Sie haben den Deckel abgenommen. Endlich kann ich wieder sehen. Licht. Es ist ganz schön heiß hier. Wahnsinnig heiß. Vielleicht auch wegen des ganzen Zeugs was sie mir ins Gesicht geschmiert haben. Ich starre an die Decke. Wohin auch sonst? Michel Angelo oder so, siebzehnhundert noch was, oder so. Adam und Eva. Im Paradies. Mit Schlange. Mit Apfel. Mit Gold verziert. Ich darf noch mal ne Nackte sehen, nett. Ich habe Kirchen schon immer gehasst. Als Kind wurde ich rein gezwungen, später habe ich sie einfach nicht mehr betreten. Jetzt lieg ich hier, und kann das nicht verhindern. Ich kann nichts mehr. Aber mehr, als ich gedacht hätte, zu Lebzeiten. Man muss den ganzen Scheiß miterleben. Totsein. Ich dachte, einfach Licht aus, und gut is. Wenn die wenigstens aufhören würden so schief grell rumzuklimpern, Orgel, schrecklich.
Endlich Ruhe. Die Gemeinde hüstelt. Das uralte Kirchenschiff hüstelt zurück. Ein Mensch hallt abenteuerliche Geschichten über mich durch das Gemäuer. Ich sei hilfsbereit gewesen, habe immer offene Ohren für meine Mitmenschen gehabt, ich habe ein langes, gottgefälliges Leben geführt. Und überhaupt.. Wenn der so weiter labert, hängt der liebe Gott persönlich noch zehn Jahre dran oder der Bundespräsident persönlich schmeißt mir wimmernd nen Kranz vor die Füße. Hüsteln. Toll hat er das gemacht, der schallende Mensch. In fünf Minuten dramatischem Gesingsang mein Leben zusammengefasst. Oder einfach den Universalwisch abgelesen, in dem jeder Tote als Bleistift- Randanmerkung seine eigene Dramatik kriegt. Zwanzig Jahre auf dem Bau, Lungenkrebs durch Asbest, oder halt mal ehrgeiziger Unternehmer aus purer Verzweiflung vollgepumpt auf einem Bahnhofsklo gefunden. Er schließt mit „Abschied“. Drei Minuten Abschied, und Gott tröste die Hinterbliebenen.
Ich habe mich längst verabschiedet. Vor drei Jahren, Schlaganfall Nummer zwei brachte mir eine Halbseitenlähmung ein, „rechtsseitige Arm- und Gesichtsbetonte Halbseitenlähmung“. Unfähig.. Alles Scheiße. Meine Tochter, der ich lang genug den Arsch abgewischt hatte „Ich hab AA gemacht!!“ kreischte sie zur Arschabwischaufforderung die ersten Toilettenjahre ungeduldig, sollte mir zehn Jahre später bunte Kärtchen vorlegen. Da stand „Baum“ drauf. Oder „Jacke“. „Buch“, „Hut“. Ich sollte nachsprechen. Als sei ich doof gewesen. Ich konnte es nicht. „Hochgradige Beeinträchtigung des Sprachempfindens und des Sprechens“. Meine Frau fütterte mich. Diätprodukte. Breie. Ich war überfordert, nicht mal den Mund konnte ich auf und zu machen, alles lief an den Seiten raus. Ich schlabberte und kleckerte, ärgerte mich über mich selbst. Nicht mal vernünftig fluchen konnte ich. Nur sabbern. Meine Frau, beschissen hatte sie mich, immer wieder, all die Jahre, jetzt kannte sie gar keine Hemmungen mehr. Sie verlor die Nerven, die Kontrolle, beschimpfte mich als unerträglichen Krüppel, und ging bumsen. Wie immer. Meinen Bruder.
Mein Bruder. Gott in geliehenem Nadelstreifenanzug. Die Güte in Person hat sein mitfühlendstes leidender Hund- Gesicht aufgesetzt, stützt meine Frau, elend muss ich aussehen, in meiner rosa plüschigen Stätte, traurig will sie aussehen, angewidert schaut sie auf mich herab. Voll gedröhnt mit Schlaftabletten und Billigbier. Recht hat sie. Noch ein Monat meiner beschissenen Sozialrente, und der neue Kühlschrank wäre drin gewesen. Theatralisch fällt sie in sich zusammen, mein Bruder entfernt noch hilfsbereit dieses weiße Blumenzeugs aus ihrer zitternden, verschrumpelten Hand, und legt mir das Ding elegant- respektvoll auf die Brust. Ekelhaft. Arschloch. Er hatte meine Frau gebumst, all die Jahre. Er hatte gedacht ich wäre blöd gewesen und merkte das nicht. Mit einem verzweifelten aber einsichtigen Nicken lässt sich die Alte sanft dazu bewegen sich auch räumlich von mir zu entfernen, sie verschwindet aus meinem eingeschränkten Blickfeld, sie wird sich beeilen müssen, Zitronenrolle anrichten für zwanzig Trauernde, „eine tolle Frau“. „Stark“. Bla, bla. Für sie hab ich mich dumm und dämlich bezahlt. Verlagsgemeinschaft Reinhard Mohn, Eierschneider hier, Plastikplanenkleiderschrankimitation da. Mein zu versteuernder Jahreslohn 1978, 2779 DM. Arbeitereien. Mal hier mal da, in gelben Containern gepennt mit anderen Alkis, gesoffen. Zuhause auch gesoffen. Meine Frau hat mit gesoffen.
Meine Tochter. Ihr Gesicht ist starr. Sie starrt mich an. Sie ist traurig. Zusammen haben wir Sportschau geguckt, jeden Samstag. Nach dem Baden. Ich war Liverpool- Fan. Fernseh- Fan. Ich habe auch gelesen. Konsalik, Simmel, Billigkrimis und Fernsehzeitung. Dazu Zitronenrolle, jeden Sonntag ein gutes Stück Fleisch, mehr brauchte ich nicht. Die Alte hatte ständig den weißen Strunk im Salat gelassen. Solange ich konnte hab ich ihr Dampf unterm Hintern gemacht. Aber, ich habe sie geliebt. Von Butterfahrt zu Butterfahrt. Immer wieder teures Zeugs gekauft, „ 3 Stk. Tagesdecke Präsident“, 2 Stk. „Therapie Unterbett“, 1 Stk „Goldbesteck 15 tlg.“, und nie ist wirklich was bei rum gekommen. Außer das Federbett. Das hat 11 Jahre gehalten, so lange in etwa zahlte ich auch jeweils für den ganzen Kram. Das Bett, französisch, hatten wir schon kaputt bekommen. Aber kostenlos. Von nem Kumpel. Die Alte brachte irgendwann viel zu früh nen toten Jungen zur Welt. Ist besoffen vom Sessel gefallen.
Meine Tochter, süß war sie, mein Ein und Alles. Die letzten Jahre kam sie nur noch wenn sie Geld wollte. Ich gabs ihr. Zehn Mark hatte ich immer übrig. Sozialamt, Rente, irgendwie. Letzten Sonntag sollte sie kommen. Als sie kam war ich schon tot. Gestorben nach dem dritten Schlaganfall. Ich wollte mich aufrichten, noch irgendwie rufen, und bin gestorben, aufgerichtet. Meine Alte war total verstört, hat hysterisch rumgebrüllt und sich erstmal einen hinter die Binde gegeben. Dann kamen die Männer. Schicke Anzüge. Dritter Schlaganfall, ich wurde eine Nummer. Hingelegt. Routiniert aus dem Schlafzimmer getragen, ich wollte eigentlich längst hier tapeziert haben. Ich hatte Angst. Wahnsinnige scheiß Angst! Ich hatte alle Krimis gelesen, unzählige Leichenwagen gesehen, aber wohin würden sie mich bringen? Was passiert jetzt? Sie trugen mich, in einer Kunststoffkiste, vorbei an meiner klagenden Frau, schaukelten mich drei Stockwerke runter. Die Krämers glotzten bestimmt gierig vom Balkon. Wie immer. Wie oft hatten die schon die Bullen gerufen, nur weil ich mal des nachts im besoffenen Kopp das Schlüsselloch nicht gleich gefunden hatte, und mich etwas darüber aufregte?! Ich sollte in irgendeinem Wagen irgendwo hingebracht werden. Ich hatte panische Angst. Wie lange sterbe ich schon, und wie lange dauert Sterben?
Hier stinkts. Scheiß Kirche. Irgend nen Stecher legt tröstend den Arm um meine Tochter. In dem Alter hatte ich bereits einen Krieg überlebt, und nen ordentlichen Gesellenbrief in der Tasche. Zimmerer. Ich war mal ein stolzer Zimmerer. Aber gelebt hab ich immer nur von der Hand im Mund, von der Kippe im Mund. Irgendwann kam ein Lebenszeichen von meinem Bruder. Und irgendeiner Tante aus Norddeutschland. Wir hatten uns all auf der Flucht verloren. Ostpreußen. Vertriebene. Ich blieb bei meiner Oma bis ich mit „Führung sehr gut“ und „Fleiß gut“ aus der Volksschule entlassen wurde. Drei Jahre bevor sie dann starb. Ein Jahr vorher stellte sie noch den Antrag auf Schadensfeststellung, Vertreibungsschäden. Ich erbte eine Reichmarkssparanlage. 6000 Deutsche Mark. Mein Bruder sah nix. Ihm konnten in die sowjetische Besatzungszone keine Bescheide zugestellt werden. Von meinem Vater erbte ich die Zuerkennung von Hausratentschädigung, Schadensstufe 1, Vertreibungsschaden bei 4000 Reichsmark Einkünfte, machte 1200 DM für mich. Ich heiratete.
..und wurde geschieden: Die Klägerin begehrte die Scheidung aus dem Verschulden des Beklagten. Sie trug vor: Der Beklagte habe ihr in das Gesäß getreten, dabei sei sie gestürzt, ferner habe er ihr das Kleid zerrissen, und sie als „Nutte“ und „Alte Sau“ beschimpft. Er sei meist gegen 2.00 Uhr nachts nach Hause gekommen, und meistens angetrunken gewesen. Später habe der Beklagte gedroht sie umzubringen und sie gegen eine Tür gestoßen. Er habe sie regelmäßig, auch während des Eheverkehrs misshandelt. Im Namen des Volkes nach sechs Jahren Ehe die Scheidung.
„So nimm denn meine Hände“ singen sie. Ich war ewig nicht mehr auf einer Beerdigung. Schwarze Anzüge drapieren sich in militärischer Eleganz kreisförmig um das was mal ich war. Jetzt ist es soweit. Sie heben den Deckel auf meinen Sarg. Die Nackte ist weg. Das wilde Flackern der Kerzen ist weg. Alles ist weg. „So nimm denn meine Hände“ ganz dumpf, von weit her. Es schaukelt. Sie tragen mich. Meine Mama war für immer verschollen geblieben. Ich hab kaum Erinnerungen an sie. Meine Oma war streng. „Iller, Lech, Isar, Inn fließen all zur Donau hin“ lernten wir in der Schule. Mein Vater, Unteroffizier, Meiereigehilfe, 45 zu „unbekannter Stunde“ verstorben. „Alles, was ihr tut, das tut von Herzen als dem Herrn und nicht den Menschen.“, mein Konfirmationsspruch. Mein Lehrmeister. Meine erste Frau. Meine zweite Frau. Ein Goldstück. Sie nannte mich „alter Sack“ und ich sie „alte Sau“. Wir hatten nichts. Kein Geld. Nicht mal nen vernünftiges Schloss in der Wohnungstür. Wir hatten uns und unsere Tochter. Wir heizten mit Kohlen, der Nachbar fuhr Ford. 15 Jahre Krieg mit Behörden, Arbeitsämtern, Versicherungsanstalten, Krankenkassen, Sozialgericht. Hier ne Kur, da ne Kur. „Schwere, allgemeine Arterienverschlusskrankheit, Zustand nach Operation eines Bauchaortenaneurismas, Beckenbeinarterienoperation bei Fettstoffwechselstörung, Diabetes mellitus, chronischer Bronchitis.“ Totgeraucht. In die Kliniken schickte die Alte mir besoffene, verzweifelte Briefe. Ich solle Geld schicken, sie sei auf der Sparkasse gewesen, Geld ist noch nicht da, Geld ist schon da, keine Sorge, sie kaufe nichts, nur nen Eierschneider, ich solle bitte Geld durch die Post schicken.
Sie halten an. Ich bin am Grab. Ich höre wieder dumpfes Bibelzeug. Es ruckelt. Und plötzlich bewegt sich gar nichts mehr. Ich bin angekommen. Sie haben mich hinab gelassen. Wohin eigentlich? Keine Hölle, kein Gott. In den Krimis haben sie den Toten wenigstens immer die Augen zugeklappt. Ich muss die Dunkelheit sehen. Es wird immer wärmer. Ich bin allein. Ich habe Angst.
Ich sterbe schon lange und sterben hört niemals auf.
Texte: Copyright beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 17.12.2008
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