Jakob, der Alte, wie alle ihn nannten, saß in der kleinen Hafenkneipe und zog an seiner Pfeife. Die Kneipe hieß schon lang nicht mehr Hafenkneipe, denn mittlerweile hatte sie zigmal den Besitzer gewechselt und war zum touristenfreundlichen Café aufgestiegen. Überhaupt war alles im kleinen Dorf mittlerweile für die Touristen umgebaut worden. Alles hatte sich für den Tourismus verändert Die Fischer, die früher aufs Meer hinausgefahren sind, so sich und das Dorf versorgt hatten, haben sich nach Jahren der steigenden Unwirtschaftlichkeit und der zurückgehenden Fänge zu „Tourist-Guides“ umschulen lassen, die Fischerboote waren Touristenkähne geworden und die meisten leer stehenden Fischerhütten wurden zu Pensionen und Hotels umgebaut.
Doch Jakob, der Alte, weigerte sich beständig, sein seit Jahrzehnten bestehendes Lokal Café oder sogar Pub zu nennen. Es war seine Kneipe und sein zweites Zuhause. Nicht, dass er viel trank, meist hatte er einen großen Kakao vor sich stehen, denn da war die Temperatur ja egal- er schmeckte heiß und kalt. Aber grundsätzlich pflegte er seinen Kakao aber aus einem Bierkrug zu trinken, was das Gerücht am Leben erhielt, Jakob, der Alte, sein ein Trinker.
Außerdem war Jakob, der Alte, noch gar nicht so alt. Nur sein langer, weißer Bart, der die gesamte untere Hälfte seines Gesichts verdeckte, erweckte den Anschein, Jakob, der Alte, sei wirklich so alt, wie er aussah. Dabei war es doch weithin bekannt, dass gerade Fischer durch die Sonne, das Salzwasser und den Wind viel älter aussahen, als sie es wirklich waren.
Aber gerade dieser lange, weiße Bart sorgte für eine Legende. Denn die Leute des Dorfes erzählten sich, dass Jakob, der Alte, niemals lächelte. Die Gründe, die man sich erzählte, waren ebenso zahlreich wie verschieden, aber in einem war man sich einig:
Jakob, der Alte, hatte sein Lächeln verloren.
Es war während des Krieges, Jakob war noch jung und ein aufstrebender Offizier, der Ehre und Tapferkeit im Felde demonstrierte. Egal, wie blutig und mörderisch das Gefecht war, egal, wie viele Feinde in ihren Schützengräben nur auf den Sturm warteten, egal, wie oft die Granaten direkt neben ihm detonierten, Jakob, der Offizier, war immer an vorderster Front. Und immer hielt eine göttliche Fügung die schützende Hand über ihn. Und auch, wenn alle seine Männer, seine Kameraden und Freunde tot oder verwundet auf dem Schlachtfeld lagen, Jakob kämpfte bis zum Letzten und triumphierte über die Heerschar seiner Gegner.
Dies brachte ihm viel Lob und so manchen Orden ein und schnell begann man, Jakob ob seiner anscheinenden Unverwundbarkeit für Spezialaufträge einzusetzen.
Sei es die Infiltrierung des gegnerischen Heeres, seien es Sabotageakte auf feindlicher Seite, alle diese Aufträge erfüllte Jakob zuverlässig und unbeschadet.
Nur einmal wurde er gefangen genommen. Er war gerade auf dem Weg zur Heeresleitung, da ihn eine feindliche Patrouille stellte. Sie merkten sofort, dass er eine Botschaft überbringen sollte und brachten ihn zu ihrem besten Folterknecht.
Er fragte Jakob tage- und nächtelang aus, schlug ihn, ließ ihn nicht schlafen und essen. Er quälte und folterte Jakob nach allen Regeln seiner brutalen und blutrünstigen Kunst, doch Jakob öffnete nicht einmal seinen Mund. Er lächelte nur. Und gerade dieses Lächeln war es, das den Folterknecht immer wütender machte. Und je wütender er wurde, desto mehr Gewalt tat er Jakob an. Doch egal, wie schmerzhaft es auch war, Jakob lächelte nur, denn er war sich gewiss, dass das Geheimnis, dass er hinter seinem Lächeln verborgen hielt, den Krieg verändert oder sogar beendet hätte. Also hielt er jede noch so große Qual aus. Seine Zähigkeit und seine Widerstandsfähigkeit machten einen großen Eindruck bei dem Folterer. Noch nie war ihm jemand begegnet, der die Tortur so standhaft und ehrenvoll aushielt. Und je länger er ihn quälte, desto mehr wuchs nicht nur seine Wut, sondern auch sein Respekt.
Nach langer Zeit wurde beschlossen, dass Jakob nicht länger gequält werden brauchte, denn es hatte augenscheinlich keinen Effekt. So beschloss man, sich seiner zu entledigen und der Folterknecht erhielt die Aufgabe, Jakob zu exekutieren.
Zu groß aber war mittlerweile sein Respekt gegenüber seinem Gefangenen. Und so beschloss der Folterknecht, Jakob in den Wald zu bringen. Seinen Vorgesetzten erzählte er, er würde ihn gleich dort beseitigen, aber tatsächlich zog er, als Jakob mit verbundenen Augen vor ihm kniete, sein langes Messer und flüsterte leise:
„Du warst sehr mutig. Deine Tapferkeit soll belohnt werden. Ich lasse dich nicht sterben, sondern frei. Doch ich nehme dir, was mich am meisten ärgerte.“
Und er schnitt mit dem Messer tief in Jakobs Mundwinkel und nahm ihm so für immer sein Lächeln.
Und noch heute versteckt Jakob, der Alte, seine Narben und sein verlorenes Lächeln unter seinem langen Rauschebart.
***
Jakob war ein Fischer. Ein guter sogar.
Morgens fuhr er hinaus auf die See, egal, wie stürmisch oder regnerisch es war.
Er bezeichnete sie immer als seine Geliebte. Die See gab ihm, wonach es ihm verlangte und er gab ihr all seine Kraft. Er bezeichnete es immer als perfekte Beziehung.
Morgens fuhr Jakob zu seiner Geliebten hinaus und abends kehrte er zu seiner Frau zurück. Er liebte sie genauso, wie er das Meer liebte. Sie war stürmisch- das Meer war stürmisch.
Wenn das Meer ihm am Tag nicht alle Kraft nahm, dann tat es am Abend seine Frau. Und wenn sie ihn schaffte, war das Meer gut zu ihm. So wollte er es und er war froh darüber, dass es so war.
Er liebte beide und ließ beide wissen, dass die jeweils andere eine „Konkurrentin“ hatte.
Zu jener Zeit lächelte Jakob nur. Er lächelte, als er hinaus fuhr, er lächelte, als er heimkehrte. Er lächelte bei sengender Hitze und er lächelte bei stürmendem Regen.
Doch ob seiner Zufriedenheit fing seine Frau an, eifersüchtig zu werden. Sie fragte sich immer wieder, warum er lächelte, wenn er sie des Morgens verließ, und wenn er abends heimkehrte, fragte sie sich, warum er so glücklich war.
So beschloss Jakob, der Fischer, dass beide seiner Gefährtinnen sich gegenseitig kennen lernen sollten. Er nahm eines Morgens, die Sonne stand noch weit unter dem Horizont, seine Frau mit auf die See, mit zu seiner Geliebten. Sie sollte sich mit ihrer vermeintlichen Konkurrentin aussöhnen und verstehen, warum all dies ihn so glücklich machte.
Sie fuhren weit hinaus und die aufgehende Sonne färbte den wolkenlosen Himmel purpur.
Seine Frau beobachtete sein gesamtes Treiben, wie er die Reusennetze einholte, wie er die Krebskäfige kontrollierte, wie er das alte, selbst geknüpfte Netz mit den Haken daran ins Wasser ließ und wieder einholte. Sie genoss den Tag mit ihrem Mann auf See.
Plötzlich verdunkelte sich die Sonne und Wolken verdeckten jeden Blick auf den blauen Himmel. Die Wellen wurden höher und Donnern ließ das kleine Fischerboot erzittern.
Riesige Wellen schaukelten das Boot umher, schlugen es von links nach rechts. Riesigere Wellen überspülten das Deck des kleinen Bootes und Jakob und seine Frau wurden von Bord gespült. Das letzte, was Jakob sah, bevor es schwarz um ihn herum wurde, war seine Frau, wie sie die Hand nach ihm ausstreckte.
Als Jakob erwachte, lag er allein am Strand. Die Wellen umspülten sanft seine Füße, als wollten sie ihn wecken. Die Sonne ging gerade auf der anderen Seite der Insel unter und färbte den Himmel rosa und orange.
Jakob war allein. Seine Geliebte hatte ihm seine Frau genommen.
Von dem Zeitpunkt an hat niemand mehr jemals Jakob lächeln sehen. Weder, wenn er zum Fischen hinaus aufs Meer fuhr, noch, wenn er heim in sein leeres Haus kehrte.
Noch heute versteckt Jakob, der Alte, seinen durch die Trauer und Einsamkeit verzogenen Mund hinter seinem dichten, dicken, weißen Bart.
***
Jakob, der Alte, war so alt, dass niemand sagen konnte, wie alt er wirklich war. Alle, die vor ihm geboren waren, sind vor langer Zeit gestorben. Und viele, die nach ihm geboren worden sind, sind auch schon lange tot.
Jakob, der Fischer, fuhr jeden Tag hinaus aufs Meer, egal, welche Stürme das Meer aufbrausen ließen. Egal, wie sehr die Sonne auch brannte, egal, ob es Wochenende oder Feiertag war- Jakob, der Fischer, fuhr hinaus aufs Meer. Nichts konnte ihn schrecken und niemand ihn aufhalten.
Jakob, der Fischer, hatte weder Angst vor Wind und Wetter, noch vor Tod und Teufel.
Eines Abends - Jakob fuhr hinaus, um die Schwärme, die des Nachts wanderten, zu fischen - kam plötzlich ein riesiger Sturm auf. Die Wellen türmten sich, schlugen gegen das kleine Boot und wischten immer wieder über das Deck.
Noch hätte Jakob umkehren können, aber nur in Ufernähe tobte das Wetter derartig – weit draußen, dort, wo die Tiefsee nicht mehr fern war, hoffte er, an diesem Abend einen großen Fang zu machen.
Also steuerte er drauf los, die großen Brecher zu umfahren und durch das Unwetter zu schiffen. Doch je tiefer er in den Sturm eintauchte, desto unruhiger wurde die See. Das Wasser ließ die alten Planken des Schiffes knarren und ächzen und der Mast bog sich beunruhigend im Wind. Wohin Jakob auch blickte, sah er nur Wellenberge sich auftürmen, Blitze über das Meer zucken und weitere dunkle Wolken die Apokalypse vorbereiten.
Jakob war zwar mutig und unerschrocken, aber kein Dummkopf, also setzte er Segel, um das Land zu erreichen.
Ein riesiges Grollen ließ die See, sein Schiff, seinen Leib erzittern. Die ganze Welt schien zu beben. Urplötzlich wusste Jakob, warum das Schiff so ungewohnt schaukelte und zitterte. Ein Blitz war in den Mast eingeschlagen und hatte ihn bis unter das Deck bersten lassen.
Durch den Mast, der plötzlich sein Volumen um ein Vielfaches erhöht hatte, brachen die Planken und mit ihm die Rehling. Das Schiff war in der Mitte auseinander gebrochen und Jakob stand auf dem hinteren Teil. Das Unterdeck des Hecks flutete sich langsam und die beiden Teile, die einst ein schiff waren, gingen dann rasch unter.
Jakob riss sich eine Planke aus der Seitenwand, die ihm als Schwimmhilfe dienen sollte.
Er sprang aus dem untergehenden Rest seines Schiffes und schwamm, damit nicht der Sog ihn mit in die Tiefe riss. Doch nicht der Sog, sondern die Wellen waren sein wahres Problem.
Sie schlugen über ihm zusammen, ließen ihn durch die Luft wirbeln und zogen ihn unter Wasser.
Je mehr er gegen sie kämpfte, desto mehr schienen sie mit Gewalt der Natur gegen ihn zu schlagen. Jakob hatte keine Kraft mehr. Er klammerte sich an seine Planke, das einzige, was ihm noch von seinem Boot geblieben war, und betete, dass der Sturm sich schnell verziehen möge.
Es wurde schwarz um ihn und bleierne Stille senkte sich um seinen Geist.
Alles war schwarz.
Alles war still.
„Jakob, magst du das Leben?“
Eine Stimme im Dunkel, die so laut war, dass die Stille fluchtartig verschwand.
Jakob bejahte. Er wusste nicht, ob er wirklich antwortete oder die Antwort nur dachte.
„Das habe ich mir gedacht. Jakob, würdest du alles tun um am Leben zu bleiben?“
Jakob zögerte. Einen Moment, zwei.
Aber er bejahte.
„Dann gib mir dein Lächeln, deine Freude und du wirst Leben.“
Jakob zögerte. Diesmal länger.
Die Aneinanderreihung von Momenten schien eine Ewigkeit lang.
Jakob bejahte.
„Sehr gut, Jakob! Das war eine gute Entscheidung.“
Und die Stimme erstarb im Dunkel.
Als Jakob erwachte, lag er am Strand, die Planke umkrallte er noch immer.
Aber er lebte. Er hatte das Gefühl, er müsste sich freuen. Doch er konnte nicht.
Seit dem Tage hat niemand mehr Jakob lächeln sehen, niemals mehr war er glücklich.
Man sagte, der Teufel hat ein gutes Geschäft gemacht.
***
Jakob, der junge Fischer, lebte nicht immer im Dorf. Erst nach seinen Lehrjahren zog er hierher. Niemand kannte seine genaue Herkunft, aber er wurde als einer der ihren akzeptiert.
Er erledigte seine Arbeit gewissenhaft, er war streng mit sich selbst und ließ nie mehr als die Arbeit zu.
Nach einer Zeit – die Größe des Dorfes gebot es einfach – lernte Jakob jeden im Dorf kennen. Alle grüßten ihn mit Namen und er grüßte zurück.
Es hab da nur ein Mädchen, das ihm geheimnisvoll erschien. Sie grüßte niemanden und schien auch keine Notiz von niemandem zu nehmen. Es schien, als gehörte sie nicht in dieses Dorf, als sei sie nicht von dieser Welt.
Im Dorf hielt sich hartnäckig das Gerücht, dieses schweigsame Mädchen, das niemals lächelte, sei direkt dem tiefen Ozean entstiegen.
Man sagte, sie sei die Tochter des Wasserkönigs, der sie verstoßen hatte, weil sie einen ihr versprochenen Ehemann verschmähte. Also wurde ihr das Recht verwährt, das Wasserreich weiter zu bewohnen und sie musste auf die Erde gehen. Als weitere Strafe nahm ihr Vater ihr auch das Lachen. Und so lief sie nun im Dorf am Meer ohne ihr Lächeln umher.
Jakob glaubte den Geschichten nicht. Er versuchte, sie besser kennen zu lernen, also ging er zu ihr, redete mit ihr, doch sie antwortete ihm nicht.
Doch Jakob, der Fischer, war so hartnäckig wie das Meer und so ließ er nicht locker und kam Tag aus, Tag ein zu ihr und redete zu ihr.
Eines Tages antwortete sie. Erst zaghaft, dann redeten sie immer öfter. Sie redeten viel, diskutierten und irgendwann meinte sie, dass sie sich freue ihn zum Freund zu haben. Und er fragte, warum sie dann ihre Freude nicht zeige. Warum sie nie lächelte.
Bedrückt erzählte sie ihm ihre Geschichte.
Jakob hörte still zu, unterbrach sich nicht und erwiderte nichts.
An nächsten Morgen ging Jakob ans Meer. Die Brandung schlug hart an die Klippen und ließ die Gischt hoch spritzen.
Er schrie hinaus, hinaus aufs Meer. Er schrie nach dem Fürst der Meere.
Komm heraus, rief er. Komm hervor.
Und die Wellen türmten sich auf, überspülten die Klippen, überspülten den Boden vor Jakobs Füßen.
Ein kleiner Mann mit langem, weißen Bart, der ihm zottelig bis zu den Knien hing, stand vor ihm. Die zerschlissene Kleidung eines Fischers wehte an seinem Körper im Wind.
„Was rufst du, Jakob, der Fischer? Verlangst du nach reicheren Fischgründen?“
Jakob verneinte.
„Was dann, Fischer Jakob? Willst du deine Konkurrenten beseitigen?“
Jakob verneinte erneut.
„Was in der Weltmeere Namen treibt dich dann dazu, den Fürsten des Wassers zu beschwören?“
Jakob erzählte, dass er seine Tochter kennen gelernt hatte.
„Und nun willst du bei mir um Vergebung um sie betteln? Dass ich sie wieder in mein Reich lasse? Niemals!“
Jakob verneinte. Es stehe gar nicht in seinem Recht, so etwas verlangen zu dürfen.
„Was willst du dann, Fischer Jakob?“
Jakob schlug einen Handel vor.
Der Fürst der Meere war ganz Ohr. Für Geschäfte war er schon immer zu haben, je riskanter, desto besser. Denn er liebte es, die anderen in eine Falle tappen zu lassen und sie somit alles verlieren zu lassen.
Das Lächeln seiner Tochter wolle er gegen sein eigenes tauschen.
„Was versprichst du dir davon, Fischer Jakob?“
Jakob beteuerte, nichts erzielen zu wollen. Er wolle einfach, dass sie ihr Lächeln zurückbekomme.
„Warum? Was ist dein Ansinnen? Niemand gibt etwas ohne etwas zu erwarten.“
Jakob erklärte, er liebe sie und wolle, dass sie endlich wieder lächeln konnte.
„So soll es sein, Fischer Jakob. Das Lächeln meiner Tochter gegen das deine.“
Und eine Welle spülte den Alten wieder von den Klippen ins Meer.
Jakob ging nach Hause. Auf dem Heimweg kam er an dem Haus des Mädchens vorbei. Sie stand in der Tür und lächelte ihn an. Sie kam heraus, kam auf ihn zu und umarmte ihn.
Man hat Jakob, den Fischer, von diesem Tag an niemals wieder lächeln sehen.
Aber ganz gewiss war er nicht unglücklich.
***
Der Legenden um Jakob gab es viele. Eine bunter, dunkler, brutaler und gruseliger als die andere.
Jakob, der Alte, saß auf seinem Stammplatz vor einem dampfenden Krug Kakao. In den weißen Locken seines Bartes verschwand der lange Pfeifenhals. Die Kneipe war mittlerweile leer, die meisten Kerzen schon lang erloschen.
Ich stützte mich mit den Ellenbogen auf dem Tresen und konnte ihn halb erleuchtet wie einen Wassergeist sehen.
„Jakob, was ist eigentlich an den Geschichten über dich dran?“
Er zog die Pfeife aus dem Bart, ließ eine kleine Rauchwolke in den Raum hinein gleiten und nahm einen großen Schluck aus seinem Krug.
„Welche Geschichten über mich? Wie ich eigenhändig einen Wal gefangen habe? Wie ich das Fischerdorf vor der Flut gerettet habe?“
Seine dunkle Stimme hallte laut durch die kleine Kneipe.
„Nein, na gut. Keine Geschichte über dich, sondern über dein Lächeln. Sie reden immer vom verlorenen Lächeln des Jakobs.“
Sein lautes, wummerndes Lachen umspülte die hochgestellten Stühle und Hocker wie die Flut die Klippen.
„Jakob und das verlorene Lächeln! Ja, das ist gut!“
Er prustete so stark, dass die weißen Locken wild hin und her wogten.
„Barmann, soll ich dir die wahre Geschichte über Jakob und das verlorene Lächeln erzählen?“
Ich bejahte.
„Es war vor langer Zeit, da Jakob noch ein junger Fischer war. Er arbeitete hart und hatte so manchen guten Trick im Repertoire. Aber wie die Jugend es nun mal tun sollte, schaut sie sich auch ab und zu mal ein paar Tricks von den Alten ab. Weißt du, warum die meisten Fischer einen Bart haben?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Die Legende sagt, sie tragen ihn um dem Gott der Meere zu huldigen, der ebensolch einen Bart trägt. Aber die Wahrheit ist viel profaner. Es ist einfach ein Schutz gegen die Sonne, Wind und Regen. So einfach. Und auch ich, als junger Fischer habe ich das gelernt.
Und so ließ Jakob, der Fischer, sich einen langen Bart wachsen, der alle seine Gesichtszüge verdeckte. Und deshalb hat niemals jemand wieder Jakob, den Fischer, lächeln sehen.
Doch wie heißt es so schön?
Das Gegenteil ist meist wahr.“
Ich lächelte und seufzte vor mich hin.
„Schade. Die Geschichte über die Tochter des Meergottes gefiel mir.“
Jakob lächelte wehmütig, man konnte es durch den Bart sehen.
„Ja, eine Tochter des Meeres, das war sie.“
Und er strich sich langsam durch den Bart.
Tag der Veröffentlichung: 21.01.2009
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