. Und um eins machen wir sowieso dicht.«
Der Raum dahinter führte durch einen schmalen Gang und schließlich in eine Küche. Meine nassen Turnschuhe verursachten quietschende Geräusche auf dem Linoleum-Boden. Es roch nach altem Fett und Gewürzen. Die Luft wirkte zu dick zum Atmen und ich war erleichtert, als der Junge eine weitere Tür aufzog. Wir traten in ein kleines Diner mit billigen roten Plastiküberzügen und kreisrunden Tischen. Die Stühle waren bereits hochgestellt worden. Außer uns war niemand da und es war klar, dass hier eigentlich schon längst geschlossen war. Der Junge richtete mir trotzdem einen Platz her und bat mich zu warten, während er wieder in der Küche verschwand.
Er kam zurück mit einer Kanne Kaffee, zwei Tassen und einem Teller voller Muffins. Ich hätte ihn küssen können. Er schenkte mir eine Tasse ein und nahm dann gegenüber von mir Platz.
»Danke«, sagte ich und schloss die Hände um die Tasse, sog die Wärme durch das Porzellan in mich auf und nahm einen vorsichtigen Schluck. Es war mir ganz egal, wer Travis war und was für eine miese Sorte Bohnen er kaufte – es war herrlich, etwas Warmes in mir zu haben.
Der Junge winkte ab. Er biss herzhaft in einen Muffin und lächelte, während er kaute. Ein Krümel blieb in seinem Mundwinkel hängen und ich musste das Verlangen unterdrücken, ihn fortzuwischen.
»Nein, wirklich«, beharrte ich. »Danke. Das hättest du nicht tun müssen. Ich heiße übrigens Matt.«
Er verdrückte den Muffin in Rekordzeit, leckte sich die Krümel von den Fingern und streckte mir dann seine Hand entgegen. »Jesse. Und mach dir nichts draus. Geht uns allen mal so.« Er lachte, als hätte er etwas Witziges gesagt. »Peter wäre stolz auf mich.«
»Peter?« Den Namen hatte er doch vorhin schon erwähnt.
»Der Herr unserer Insel.« Jesse sagte es mit einem Grinsen. Irgendwie bekam ich das Gefühl, dass bei ihm nicht alles richtig im Kopf war. »Nicht so wichtig. Trink erstmal deinen Kaffee, danach werde ich sehen, ob ich etwas Eis für dein Gesicht auftreiben kann.«
Behutsam tastete ich über mein Veilchen. »Es tut gar nicht so weh«, log ich.
»Mhm.« Jesse zog eine gepiercte Augenbraue hoch. »Jetzt sag schon. Wie hat es dich hierher verschlagen? Hast du einen Ort, wo du hin kannst?»
»Ehrlich gesagt … Ich weiß gar nicht so recht, wie ich hier gelandet bin«, gab ich zu und drehte die Tasse nervös in meinen Händen hin und her. »In dem Moment wollte ich einfach nur weg von dort. Ich hab alles abgeschaltet. Und dann war ich plötzlich hier. Tut mir leid. Macht das Sinn?«
Jesses Mundwinkel verzogen sich wehmütig. »Mehr als du ahnst.«
Danach herrschte eine Weile Schweigen. Jesse und ich verdrückten jeweils noch einen Muffin und tranken die Kanne leer. »Also», begann Jesse wieder. »Wohin jetzt mit dir?«
Ich konnte immer noch nach einem Telefon fragen, aber je länger ich darüber nachdachte, desto weniger wollte ich meinen Freunden erzählen, was passiert war. Sie würden Fragen stellen und ich war noch nicht bereit, Antworten zu geben. Es war merkwürdig, dass ich mich hier bei einem Fremden wohler fühlen sollte, aber Jesse kannte mich nicht. Er urteilte nicht und das war zur Abwechslung einmal ganz erfrischend.
»Du hast keine Ahnung, oder?«, fragte Jesse, als ich nicht antwortete, die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt und lehnte sich leicht zu mir vor. Das Licht war zu dämmrig, um die Farbe seiner Augen zu bestimmen, aber sie waren hell und warm und es funkelte in ihnen, wann immer er lächelte, was ziemlich oft geschah.
»Ich will noch nicht zurück«, gestand ich.
»Hm.« Jesses Finger trommelten über die Tischoberfläche. Er hatte schöne, schlanke Finger wie ein Klavierspieler, aber die Nägel waren kurz und abgerissen, als würde er immer wieder darauf herumkauen. An beiden Handgelenken trug er Armbänder aus Leder und Geknüpfte aus Wollgarn, wie sie junge Mädchen als Freundschaftsarmbänder nutzten. »Ich wohne gemeinsam mit ein paar anderen Jungs in einem Haus hinter der Raststätte. Wenn du keinen anderen Ort hast, kannst du die Nacht gerne dort verbringen. Die Jungs haben sicher nichts dagegen.«
»Wirklich?« Mit so viel Hilfsbereitschaft hatte ich nicht gerechnet. Schließlich kannte mich dieser Jesse nicht. Trotzdem war er bereit, so viel für einen völlig Fremden zu geben. Das rührte mich irgendwie.
»Klar.« Jesse räumte den Tisch ab und schloss dann die Eingangstür zum Diner mit einem klimpernden Schlüsselbund auf. Er sperrte wieder ab, nachdem wir beide draußen standen und ich wartete, bis er fertig war. In der kühlen Nachtluft begann ich erneut zu frieren. Ich legte die Arme schützend um meinen Oberkörper und fing dabei Jesses Blick auf. Er lächelte mitfühlend und nahm mich am Arm. Seine Finger waren angenehm warm. Ich konnte an nichts anderes, als an diese kleine Berührung zu denken, bis wir schließlich das Diner umrundet hatten und Jesse mich losließ, um erneut seinen Schlüsselbund zu zücken.
Das Haus war nicht sehr groß oder in einem besonders guten Zustand. Der Putz bröckelte an mehreren Stellen und was einmal weiße Wandfarbe gewesen war, hatte sich über die Jahre grau verfärbt. Trotzdem besaß es irgendwie Charme, eine Art von Zauber. Die Fensterläden waren in jeweils einer anderen Farbe gestrichen worden und neben der Eingangstür prangte ein schwarz-weißes Graffito mit der Aufschrift »The Lost Boys«. Und etwas, das aussah, wie eine halbnackte, männliche Fee.
Jesse hielt die Tür für mich auf.
»Bist du dir sicher?«, fragte ich. »Ich meine, du kennst mich gar nicht. Ich könnte ein Psychopath sein.«
Jesse lachte und schüttelte den Kopf, sodass seine dunkelblonden Locken über seine Stirn strichen. »Da müsstest du es erst einmal mit Travis aufnehmen.«
Travis schon wieder. Lebte der auch hier? »Wie viele wohnen in dem Haus?«
»Das Haus, die Tankstelle und das Diner gehören Peter, aber er lässt uns hier alle kostenlos wohnen.«
»Alle?«
»Ich und Travis. Alvess und Jose, zwei Brüder aus Mexico. Und natürlich Samuel.«
»Eine ganz schöne Gruppe. Und das ist für die anderen okay? Wenn du mich mitnimmst?«
»Auf einen mehr oder weniger kommt es kaum an. Und heute Abend sind sowieso alle außer Haus und feiern in der Stadt. Ich habe beim letzten Pokerspiel verloren und musste deshalb die Tankstelle hüten.«
»Verstehe. Das erklärt zumindest deine Reaktion, als ich dich geweckt habe.«
Jesse verdrehte übertrieben die Augen. »Es wird langsam peinlich. Ich verliere jedes Mal. Aber ich habe ein echt mieses Pokerface, dagegen kann ich nichts machen.«
Er hielt noch immer die Tür für mich auf. Schließlich gab ich mir einen Ruck und trat zu ihm. Im Haus war es dunkel. Jesse hatte das Licht noch nicht angemacht und die Dunkelheit schaffte eine viel intimere Atmosphäre. Ich hielt den Atem an, als ich mich an ihm vorbeischob und unsere Körper sich berührten. Es war lange her, dass ich die Nähe eines anderen Jungen so sehr wahrgenommen hatte wie seine. Die meiste Zeit war ich zu beschäftigt gewesen, meine Neigungen zu ignorieren, um überhaupt andere Typen zu bemerken, aber das hatte heute Abend sein Ende gefunden. Nie wieder wollte ich mich als etwas ausgeben, das ich nicht war. Nie wieder wollte ich mich verstellen.
Jesse ließ mich im Flur warten und kehrte dann mit einem Eisbeutel wieder. Das Eis war in ein Geschirrtuch eingewickelt. Jesse drückte es gegen meine rechte Gesichtshälfte und ich nahm ihm den Beutel aus der Hand.
»Danke«, murmelte ich.
»Keine Ursache. Das da ist mein Zimmer», sagte Jesse und trat eine Tür auf. Die Scharniere quietschten leise. Er knipste das Licht an. »Sam schläft auf der Matratze in der Ecke, aber ich wette, der kommt heute Nacht nicht mehr heim. Du kannst also dort schlafen oder bei mir im Bett, da ist Platz genug. Ich würde dir gerne etwas Eigenes anbieten, aber das Sofa teilen sich bereits Alvess und Jose, und Travis duldet keine Besucher in seinem Zimmer.«
Das Zimmer war nicht groß möbliert. Ein Bett mit Drahtgestell und eine weitere Matratze auf dem Boden, daneben ein billiger Plastikwecker in Form eines Krokodils. Auf einem kleinen Tisch befand sich ein Käfig umringt von Zeitungspapieren. Hinter den Plastikstäben häuften sich Sägespäne und Watte, deshalb konnte ich nicht erkennen, was genau darin lebte, aber ich hörte es leise rascheln. Ein Hamster vielleicht? Es war nicht wirklich ordentlich, aber die Art von Saustall, die man erwarten konnte, wenn Jungs in unserem Alter alleine lebten. Der Fußboden war bedeckt mit Süßigkeiten-Papieren und schmutzigen Klamotten. Beim Hereinkommen trat ich auf eine Erdnuss. In einer Ecke stand ein uralter Schrank, den jemand blau übermalt und mit Graffiti verziert hatte. Der Rest des Zimmers war ziemlich karg, dafür war jede freie Wandfläche mit Postern überdeckt worden. Bilder von Musikbands und Comicgfiguren und sogar welche mit nackten Männeroberkörpern. Allerdings sammelten diese Poster sich auf Samuels Zimmerseite, also machte ich mir noch keine allzu großen Hoffnungen, was Jesse und dessen Neigungen betraf.
Jesse kramte in einer offen stehenden Schublade, über dessen Rand Socken und Boxershorts quellten. »Hier«, sagte er und reichte mir eine Jogginghose und ein knittriges T-Shirt, das so aussah, als wäre es schon mal getragen und nicht wieder gewaschen worden. »Du bist noch immer nass. Du solltest dich umziehen.«
Ich sah auf die Klamotten in meiner Hand hinunter und dann zu Jesse. »Wieso hilfst du mir?«
»Wieso so misstrauisch?«, fragte Jesse und drehte mir den Rücken zu. Er tat, als würde er aufräumen, aber ich wusste, dass er mir Privatsphäre geben wollte, während ich mich umzog. Und ganz ehrlich? Hier aufzuräumen erschien sowieso wie ein nutzloses Unterfangen. »Ich war auch einmal in deiner Situation. Ich weiß, wie es ist, nirgendwohin zu können.«
Ich hatte gerade mein nasses Hemd von mir geschält. Bei Jesses Worten hielt ich inne. Ich starrte ihn an und er drehte den Kopf, um meinen Blick zu erwidern. Mein Oberkörper war nackt und ich hatte eine Gänsehaut, die meine Brustwarzen aufrecht stehen ließ. Ich war nichts Besonderes. Braune Haare, braune Augen. Weder muskulös noch besonders hübsch oder groß. Totaler Durchschnitt, aber Jesses Augen wanderten meinen Körper rauf und runter, als gäbe es etwas zu entdecken. Dann wandte er den Blick wieder ab und bückte sich, um eine Socke vom Boden zu sammeln. Seine Ohren waren ein wenig rot geworden. Als ich damit fortfuhr, meine Jeans auszuziehen, musste ich ein Lächeln unterdrücken.
Als ich fertig war, ließ ich mich auf die Bodenmatratze sinken, den Rücken gegen die Wand gelehnt, und presste den Eisbeutel auf mein Gesicht.
Jesse ließ das T-Shirt, das er gerade hatte wegräumen wollen, einfach wieder zu Boden fallen. »Willst du mir verraten, woher du das Veilchen hast?«
Lieber nicht. Es war mir peinlich, darüber zu reden, aber Jesse hatte so viel für mich getan, da erschien es nur richtig, zumindest eine seiner Fragen zu beantworten. »Mein Vater«, sagte ich und drückte das Eis so fest gegen mein Auge, dass die Kälte zu einem scharfen Schmerz wurde. »Wir hatten verschiedene Vorstellungen darüber, wer ich sein sollte.«
»Ist es nicht das Gleiche mit allen Vätern?«, sagte Jesse und ich war erleichtert, kein Mitleid aus seiner Stimme zu hören. »Aber keine Sorge. Hier ist elternfreie Zone und jeder kann so lange bleiben, wie er will.«
»Hier?«
Jesses Augen begannen zu funkeln und seine Mundwinkel hoben sich. »Die Lost Boys.« Schwungvoll setzte es sich auf das Bett; die Matratze federte und er hüpfte ein paar Mal auf und ab. »Wahrscheinlich hat Peter dich bereits erwartet.«
Als ich aufwachte, war ich nicht länger allein auf der Matratze. Ein zweiter Körper lag neben meinen gepresst. Ich war wie erstarrt. Natürlich dachte ich, dass es Jesse sein musste und mein Puls beschleunigte sich vor Aufregung. Aber dann drehte ich meinen Kopf und der Junge, der neben mir lag, entpuppte sich als völlig Fremder. Ich hatte dennoch nichts dagegen, ihn neben mir zu haben, denn er war das schönste Wesen, das ich je gesehen hatte. Die Haut war honigbraun und makellos. Volle Lippen und eine sanft geschwungene Stupsnase. Seidiges, schwarzes Haar fiel ihm bis zu den Schultern und kräuselte sich über dem Kopfkissenbezug. Hinter seinem Ohr konnte ich den Ansatz eines Tattoos erkennen. Schwarze Tinte und etwas, das so aussah wie ein Traumfänger, dessen Federschmuck im Wind wehte.
Er öffnete die Augen, noch während ich ihn anstarrte. Sie waren so dunkel, dass man die Pupillen fast nicht ausmachen konnte. Zwei schwarze Löcher, die mich in ihren Bann sogen.
»Hallo, Hübscher«, begrüßte der Junge mich und lächelte lasziv. Ich spürte seine Hand unterhalb der Decke meine Hüfte hinaufwandern. Die Berührung entfachte ein angenehmes Kribbeln und noch immer konnte ich mich nicht rühren, nichts erwidern.
Ein großes Kopfkissen flog durchs Zimmer und traf den Jungen zielsicher am Hinterkopf. »Lass ihn in Ruhe!« Jesse hatte sich in seinem Bett aufgerichtet und blickte finster auf den Jungen neben mir hinab. Ich nahm an, das war Samuel, derjenige, auf dessen Matratze ich schlief.
»Was?«, fragte Samuel und rieb sich schmollend über den Hinterkopf. »Er lag in meinem Bett. Ich dachte, er wäre ein Geschenk an mich.«
»Achte das nächste Mal auf die fehlende Schleife.«
Samuel grinste verwegen. »Dafür hätte ich ihn aber ganz auspacken müssen.«
Jesse griff sich ein weiteres Kissen und Samuel ging in Deckung. »Schon gut, schon gut!« Lachend hielt er die Arme hoch. »Aber wenn du dir das nächste Mal einen aufreißt, lass ihn doch einfach bei dir schlafen, dann kommen keine Zweifel auf.«
»Er war kein Aufriss«, sagte Jesse grummelnd. »Er ist zur Tankstelle gekommen, hatte kein Geld und wusste nicht wohin.«
»Ah. Eine weitere verlorene Seele für Peters Sammlung?«
Jesse hob die Schultern an. »Das weiß nur Peter.«
»Was nichts daran ändert, dass da immer noch ein süßer Typ in meinem Bett ist. Und ich hatte gestern Abend leider nicht ganz so viel Glück wie du.«
»Sam!» Jesses Stimme war warnend, aber Samuel beachtete ihn gar nicht mehr und lenkte seinen Blick stattdessen auf mich. »Also. Zu dir, Hübscher. Normalerweise verlange ich zumindest einen Namen, bevor ich jemanden in mein Bett einlade.« Jesse schnaubte hörbar und Samuel grinste. »Okay, das ist gelogen. Der Name ist mir scheißegal, wenn der Rest passt. Aber trotzdem – wie heißt du?«
»Matt.« Ich kam mir blöd vor, ihm in seinem eigenen Bett die Hand zu reichen, also ließ ich es bleiben.
»Reizend. Ich bin Samuel, aber jeder, der mit mir das Bett teilt, darf mich Sam nennen.«
»Hi«, sagte ich lahm und widerstand der Versuchung, mich unter der Bettdecke zu verkriechen.
Samuel drehte seinen Kopf wieder zu Jesse. »Er ist süß. Wenn Peter ihn nicht behalten will, nehme ich ihn.«
»Er ist kein Haustier. Er brauchte Hilfe.«
»Sorry«, sagte ich an Samuel gewandt. »Dafür, dass ich so einfach dein Bett benutzt habe. Jesse meinte, du würdest ohnehin nicht heimkommen.«
»Tja. Wie gesagt, leider kein Glück gestern, aber das hat sich jetzt ja gewendet.« Samuel zwinkerte mir zu und ich war ein wenig baff. Ich war es nicht gewohnt, dass man so offen mit mir flirtete und schon gar keine anderen Jungs. Wirklich, wirklich süße Jungs. »Dein Auge sieht allerdings schlimm aus. Soll ich mal pusten?«
Samuel lehnte sich zu mir vor. Jesse schimpfte im Hintergrund, aber bevor Sam mich anfassen und der andere ihn unter einem Kopfkissen erstickten konnte, wurde die Tür aufgerissen.
»Jesse!«, rief der Eindringling und knallte die Tür gegen wie Wand. »Wieso bist du nicht an der Tankstelle? Einer von den LKW-Fahrern wartet schon seit einer Stunde vor geschlossenen Türen und hat mir fast das Ohr abgerissen.« Scheiße, war der Typ unheimlich. Nicht einmal besonders groß, aber muskelbepackt, kurz rasierte Haare und breite Schultern und Oberarme. Bunte Tattoos schlängelten sich seine Unterarme hinauf und verschwanden dort unter den Ärmeln eines grauen Sweatshirts. Im linken Ohr trug er einen falschen Diamant-Ohrstecker. Aber es war nicht einmal sein Aussehen, das mich ängstigte. Es war der kalte, berechnende Ausdruck in seinen Augen und die fast spürbare Wut, die ihn wie eine Aura umgab.
Wäre ich Jesse gewesen, ich wäre geflohen oder hätte mich zu Boden geworfen, um Gnade zu erflehen, aber weder er noch Samuel schienen besonders beeindruckt vom Auftritt des Neuankömmlings. »Ah, shit. Tut mir echt Leid, Travis.«
»Fick dich und –« Da schien er mich endlich zu bemerken und hielt mitten im Satz inne. »Wer zur Hölle ist das? Sam? Wann hast du den Grünschnabel gestern an Peter vorbeigeschmuggelt?«
»Siehst du?«, sagte Samuel an Jesse gerichtet und legte gleichzeitig einen Arm um meine Schultern. »Travis ist auch der Meinung, dass er mir gehört.«
Jesses Blick war mörderisch, aber das stachelte Samuel nur weiter an. Bevor er mich noch vor allen anderen küssen konnte, befreite ich mich aus der Umarmung und kletterte hastig von der Matratze. Travis beobachtete jede meiner Bewegungen mit kalten, kalkulierenden Augen und ich begann zu schwitzen.
»Ich habe ihn gestern gefunden«, sagte Jesse und stellte sich schützend neben mich. »Ich habe ihm gesagt, er kann bleiben.«
»Ohne dich mit Peter abzustimmen?«
»Oh, bitte. Als würde
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2014
ISBN: 978-3-7368-5681-3
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