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Prolog

Es war der 24. Dezember 1998, als eine Krankenschwester eilig in den Kreissaal gestürmt kam. Eine schwangere Frau hatte entsetzlich starke Wehen bekommen, schließlich war die Fruchtblase geplatzt. Laut Röntgenaufzeichnungen sollten es Zwillingstöchter werden. Die Krankenschwester war vollkommen aufgeregt, es war ihr erstes Mal, dass sie bei einer Geburt dabei war. Der Mann der Frau, ein südländischer Typ stand ganz hibbelig und jetzt schon total fertig neben dem Bett und hielt die Hand seiner blonden Frau. Er sah aus, als ging es ihm selbst schlechter als seiner Frau, die gerade auf keuchte vor Schmerz.

"Gut ein und ausatmen! Und jetzt pressen Sie! Gut, machen Sie weiter so!", sagte die Kollegin der Krankenschwester ruhig. Es war eine ältere Dame, die schon etliche Geburten miterlebt hatte.

Die junge Krankenschwester malte sich aus, wie sie vielleicht einmal auf so einem Bett liegen würde, neben ihr stand ein gutaussehender Mann und hielt ihr die Hand, genauso wie der Mann hier.

Doch ihr Freund wollte keine Kinder. Sie wusste nicht, warum er keine wollte, aber er wollte keine. Und er hatte auch nie erklären wollen, weshalb es für ihn unmöglich war, ein Kind aufzuziehen.

"Kommen sie, Julia! Helfen Sie mir, schließlich wollen Sie doch lernen, wie man sowas macht, bevor ich in Rente gehe!", sagte ihre Kollegin nun verärgert, als sie registriert hatte, dass ihre Kollegin die ganze Zeit gedankenverloren zugeschaut hatte, ohne Anstalten zu machen, ihr zu Hilfe zu kommen.

Erschreckt lief die junge Krankenschwester an das Bett und sah der jungen, schwangeren Frau in die Augen. Die Frau hatte leuchtend grüne Augen, die ihr hellwach entgegenblickten. Ihre rötlichen Lippen waren voll und schön geschwungen, ihre Nase war gerade und nicht zu groß. Sie hätte ein Topmodel sein können.

"Helfen Sie Frau Signorelli bitte beim kontrollierten Atmen, ich kann nicht drei Sachen auf einmal tun." Ihre Kollegin war wirklich im Stress.

Also tat die junge Schwester das, was ihr befohlen worden war und atmete ruhig tief ein und aus. Die Frau versuchte es ihr nachzumachen.

Alles in allem, fand die junge Krankenschwester, war die junge Mutter ziemlich kontrolliert gewesen. Sie hatte beherrscht und fast lautlos das erste Kind zur Welt gebracht. Normalerweise war es ja hilfreich, seine Schmerzen bei einer Geburt als Mutter hinauszulassen, um so besser pressen zu können, doch bei dieser Frau war das nicht nötig gewesen. Bis das zweite Kind an der Reihe war. Das zweite Kind lag quer.

Nach Stunden der Arbeit war es dann aber geschafft und das zweite Mädchen war draußen. Allerdings war es tot, während das erste Kind ruhig und aus großen Augen seine neue Welt erblickte.

Die junge Frau und ihr Mann waren am Boden zerstört über das tote Baby, war das andere Baby doch ein nur kleiner Trost dafür. Sie freuten sich, waren aber sichtbar erschüttert und traurig.

Die junge Krankenschwester wusste nicht, was es war, aber irgendetwas war anders an diesem Baby. Es hatte kaum geschrien, war mit einem toten Baby im Mutterleib "gefangen" gewesen und starrte nun seine Mutter und seinen Vater aus großen, aber jetzt schon wissenden Augen an. Die Krankenschwester wusste nicht, ob sie es sich einbildete. Doch ihre Gefühle täuschten sie nie. Dieses Baby war etwas Besonderes. Und sie war bei seiner Geburt dabei gewesen.

Mila

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Teil - Mila -

Erste Begegnung, erste Verwirrung

Ich hasste es. Ihr fragt euch sicherlich, was das war? Tja, alles!

In diesem Moment dachte ich an nichts, als an meine Einsamkeit. Wieso war ich überhaupt einsam? Ich wusste es selbst nicht einmal. Alles in allem denke ich, dass es daran liegt, dass ich viel zu schüchtern war für die meisten Typen und mein Hauptproblem mein fehlendes Selbstvertrauen gegenüber Kerlen darstellt.

Dabei war ich diejenige gewesen, die früher nur mit Kerlen rumgehangen war und Mädchen zickig fand. Zwar hatte ich auch Freundinnen, aber mit Jungs war es einfach immer lustiger gewesen. Doch dann kam die weiterführende Schule und ich musste meine Kumpels „verlassen“. Und wie es nun mal so ist, man sieht sich kaum noch – auch, wenn man auf derselben Straße lebt – und lernte neue Leute kennen.

 Von da an hatte sich das Blatt gewendet: Nach einer Weile, vielleicht ein gutes, halbes Jahr später wusste ich einfach nicht mehr, wie es war mit Jungs abzuhängen und in meinem Alltag redete ich kaum noch mit dem „männlichen Geschlecht“. Ich weiß nicht, wo mein Selbstvertrauen geblieben war, doch es hatte sich von mir verabschiedet und war auf Weltreise gegangen. Ob es jemals Heimweh verspüren würde, vermochte ich jetzt noch nicht zu sagen.

Nun komm ich aber wieder aus der Vergangenheit in die Gegenwart und erzähle euch, was es mit meiner Einsamkeit auf sich hat: Also, im Grunde genommen bin ich ja nicht einmal einsam. Ich habe zwei beste Freundinnen, eine tolle Familie und eigentlich war da nichts, was mir fehlen könnte. Aber etwas fehlte mir.

„Mila, hörst du mir überhaupt zu??“ Meine Freundin brabbelte wieder durchs Telefon über ihren Freund Chris, den sie erst seit ein paar Tagen kannte.

„Ähhhhhhm....... huh?“

Sie seufzte.

„War ja klar, dass du wieder an irgendwas denkst. Wie steht's eigentlich bei dir? Irgendwen in Aussicht? Jemand Neues kennengelernt?“, fragte sie total interessiert.

„Neeeiin.. Ach, ich weiß auch nicht..“, erwiderte ich zerstreut und blickte auf meine Armbanduhr. „Holy Shit!!!“, schrie ich vor Entsetzen.

„Mila, was ist denn los, dass du mir mein Gehör ruinierst?!“

„Oh, äh, sorry. Ähm, ich muss los, meine Cousine hat heute Geburtstag und ich muss noch ein Geschenk besorgen und alles und meine Eltern warten sicher auch schon!“

„Hä? Wo bist du denn? Sonst würden die dich doch ins Auto schleifen, egal wie du aussiehst, wenn sie spät dran sind!“, sagte Koko vollkommen verwirrt.

„Ich sitze hier am Springbrunnen auf dem Marktplatz und quatsche mit dir und hab die Zeit voll vergessen! Sorry, Koko, aber ich muss Schluss machen. Wir schreiben, ja?“, würgte ich sie ab und ohne auf eine Antwort zu warten, beendete ich das Gespräch, schaltete mein Handy aus und rannte los, während mich die umstehenden Leute völlig bescheuert anstarrten, aber das war mir egal.

 

 

„Mann, wo warst'n du? Papa und Mama wollten schon fast ohne dich fahren, du Pappnase!“, sagte mein Bruder teils belustigt, teils entnervt und wie immer übertrieben theatralisch.

Ich grinste und antwortete nur mit einem schlichten „Tja!“, lief nach oben und zog mir hastig mein schwarzes, knielanges Kleid an mit dem Spitzensaum und der meinen Rücken offenbarenden Spitze, dazu noch meine schwarzen Riemchenplateaus, die ich zusammen mit Valy und Koko ausgesucht hatte und aussahen, wie die Schuhe von Mädchenschuluniformen nur mit ungefähr einem halben Meter Absatz hinten dran. Eigentlich waren diese für ein Date vorgesehen, aber das war eine lange Geschichte, dessen Ablauf ich nie wieder in meinem Kopf abgespielt haben wollte.

Um wieder zu meinem Outfit zurückzukommen war ich mir überhaupt nicht sicher, ob ich es den ganzen Tag auf immerhin 15 Zentimeter hohen High Heels aushalten würde, also packte ich noch eine bequeme Röhrenjeans, ein lässiges T-Shirt und etwas niedrigere, schlichte schwarze Pumps ein. Auf 10 Zentimeter fühlte ich mich um einiges wohler, auch wenn es nur fünf Zentimeter waren.

„Mila, komm endlich, sonst dreht Papa noch durch!!“, rief mein Bruder mir von unten zu und ich wusste, dass er sich dabei ein Grinsen nicht verkneifen konnte, da er wusste, dass mein Vater das schon längst tat.

Ich wuschelte noch kurz durch meine honigblonden Korkenzieherlocken und verließ den Raum, nicht ohne noch einmal etwas Parfüm über meinen Hals zu stäuben.

„Na endlich! Hat die Signora es auch endlich mal geschafft, zu erscheinen? Ich sage dir, wenn wir so in ritardo dort ankommen, dann wird jeder wissen, dass die Signora es mal wieder nicht auf die Reihe gekriegt hat, Termine einzuhalten! Tipico! Non credo che!“, fing mein Vater schon an und während er mich beschimpfte fuhr er sich verzweifelt durch die Haare. Typisch mein Vater.

„Du siehst doch, die Signora ist erschienen! Und du kennst mich doch, ich komme nie zu spät, die anderen sind nur zu früh da. Was kann ich denn dafür?“, grinste ich frech.

 

 

 

Als wir bei meiner Cousine ankamen – sie besaß ein Haus auf dem Lande, dass sie ihrem reichen Ehemann verdankte – wurde ich erst mal von allen Seiten angestarrt, weil mich alle so lange nicht mehr gesehen hatten, dabei wohnten wir nicht einmal eine halbe Stunde voneinander entfernt.

„Mensch, Mila, kommt mir das jetzt nur so vor, oder bist du gewachsen seit ich dich das letzte Mal gesehen hab?“, fragte mein Opa mich total erschrocken, als ich ihn begrüßte.

Ich räusperte mich, bemüht nicht zu kichern. „Ähm, Opa, wenn du es nicht bemerkt hast, habe ich auch anderes Schuhwerk an, als bei unserem letzten Besuch..“

Prompt sah er auf meine Füße und begann zu lachen. „Okay, das erklärt die Sache wohl!“

Normalerweise hasste ich diese riesigen Feiern und den ganzen Kram, aber heute hatte ich irgendwie eine Laune, die durch nichts erschüttert werden könnte. Das dachte ich jedenfalls.

Denn als ich mich mit einem Glas Champagner umdrehte, um mich zu meiner Cousine zu gesellen und ihr mein Geschenk zu überreichen, sah ich ihn. Julian.

Der Typ, der mich bei meinem allerersten und bis jetzt einzigem Date total versetzt hatte. Er hatte nicht einmal Bescheid gesagt, nein! Ich wartete total hibbelig und fast in Ohnmacht fallend einen ganzen langen Abend auf ihn, dass er mich abholt und wir in ein super schickes Restaurant gehen, doch alles, was der Abend mit sich brachte waren ein verheultes Gesicht und etliche, benutzte Taschentücher, die meine Mutter mir verständnisvoll mit einem Krug Milch, Keksen und Schokolade hingestellt hatte, als er seit zwei Stunden nicht gekommen war.

Kaum hatte ich ihn erblickt, stieg mir auch schon die Zornesröte ins Gesicht, denn er stand neben Angelique, der besten Freundin und gleichzeitig Schwägerin meiner Cousine, einen Arm um ihre Schultern gelegt und beobachtete interessiert eine Gruppe von Mädchen, die um einen winzig kleinen Gartentisch herum gedrängt saßen und tratschten.

Um mich abzulenken, drehte ich mich abrupt um und wollte hoch erhobenen Hauptes davon stolzieren, doch ich hatte die Rechnung ohne den Tisch mit der Erdbeerbohle gemacht. Schon war ich gestolpert und mitsamt der riesigen Schüssel voller Bohle zu Boden gestürzt.

 

Shit, shit shit!

 

Mit hochrotem Kopf – dieses Mal nicht vor Zorn, sondern vor Scham – versuchte ich mich aufzurichten, doch ein stechender Schmerz ließ mich wieder zurückfallen.

„Mila! Oh mann, was ist denn mit dir passiert?!“, rief meine Cousine vollkommen erschrocken und rannte auf mich zu, versuchte nicht auf die Scherben zu treten, in denen ich saß.

Um mich herum brach Tuscheln aus und ein Kreis bildete sich um uns herum. Linda stellte ihr Glas Champagner beiseite und half mir mit beiden Händen auf die Beine. Ich stöhnte vor Schmerz auf, als ich die Schnitte der Scherben in meinen Handflächen und meinen Beinen spürte.

„Ich verarzte dich jetzt gründlich! Wir wollen schließlich nicht, dass du überall Narben kriegst, was?“, sagte sie, vielleicht etwas zu babyhaft, um an eine Siebzehnjährige gerichtet zu sein, aber das war mir im Moment egal.

In dem Augenblick, in dem ich kurz aufsah, blickte ich in ein Gesicht. Es gehörte zu einem blassen, aber gutaussehenden jungen Mann, mit Augen, in denen flüssiges Karamell glitzerte, die unendlich tief zu sein schienen und dunkelbraunem, leicht chaotischem Haar.

„Oh, Seraphin! Du kommst gerade recht. Nimm doch mal Mila mit ins Krankenzimmer und verarzte sie. Du bist doch Medizinstudent, oder?“, sagte Linda schnell und schon wurde ich von dem geheimnisvollen Fremden in das riesige Haus geführt.

Schweigend stützte er mich, denn jeder Schritt schmerzte fürchterlich in meine Beinen, jedoch versuchte ich mir das nicht anzumerken. Mein Herz klopfte laut und ich konnte nur hoffen, dass er es nicht merkte. Seine Haut war merkwürdig kalt, doch das störte mich nicht besonders, denn mir war unerklärlich heiß. Er führte mich in ein klinisch wirkendes Zimmer mit einer Liege. Ich kam mir echt vor, wie in einem Krankenhaus! Wie hatte Linda nur so ein Glück gehabt und so einen tollen Mann finden können, der dazu auch noch reich und gutaussehend war? Auch wenn es mir egal wäre, ob ich ein Krankenzimmer in meinem Haus hatte oder nicht.

Der junge Mann, der Seraphin hieß, half mir auf die Liege und ich konnte es mir nicht erklären, aber sein Schweigen erfüllte mich mit tiefer Trauer. Nervte es ihn, dass er sich um ein dummes, kleines Mädchen kümmern musste, wo er doch eigentlich hier war, um meine Cousine zu feiern? Ich seufzte verzagt.

Er blickte mir überrascht in die Augen und die Zeit schien stehen zu bleiben. Ich konnte mich einfach nicht von seinen außergewöhnlichen Augen lösen.

Doch plötzlich war der Moment vorbei, als er das Schweigen endlich brach.

„Tut es sehr weh?“, fragte er besorgt mit seiner maskulinen und doch weichen Stimme.

Mein Atem stockte. Hatte er wirklich gerade geredet? Oder hatte ich jetzt geträumt? Träumte ich das alles hier? Es war zu schön um wahr zu sein!

Als ich nicht antwortete, fing er leicht an zu grinsen.

„Hey, atme doch wieder, du klaust mir schon nicht den Sauerstoff.“

Ich lächelte verlegen und sagte nun endlich mit leiser Stimme: „Es geht schon. Tut mir leid, dass Sie das jetzt übernehmen müssen, ich bin einfach zu tollpatschig und -“

„Ist schon okay, ich mag diese Partys sowieso nicht“, sagte er schnell, so beiläufig, dass es mich schmerzte.

Seraphin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2. Teil - Seraphin - 

Diese rehbraunen Augen

Wo kam dieses Mädchen nur her? Es schien, wie vom Himmel gefallen zu sein. Wahrhaftig! Wie sie da saß, überall kleine Schrammen an Armen und Beinen mit diesem schüchternem Lächeln und diesen großen rehbraunen Augen. Erde an Seraphin, Erde an Seraphin, sag was, sag was!

„Tut es sehr weh?“, fragte ich schnell.

Ich hörte, wie sie aufhörte zu atmen. Ging es ihr nicht gut? Hatte ich irgendwas gemacht, sie berührt oder irgendetwas, das ihre menschlichen Instinkte aktiviert hatte? Ich wusste nicht, wieso, aber ich wollte nicht, dass sie schlecht von mir dachte, doch andererseits, durfte ich mich nicht zu sehr mit einem Menschen anfreunden. Jedenfalls durfte ich keine Gefühle für einen Menschen entwickeln, es war zu gefährlich. Und zu schmerzvoll. Für mich und für sie.

Aber ich musste irgendetwas tun, denn sie atmete immer noch nicht und sie wurde schon ein wenig blau. Ich setzte ein Grinsen auf.

„Hey, atme doch wieder, du klaust mir schon nicht den Sauerstoff.“

Sie lächelte mich verlegen an und endlich sprach sie leise und mit einer hellen Stimme, die wie Glocken klang: „Es geht schon. Tut mir leid, dass Sie das jetzt übernehmen müssen, ich bin einfach zu tollpatschig und -“

Ich unterbrach sie, bemüht nicht zu freundlich zu sein, denn ich durfte ihr nicht näher kommen. Es war zu gefährlich. Und in mir spürte ich den Drang, sie zu beschützen, egal was kommen möge.

„Ist schon okay, ich mag diese Partys sowieso nicht.“

In ihrem Gesicht flackerte kurz etwas auf. War es Trauer? Nein, unmöglich. Unmöglich konnte sie das gleiche fühlen wie ich.

Also fuhr ich rasch fort, um sie abzulenken: „Hm also, das kann jetzt etwas weh tun, okay? Und danach muss ich die Wunden noch desinfizieren.“

Sie nickte nur tapfer und ich nahm mir das, was ich brauchte. Ich war in meinem Element: Menschen helfen.

Während ich ihr eine Scherbe nach der anderen aus ihrer weichen Haut zog, zuckte sie hin und wieder zusammen und krallte sich in das Polster der Liege. Ich wollte so gerne ihre Hand halten, doch hatte ich leider nur zwei, die schon beschäftigt waren.

Danach tupfte ich mit einem Stück Watte Schnitt  für Schnitt mit Desinfektionsmittel ab versuchte das reflexartige Zurückzucken zu ignorieren. Jedes Mal dachte ich, etwas würde in mir zerspringen.

Mila

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

3. Teil - Mila - 

Eine zweifelhafte Entscheidung?

Es tat sehr weh, doch ich wollte vor ihm nicht schwach wirken und presste die Zähne aufeinander, krallte mich in das Polster der Liege. Es schien Ewigkeiten zu dauern, aber dann tupfte er die letzte Wunde mit irgendeinem Mittel voll, klebte auf jeden einzelnen Schnitt ein Pflaster, so behutsam und sanft, und jede seiner Berührungen löste ein angenehmes Kribbeln in mir aus. Nun sah ich aus wie ein außerirdisches Streifenhörnchen und er stand auf, um mir die Hand hinzuhalten und mir von der Liege zu helfen.

„Äh, hast du was zum Wechseln dabei? Dein Kleid klebt doch bestimmt wie verrückt!“, sagte er und musterte mich.

Ich wurde rot, als er an mir herunter schaute. Ich fühlte mich unbeschreiblich hässlich und wollte einfach nur noch nach Hause. Wie konnte man sich nur vor so einem Hammertypen derartig blamieren? Natürlich, dieser Jemand hatte einen Namen: Mila Signorelli aus der Schmiedergasse 7c.

Mein Vater war Italiener, deshalb der Nachname.

„I-ich hab noch was dabei. Ich geh's holen!“, sagte ich schnell und lief etwas humpelnd hinaus und ließ ihn stehen, doch er folgte mir und stützte mich wieder.

 

Wieso kümmert er sich so süß um mich? Und woher kennt meine Cousine eigentlich so super Typen?

 

Als wir zu meiner Tasche kamen, die ich draußen an meinem Tisch gelassen hatte, rannte Linda auf mich zu, die meine Eltern irgendwo auf gegabelt hatte und die mich besorgt musterten. Seraphin schienen sie gar nicht zu bemerken.

„Mila, Schatz, was hast du denn nun wieder angestellt? Oh mein Gott, du siehst aus als wärst du.. geht’s dir gut?“, fragte meine Mutter völlig durcheinander.

Ich verdrehte die Augen.

„Ja, Mama, alles gut. Ich bin nur gestolpert und hingefallen nichts weiter.“

„Das sieht mir aber mehr aus als nur hingefallen!“ Mein Bruder hatte sich grinsend zu mir gestellt. Doch dann verblasste sein Grinsen und er sah Seraphin an. „Wer bist du denn?“

„Ich bin Seraphin“, sagte dieser und seine Stimme verdunkelte sich etwas.

Ich löste mich aus seiner stützenden Umarmung und griff nach meiner Tasche.

„Linda, ich zieh mich mal um, ja? Kann ich dein Badezimmer benutzen?“, fragte ich sie.

„Aber sicher doch, fühl' dich wie zu Hause, Mila!“, sagte sie strahlend und führte mich erneut ins Haus.

Linda gab mir frische Frotteehandtücher und bot mir sogar an, Sachen von ihr zu nehmen, doch ich lehnte dankend ab, schließlich hatte ich selbst noch Sachen dabei.

„Nun, wir sehen uns bestimmt gleich noch. Wie gesagt, fühl' dich wie zu Hause!“ Und mit den Worten verließ sie das Badezimmer und schloss die Tür hinter sich.

Ich schälte mich aus meinem Kleid und legte es behutsam über den Badewannenrand, nachdem ich mich meiner High Heels entledigt hatte.

Als das heiße Wasser meine Schultern hinunter floss, atmete ich seufzend aus. Ich liebte dieses Gefühl, wie das Wasser den Körper herunter fließt, sich wie eine sanfte Umarmung um einen schließt. Da ich nur wasserfeste Wimperntusche trug, machte es mir nichts aus, meinen Kopf ebenfalls unter den Duschkopf zu halten. Meine Locken ließen sich ein wenig durch das Gewicht des Wassers hängen, mit dem sie sich voll gesaugt hatten.

Nachdem ich mich ausgiebig von der klebrigen Bohle gereinigt hatte, roch das ganze Badezimmer nach Lindas Erdbeershampoo. Linda LIEBTE Erdbeeren. Es verging bei ihr kein Tag, an dem sie nichts mit Erdbeeren kochte. Sie backte Erdbeersahnetorten, kochte Erdbeermarmelade, backte Erdbeermuffins, machte Erdbeercreme oder – wie heute – Erdbeerbohle und, und, und. Dass ihr Ehemann das nicht langsam an nervte war bewundernswert. Ich hätte Erdbeeren irgendwann nicht mehr sehen können.

Sobald ich meine Haare, die mir bis zum Bauchnabel reichten, trocken geföhnt und mich abgeschminkt hatte, zog ich meine mitgebrachten Klamotten an. Zugegeben sahen sie nicht besonders angemessen aus, aber ich wünschte mir jetzt nur noch ein kuscheliges Bett oder Sofa und dampfenden Tee.

 

Unten auf der Gartenparty sah ich mich sofort nach Seraphin um, doch er war verschwunden. Ich ging zu Linda, die mich entgeistert musterte, doch ich ignoriert es.

„Hast du diesen Seraphin gesehen? Ich hab mich noch gar nicht bei ihm bedankt!“, fing ich an. Eigentlich wollte ich ihn einfach nur wiedersehen, aber gedankt hatte ich ihm wirklich noch nicht.

„Der  musste nach Hause, Facharbeit schreiben. Ist direkt nach dir gegangen... Aber, Mila! Ich will jetzt nicht fies sein oder so, aber was hast du da an?“, sagte sie mit riesigen Telleraugen und offenem Mund. Es war schon ein riesiger Gegensatz, wie sie da stand in ihrem cremeweißen, trägerlosem Chiffonkleid, den cremeweißen Lackplateaus und ihrer kunstvollen, strohblonden Hochsteckfrisur, während ich mit meinem Schlabber-T-Shirt, der dunkelblauen Röhrenjeans, den schwarzen High Heels und einer unbändigen Löwenmähne vor ihr stand.

Ich verdrehte die Augen. „Sorry, aber ich bin echt geschafft. Guck dir mal meine Arme an! Ich sehe aus wie ein Streifenhörnchen! Und danke, dass ich dein Bad benutzen durfte und alles.“

Sie winkte ab und lächelte. „Ist schon okay. Komm ich stell dir meine Schwägerin vor, sie ist echt total nett!“ Und schon zog sie mich mit, schnappte sich noch ein Glas Champagner von einem Tablett eines Kellners und drückte es mir in die Hand.

Und ehe ich mich auch nur im Mindesten dagegen wehren konnte, stand ich schon neben Julian und Angelique, die mir interessiert entgegen blickten. Ich ließ mich von meiner Cousine mitschleifen, schon darauf gefasst, gleich einen Wutanfall zu erleiden beim Anblick meines Beinahe-Dates.

„Leute, das ist meine Cousine Mila Signorelli! Sie wohnt ein paar Minuten entfernt von hier -“, fing Linda an, doch ich unterbrach sie einfach, bemüht dies so schnell wie möglich hinter mich zu bringen und dann wieder einen riesigen Bogen um diesen Typen machen zu können.

„Hallo, Angelique! Freut mich, dich kennen zu lernen!“, sagte ich, schüttelte ihre Hand und bedachte Julian nur mit einem kalten, abschätzigem Blick von der Seite.

Dieser schien das jedoch zu ignorieren und ehe ich mich versah hatte er mir auch schon einen Handkuss verpasst. Ich verdrehte innerlich genervt die Augen.

 

Elender Heuchler. Playboy! Arsch!

 

 

Um den Fängen des Trolls wieder entfliehen zu können, riss ich meine Hand zurück.

„Auch schön, dich zu sehen, Julian! Behandle unsere Angelique gut.“ Sonst bekommst du es mit mir zu tun!, fügte ich in Gedanken hinzu.

Angelique, die an der Seite ihres Begleiters dahinzuschmelzen schien, lächelte zuerst mich und dann ihren Troll an.

„Das tut er, Schätzchen, das tut er bereits. Ein richtiger Gentleman, dein Freund!“, sagte sie mit freundlicher, angenehmer Stimme.

 

Freund?! Was hat dieser Holzkopf der denn bitte über uns erzählt? Na, der bekommt sein Fett auch noch weg, das schwöre ich!

 

Ich bemühte mich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und lächelte zurück, so falsch, dass es eigentlich jedem sofort auffallen musste.

„Kann ich dich kurz sprechen, Mila?“, fragte der Troll.

Überrascht, aber äußerst vorsichtig, erwiderte ich: „Wieso?“

„Nur so, ich will noch was mit dir besprechen.“ Und schon wurde ich abermals davon gezerrt.

 

Bin ich ein Stofftier oder was? Ein Mädchen zerrt man nicht so herum! Aber das hat der wohl nie richtig mitbekommen. Vor allem nicht, wie man eine Dame behandelt!

 

„Also, was willst du?“, setzte ich an. Sofort hatte sich mein Ton verändert. Sollte der doch bloß verschwinden. Ganz aus meinem Leben abhauen, ans Ende der Welt, oder noch weiter.

„Ich weiß, das mit uns hat nicht ganz funktioniert, aber -“

„Nicht ganz funktioniert? Du bist nicht gekommen, du Heuchler!!“, wurde ich prompt laut.

 

Was dachte der sich eigentlich?!

 

„Lass mich doch ausreden. Lass uns noch einmal ganz von vorne beginnen, Süße.“

„WENN DU MICH NOCH EINMAL SÜßE NENNST, BIST DU DEINE MÄNNLICHKEIT LOS, IST DAS KLAR?!“, kreischte ich nun total zur Furie mutiert und ballte die Hände zu Fäusten, dessen Knöchel sich kalkweiß färbten.

„Mila, was ist denn mit dir los?“ Lindas Stimme ertönte voller Erschrecken, doch ich war zu beschäftigt mit meiner unbändigen Wut, dass ich sie bemerkte.

Ich wollte mich auf diesen Typen stürzen und ihn mit eigenen Händen umbringen, auch wenn er mir nur einen Abend versaut hatte, der der Schönste meines Lebens hätte werden sollen. Das hatte ich zumindest gedacht. Damals, als ich so naiv gewesen war und überzeugt, dass dieser Typ mich auf Händen tragen würde. Was für ein schlechter Scherz, dass er mit der Schwägerin meiner Cousine anbandelte, wo er doch genau wusste, dass er hier in meiner verdammten Familie überhaupt nichts zu suchen hatte!

„Mila? Julian? Schatz, was hast du ihr bitte gesagt, dass sie so austickt? Irgendjemand muss sie zurückhalten!“, ertönte Angeliques Stimme verzweifelt aus weiter Ferne.

Ich konnte nicht verstehen, wie sie ihn noch verteidigen konnte. Er hatte fremdgehen wollen. Mit mir! Ausgerechnet mit mir! Wie hatte er nur annehmen können, dass ich auf seinen Versuch eingehen würde, nach allem, was zwischen uns vorgefallen war?

„Das ist also das Temperament von Italienerinnen!“, lachte Julian total amüsiert.

Mir platzte die Hutschnur und ich rannte mit einem lauten Schrei wie ein Berserker auf ihn zu, ein Cognacglas wie ein Schwert über meinen Kopf erhoben. Doch dann packte mich jemand am Handgelenk und zwang mich, stehen zu bleiben, indem er den anderen Arm um meine Taille schlang, auf halbem Wege zu Julian, der vor Schreck ein paar Schritte zurückgewichen war.

„Seraphin! Gut, dass du da bist! Sonst wäre das hier in einem Blutbad geendet! Und du, Mila, was denkst du dir dabei, einen meiner Gäste erst so derartig anzuschreien und dann ihn versuchen anzugreifen?“ Lindas Stimme klang äußerst streng. So streng und aufgebracht hatte ich sie noch nie erlebt.

„Er wollte Angelique fremdgehen, mit mir. Nur hat er nicht bedacht, dass ich nicht will“, presste ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

Jemand, dicht neben meinem Ohr, zog die Luft fast unmerklich ruckartig ein und ich hörte ein erschrockenes Schluchzen, das zweifellos Angelique gehören musste.

„Das ist nicht wahr! So etwas würde Julian nie tun!“, sagte sie aufgebracht.

„Ach, ich denke, das weiß ich von allen Anwesenden hier am besten, schließlich hat er es genauso bei mir gemacht, nur dass er bei der Anderen erfolgreicher war, als jetzt bei mir. Glaub mir, Freunde sind wir nicht. Dieses Wort im Zusammenhang mit dem da zu verwenden, das ist abscheulich. Ich wollte diesen Abend nicht kaputtmachen, das ist alles alleine seine Schuld. Wäre er ein netter, zuvorkommender und treuer Mann, hätte er sich von dir ferngehalten und mich nicht ausgelacht mit dem Satz: Das ist also das Temperament von Italienerinnen!, oder?“, sagte ich nun ganz ruhig.

„S-Stimmt das, Julian?“, flüsterte die aufgelöste Schwägerin meiner Cousine. Dieser lachte nur.

„Sicher doch, oder meinst du, ich würde freiwillig mit einer zehn Jahre älteren Schachtel hierherkommen? Ich wollte Mila eifersüchtig machen, weil ich es damals so sehr verpatzt habe, dabei mag ich sie doch total. Ich wollte sie ärgern, weil es sonst immer so süß ist, wie sie vor Zorn rot anläuft, aber ich denke, heute habe ich wohl ein Sahnehäubchen zu viel auf den Kuchen gegeben..“, murmelte Julian nun und blickte betreten zu Boden.

 

Was hatte der da gerade gesagt? Hat da jemand den Film verwechselt oder was?

 

Doch ehe ich noch irgendwie anders reagieren konnte, zischte Etwas an mir vorbei und im nächsten Moment sah ich, wie Seraphin Julian am Kragen packte.

„Was bist du überhaupt für ein Mann? Das Herz einer Frau bekommt man nicht, indem man sie zur Weißglut bringt! Kleiner Junge, hast ja gar keine Ahnung davon! Werde erst einmal erwachsen, bevor du versuchst, das Herz einer Dame zu erobern, Kind!“, fuhr der gutaussehende Student den Jungen an, der mir plötzlich furchtbar leid tat.

„Seraphin!“, flüsterte ich, doch er ignorierte mich.

Ich packte ihn am Arm, wollte ihn sanft zwingen, seinen Griff um Julians Kragen zu lockern, aber er ignorierte auch dies.

Da riss sich Julian von selbst los, blickte mich noch einmal kurz aus schmerzverzerrten Zügen an und rannte dann davon. Hatte ich da Tränen auf seinen Wangen glitzern sehen?

„Seraphin! Was sollte das? Das war etwas zwischen ihm und mir!“, sagte ich mit fester Stimme und ohne Verständnis für sein Verhalten.

Seraphin drehte sich um und schon an seiner Miene ließ sich seine Wut erkennen. Ich schrumpfte innerlich zusammen, als er mir mit diesem Ausdruck ins Gesicht blickte. Seine Augen schienen meine zu durchbohren, doch ich hielt dem Blick tapfer stand.

„Ich hab ihm nur klargemacht, dass er dich nicht verdient hat.“

„Meinst du, ich hätte nicht für mich selbst sprechen können?!“, sagte ich nun wieder wütend werdend.

„Er hätte dir nicht geglaubt.“ Sein Ton war undefinierbar. Sein Blick unergründlich.

„Ach, das weißt du also so genau, ja? Wie lange kennst du ihn denn bitteschön? Höchstens zehn Minuten. Und da meinst du, du wüsstest mehr über ihn als ich?!“

„Schließlich habe ich nicht lange gebraucht, um zu begreifen, dass er dich gern hat!“, sagte er laut und trotzig.

„Ist das dein Problem?!“, schrie ich jetzt schon fast.

Er schnaubte nur als Antwort.

„Warum lasst ihr mich nicht einfach mal alle in Ruhe? Verdammte Scheiße! Ich kann auch für mich selbst sprechen!“, brüllte ich nun mit einem Kloß im Hals, drehte mich um und rannte so schnell es mir auf meinen Absätzen möglich war über den sattgrünen Rasen davon, auf dem Weg zur Bushaltestelle.

 

 

Das Brummen des Motors beruhigte den Wasserfall der Tränen nur mäßig, während der Bus sich durch den Wald schlängelte. Ich war die Einzige in dem Fahrzeug, was mir äußerst recht war, denn ich hatte mir eine Ruhepause echt verdient.

Der Bus hielt an der nächsten Haltestelle mitten im Wald, wo sonst niemand einstieg und der Bus für gewöhnlich auch immer aus Prinzip schon vorbeifuhr, doch heute nicht, wie sollte es auch anders sein.

Ich wollte erst gar nicht wissen, wer um diese Uhrzeit an diesem Ort in diesen Bus einstieg und starrte aus dem Fenster, versunken in Gedanken. Doch plötzlich stellte ich fest, dass sich der zweite Fahrgast neben mich gesetzt hatte und mit Schrecken blickte ich in das Gesicht von Julian.

„Du? Hier? Wie?“, fragte ich verdattert und merkte, wie heiser meine Stimme klang.

Ich räusperte mich hastig. Julian zuckte nur die Achseln und starrte geradeaus. Unsicher beobachtete ich ihn aus dem Augenwinkel, was ihn absolut nicht zu stören schien.

Die Stille war noch schlimmer als das Gespräch, also erhob ich abermals die Stimme: „Hast du das eben eigentlich ehrlich gemeint, oder war das wieder nur irgendein Trick?“

Bestürzt blickte er mich an.

„Du meinst doch wohl nicht im Ernst, dass ich so ein guter Schauspieler bin, oder?“, erwiderte er mit einem leichten Anflug von Ärger, was mir die Röte ins Gesicht steigen ließ.

Rasch blickte ich wieder aus dem Fenster.

„Ich habe das echt ernst gemeint, Mila. Ich habe dich echt gern und ich will nicht, dass du schlecht von mir denkst, aber ich weiß, dass ich genau das selbst verursacht habe und ich kann es nicht rückgängig machen. Ich bin dir nicht fremdgegangen, ich habe nur furchtbare Angst bekommen an dem Abend und stand ungefähr eine Stunde vor deiner Tür, habe mich aber nicht getraut zu klingeln und bin abgehauen. Es tut mir so leid, dass du gedacht hast, ich bin so ein Arschloch. Das bin ich zwar, aber nicht so eins, wie du das gedacht hast. Und wenigstens hast du ja jetzt einen Beschützer gefunden, der immer an deiner Seite ist. Dieser Seraphin...“ Er schnaubte bei seinen letzten Worten, sprach Seraphins Namen aus, als sei er ein Schimpfwort und schaute weg.

War das Eifersucht? Und wenn nicht, was war es dann? Ich war mehr als verwirrt. Ich war so verwirrt, dass mir wieder Tränen in die Augen stiegen, zum Teil auch wegen seinen Worten, die ich nie aus seinem Mund zu kommen vermutet hätte.

Ohne hinzusehen, fand meine linke Hand seine Rechte. Für eine Weile geschah gar nichts, dann sah er mich verwundert an. Seine grünen Augen blickten in meine, was mir ein leichtes Lächeln auf die Lippen zauberte. Jetzt wusste ich auch, was meine innere Abwehr gegen ihn bedeutet hatte.

Er zog mich an sich und hielt mich einfach nur in seinen starken Armen, während er mit meinen Locken spielte.

„Willst du mich nicht noch einmal fragen?“, fragte ich nach einer Ewigkeit des Schweigens leise an seiner Brust.

„Was denn?“

„Ob ich dich noch will...“

Ein Vampir - so, wie er im Buche steht

„Eeeendlich!“, stöhnte ich und ließ mich todmüde in die weichen Federn meines Himmelbettes fallen.

Dann stand ich aber noch einmal schweren Herzens auf, um mich Bett fertig zu machen. Dies dauerte jedoch nicht sehr lange, denn ich zog mir nur schnell meine Boxershorts und ein weißes T-Shirt über, streifte meine Socken ab und dann warf ich mich wieder ins Bett. Schon mit geschlossenen Augen löschte ich das Licht.

Das Zwischen Julian und mir im Bus war irgendwie beängstigend toll gewesen. Ich dachte an seine letzten Worte zurück, nachdem wir uns das erste Mal geküsst hatten:

Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich ich bin! Verlass mich bitte nie wieder, das ertrage ich nicht!

Dann hatte er mich bis zur Haustür gebracht, wo ich den Schlüssel unter dem Blumentopf hervorgeholt hatte, denn ich hatte meine Tasche mit meinem Schlüssel auf der Party liegen lassen, hatte sich mit einem weiteren Kuss verabschiedet und gewartet, bis ich im Haus war. Ich hatte ihm noch nachgesehen, bis er hinter der ersten Straßenecke verschwunden war, war dann aber noch verharrt, in Gedanken versunken an die letzte Stunde. Ich war mir sicher: Ich war glücklich.

Mir kam ein Bild in den Sinn, das mich an das Buch erinnerte, das ich gestern ausgelesen hatte. Die Szene handelte von einem Vampir, der einem Mädchen seine Liebe gestand. Die Beiden saßen auf einer hübschen Blumenwiese auf einer Picknickdecke und sahen sich tief in die Augen. Unmittelbar eine Sekunde darauf bemerkt ich, dass das Mädchen aussah wie ich und der junge Vampir Seraphin sehr ähnlich war. Mir wurde heiß und es schien nicht aufzuhören. Doch anscheinend war das Bild in meinem Kopf nicht der Auslöser. Ich atmete laut ein und aus, versuchte mich durch hin und her Wälzen an eine kalte Stelle in meinem Bett zu positionieren, doch es gab keine. Mir brach der Schweiß aus und ich fühlte mich wie in einem Vulkan gefangen. Als wolle sie mich extra nerven, tickte eine Uhr so gnadenlos langsam, wie sie nur konnte, was mich rasend machte und mir noch heißer wurde.

 

Mann, wenn man einen Vampir mit kühler Haut braucht, ist er nicht da!!

 

Plötzlich spürte ich, wie sich kalte Finger auf meine Lippen legten und ich riss vor Schreck die Augen auf, unterdrückte einen Schrei. Als ich sah, wer dort saß, dachte ich, ich sei verrückt geworden.

„Pssst!“, flüsterte Seraphin und lächelte mich freundlich an.

Das Ticken der Uhr schien verstummt zu sein, doch es kümmerte mich nicht. Ich starrte ihn einfach nur an, kerzengerade wie ich da im Bett vor ihm saß und immer noch mit einem brennendem Vulkan in meinem Innern.

„Was, Sie? Hier? Was? Hääääää?“, fragte ich total verdattert, hatte schon vergessen, dass wir uns im Streit getrennt hatten.

Er lachte leise und ich dachte ich schwebte auf Wolke sieben. Seine Finger glitten von meinen Lippen, die offen blieben, und fuhren zu meiner Hand. Ich spürte, wie meine Hand kälter wurde und es war eine Erlösung. Doch der Rest meines Körpers schien dadurch nur angestachelt zu werden, noch mehr Hitzewellen zu produzieren und stöhnend ließ ich mich wieder in die Kissen sinken.

Seraphin setzte sich an den Bettrand und blickte mich unendlich besorgt an.

„Was ist mit dir? Geht es dir nicht gut?“

Ich griff wortlos nach seiner Hand und legte sie an meine Schweiß nasse Stirn. Meine Gesichtszüge entspannten sich, als meine Stirn abkühlte.

„Hast du Fieber?“, fragte er mit undefinierbarer Stimme.

„Weiß nicht“, krächzte ich kläglich und atmete wieder laut aus, als würde ich erwarten, dass Rauch aus meinem Mund stieg. Warum verwirrte dieser Typ mich so sehr? „Ich wollte Ihnen noch einmal danken, wegen heute mit dem Ganzen und alles.. Wie sind Sie eigentlich hier rein gekommen?“

„Erst einmal, kannst du mich auch duzen, ich mag es nicht, wenn man mich siezt und na ja.. Durch's Fenster.“

„Durch's Fenster?.. Wie denn das? Wir sind doch im zweiten Stock!“, sagte ich verdatterter denn je und sah ihn direkt ins Gesicht.

Er lächelte verlegen. „Lass das mal meine Sorge sein. Ich sitze jedenfalls hier, oder nicht?“, sagte er, dann blickte er mich fragend an. „Soll ich dich... Ähm, kühlen?“

Ich musste lachen, weil das so was von bescheuert klang, aber ich nickte und ließ es zu, dass er sich neben mich legte und mich schüchtern umarmte. So lagen wir schweigend da, trauten uns nicht etwas zu sagen. In meinem Kopf war ein erbitterter Kampf ausgebrochen.

 

 

Hey, dir ist doch wohl klar, dass das, was du da gerade tust, echt total irre ist, oder? Du kennst den Typen doch nicht einmal! Außerdem bist du vergeben!

 

Aber, er ist doch total süß und ein totaler Gentleman! Es ist doch toll, dass er sich so interessiert!

 

Aber er hat deinen Freund angegriffen und beschuldigt!

 

 

Während dieser Kampf in meinem Kopf brodelte, spielte Seraphin gedankenverloren mit einer meiner Locken, was mich zwanghaft an Julian erinnerte. Trotzdem schmiegte ich mich an ihn und langsam wurde mir kühler und erleichtert schloss ich die Augen, genoss den Moment einfach. Doch dann kam mir ein Gedanke und ich öffnete die Augen.

„Du-u? Wieso bist du eigentlich so kalt und wirst nicht besonders wärmer, auch wenn mir so heiß ist?“, fragte ich zögerlich.

Er zuckte leicht zusammen, hatte sich ansonsten aber im Griff.

„Ich weiß es nicht..“, wich er aus.

„Ich glaub, ich weiß es, aber das kann gar nicht sein!“, sagte ich. Oder vielleicht doch? Ich runzelte nachdenklich die Stirn.

„Ach ja? Und was glaubst du?“, fragte er.

Ich schluckte und suchte seinen Blick. Das war ein Fehler denn ich erstarrte in der Bewegung und sah ihm in seine Augen.

„Atme, Mila, atme doch!“, sagte er erschrocken und ich schüttelte verwirrt den Kopf.

Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, genau!

„Ähm, lach mich jetzt nicht aus oder so, aber.. Du kommst durch ein Fenster in den zweiten Stock, hast total die kalte Haut und alles.. Ähm..“ Ich stockte.

„Ja?“, hakte er nach.

„Bist du ein Vampir?“

 

Hallo-ho? Was tust du da überhaupt? Und was für Gedanken hast du da?! Wenn das Julian wüsste!!

 

Blitzschnell rappelte ich mich hoch und sah in seine verwirrten Augen, in denen Irgendetwas aufblitzte.

„Äh, vergiss es. Ich glaube, du gehst jetzt besser, tut mir leid, aber...“ Ich sprach den Satz nicht zu Ende. Ich konnte es nicht, aus irgendeinem Grund konnte ich es nicht.

Sein Gesicht verdunkelte sich und er senkte den Kopf.

„Ich verstehe, zwischen euch ist also jetzt...?“ Auch er sprach seine Frage nicht zu Ende.

Ich nickte nur knapp.

 

Ruhig bleiben, Mila! Es ist nur ein Typ. Nur ein Typ, lass dich nicht so leicht von ihm verwirren, nur weil er anders ist! Wenn er weg ist, kannst du wieder durchatmen und glücklich sein und dann siehst du ihn nie wieder. Das ist doch ganz okay, oder?

 

Doch ganz so überzeugt war ich nicht. Aber das musste ich jetzt, ich war mit Julian zusammen und glücklicher denn je. Wieso sollte Seraphin sich schon so für mich interessieren? Das ist doch total unrealistisch!

Seraphin stand ganz langsam auf und ging einen Schritt auf mich zu, stockte dann aber abrupt.

„Wie du meinst. Vertrau' ihm nicht zu sehr... Also... Sollte er dir wehtun, denk immer daran, ich habe dich gewarnt!“

Und mit diesen Worten verschwand er durch das Fenster.

Vollkommen irritiert stand ich da. Wieso sollte Julian mir wehtun? Er war doch so lieb und süß, auch wenn es mich überraschte. Und warum sollte ich ihm nicht vertrauen? Schließlich war er jetzt mein Freund. Und ich überlege es mir vorher, ob ich jemandem vertraute. Jedenfalls sagte mir das mein Gefühl. Und mein Gefühl sagte mir, dass ich Julian vertrauen konnte, Warnung von Seraphin hin oder her.

Was dachte der Typ sich eigentlich? Dass er die Unschuld in Person sei? Dass er alles wüsste? Wer war er denn überhaupt? Vor allem kannte er Julian nicht einmal! Und warum regte ich mich so dermaßen darüber auf?

Seufzend ließ ich mich in mein Bett zurückfallen, dessen Temperatur nun reichlichen Tiefgang bekommen hatte. Die Kälte kroch von meinen Beinen empor bis in mein Herz. Was sollte ich nur tun?

Am Ende beschloss ich, Seraphin Seraphin sein zu lassen und ihn einfach zu vergessen. Doch leichter gesagt, als getan, denn dieser hatte sich ins System meines Oberstübchens so stark hineingefressen, dass es schon fast unmöglich war.

Der Typ konnte aber auch nerven! Dachte er wirklich, dass er mich so leicht um den Finger wickeln könnte? So naiv war ich nun auch wieder nicht! Vielleicht hätte er vorher erst einmal in seinem Oberstübchen stöbern sollen, bevor er es mit meinem tat!

 

"HEY! Mann, Mila! Wieso hörst du uns gar nicht mehr zu? Hat dieser Julian dir das Hirn weg gebombt, oder wieso sitzt du nur so 'rum wie ein Kartoffelsack?", keifte Valy plötzlich.

Ich zuckte von meinem Stuhl hoch. Wir saßen im Eiscafé und redeten über dies und das. Doch anscheinend musste einer von den Beiden irgendein sehr ernstes, oder wichtiges Thema angeschnitten haben, ohne meine Aufmerksamkeit zu erregen.

"Entschuldige, ich bin nur in letzter Zeit etwas durcheinander. Ich weiß auch nicht, wieso...", log ich.

Das schien die beiden aber überhaupt nicht zu befriedigen, sie starrten mich immer noch ziemlich beleidigt an.

"Was habt ihr denn sagen wollen?", fuhr ich kleinlaut fort.

Koko seufzte grottentief.

"Tja, die Sache mit Julian kommt mir schon etwas Spanisch vor, weißt du...", fing sie an, doch ich unterbrach sie.

"Was soll daran denn bitteschön Spanisch sein? Wir sind jetzt zusammen, und zwar glücklich! Woher wollt ihr denn wissen, was Spanisch ist und was nicht?" Ich wurde sofort wütend. So ein Thema war gerade nicht besonders hilfreich, mich darin aufzubauen, mich von Gedanken um Lindas Geburtstag und Seraphins Erscheinung abzulenken.

"Warum bist du dann so durcheinander, wenn doch alles paletti ist? Irgendwas oder irgendwer ist dir doch über die Leber gelaufen!"

Da hatte Valy mal wieder vollkommen ins Schwarze getroffen. Doch ich wollte nicht mit der Wahrheit herausrücken und druckste herum.

"Also, na ja.. Mir ist eigentlich Nichts oder Niemand über die Leber gelaufen... Eher gesagt ist das oder der direkt durch mich hindurch gerast, sozusagen, wie eine Krankheit, wie ein Parasit..."

"Ach so, und weiter?", bohrte Koko.

"Ja, nichts und! Dabei ist es geblieben!"

"Glaub' ich nicht!", sagte Valy, verschränkte die Arme und scannte mich mit ihrem Röntgenblick.

Ich wurde rot. Ich wollte nicht sagen, dass ich so Einem wie Seraphin begegnet war, das würde meine beiden Freundinnen nur total aus der Fassung bringen, dann würden sie mich für verrückt erklären, oder versuchen mich mit ihm zu verkuppeln, da ich wusste, dass sie Julian überhaupt nicht ausstehen konnten.

"Na ja, also Julian war mit der Freundin meiner Cousine auf die Geburtstagsfeier gekommen, um mich eifersüchtig zu machen, was gewirkt hat. Die Sache ist jedoch nicht so verlaufen zuerst, wie er es sich erhofft hat und als ich ihn in die Flucht geschlagen habe, war er erst einmal verschwunden. Als ich dann aber alleine in den Bus nach Hause stieg, weil ich echt müde und fertig war, stieg er eine Station später ein, mitten im Wald und da ist es dann eben passiert..." Ich veränderte die Geschichte vielleicht ein wenig, um Seraphin ganz außen vor zu lassen. Er soll nicht auch noch die Gehirne meiner Freundinnen vergiften.

Koko runzelte die Stirn.

"Du hast uns aber immer noch nicht gesagt, was oder wer der "Parasit" in dieser ganzen Erzählung ist!"

 

Mann, bei den Beiden kann man sich auch aus Nichts herauswinden! Die sind knallhart!

 

Dann kam ich auf eine Idee.

"Na, ich hab eben ein schlechtes Gewissen wegen der Freundin meiner Cousine! Schließlich war die doch voll verschossen in Julian und -"

"Und das hat er einfach so ausgenutzt? Was für ein holzköpfischer A-"

Mit einem lauten Krachen fiel der Stuhl um, als ich aus diesem emporschoss. So wütend hatte sie mich noch nie gemacht. Wie redete Koko denn bitte über meinen Freund?

Ich knallte meinen Anteil an der Rechnung auf den Tisch, packte meine Tasche und stampfte unglaublich enttäuscht und wütend nach Hause. Was bildeten die sich eigentlich ein? Ich zog doch auch nicht über ihre "Bekanntschaften" her, oder?

 

Für den Rest des Tages gab es für mich nur langweiliges Fernsehen und Frustessen. Julian war nicht da, denn er war mit seinem Fußballverein im Trainingslager. Mit Valy und Koko konnte ich im Moment echt nichts anfangen und ansonsten war da nicht wirklich Jemand, den es interessieren würde. Meine Eltern waren arbeiten und bei meinem Bruder wäre mir das Ganze viel zu peinlich geworden. Da schwieg ich lieber stur die Wand an, während von mir unbeachtet der Fernseher lief, um wenigstens die Stille zu übertönen.

Wieso war in letzter Zeit nur alles so verkorkst? Nicht einmal in den Ferien hatte ich meine Ruhe oder wenigstens Spaß! Meine Hormone spielten auch noch verrückt.

Julian oder Seraphin? Ich hatte mich vorerst für Julian entschieden, weil ich ihn besser kannte und mochte, doch wie würde das aussehen, wenn ein bisschen Zeit vergangen war?

Das durfte ich nicht zulassen, schließlich hatte ich mich erst gestern für Julian entschieden! Und dieses Thema hatte ich schon tausendmal im Kopf durchgekaut.

Ich seufzte verzweifelt.

"Mila! Ich bin wieder zu Hause. Hilf mir beim Einkauf auspacken!", rief mir meine Mutter von unten entgegen.

 

Geiles Timing. Eigentlich wollte ich gerade aufstehen, um spazieren zu gehen. Wie kriegt die das immer auf den Punkt hin? Sollt ich sie vielleicht mal fragen.

 

Also stieg ich die Treppe hinunter und ging geradewegs in die Küche, wo mich meine Mutter schon erwartete.

Mama war Deutsche. Ich hatte Mamas blonde Haare, Papas braune Augen, Mamas Figur und Papas große Füße, Mamas Zähigkeit und Papas Temperament. Insgesamt war ich damit total zufrieden. Ich hätte vielleicht lieber Mamas grüne Augen und Papas braune Haare, so wie Luca, mein Bruder, aber ansonsten war alles supi.

"Du kannst schon mal das Tiefkühlzeug in den Keller bringen, ich räum' in der Zeit weiter hier oben auf, okay? Nimm einfach alles mit, was an der Treppe steht", sagte Mama.

Ich nickte nur, weil ich annahm, dass meine Stimme heiser klingen würde, wenn ich sprach und ging wieder aus der Küche raus.

An der Treppe standen zwei Kisten, zwei Sechserpacke Flaschen und ein Sack Kartoffeln. Ich stöhnte innerlich auf, nahm die erste Kiste hoch und wankte die Treppe hinunter.

Als ich wieder oben in der Küche angekommen war, war Mama schon fertig. Sie rührte gerade in einem Kochtopf, es roch nach Spaghetti.

Mama drehte sich um, als sie mich in die Küche kommen hörte. Sie sah mir direkt in die Augen und ihre hellgrünen Augen schienen mich zu durchbohren.

"Da war ein Brief für dich im Briefkasten. Stand kein Absender drauf. Deswegen hab ich ihn geöffnet und da stand was ziemlich Merkwürdiges drin. Du hast doch nichts mit dunklen Machenschaften zu tun, oder? Hörte sich ein bisschen wie eine Drohung an, also kann es eigentlich kein Scherz gewesen sein. Was hast du wieder ausgefressen, Emilia Maria Signorelli?"

Ich hasste es, wenn man mich so nannte. Und das wusste meine Mutter ganz genau. Aber was sollte das für ein Brief sein? Hörte sich ja echt gefährlich an, irgendwie! Wer sollte mir denn drohen? Hatte ich irgend wen verletzt, ohne es zu wissen?

 

Seraphin?

 

Nein, das konnte nicht sein. Wieso sollte er mir drohen? Zwischen uns war nichts, ist nichts, und wird auch niemals etwas sein! Und mir wegen gestern extra einen Drohbrief schreiben? Wie unnötig!

"Zeig mal!", sagte ich deswegen neugierig.

Mama drehte sich um und zog ein zusammengefaltetes Papier aus ihrem großen Shopper und gab es mir.

Mit zitternden Fingern vor Aufregung faltete ich es auf und las:

 

Verschwinde von hier. Es liegt ganz bei dir, ob du sterben willst, oder nicht. Du hast dich da selbst reingeritten, jetzt musst du da auch selber wieder raus. Dein Freund ist nicht der, für den du ihn hältst.

Du kannst es selbst beenden, oder er tut es. Aber entscheide dich. Jetzt! Du hast dir den Falschen gesucht. Wenn du nicht sofort verschwindest, verschwindest du für immer. Spurlos.

Ich rate dir, meiner Warnung nachzugehen, sonst wirst du sterben. Und das schon sehr bald. Sei dir gesagt, ich habe dich gewarnt.

 

Ich starrte geschockt auf die Computerschrift. Was meinte derjenige damit? Wen meinte er, sei nicht so wie ich dachte? Tausend Fragen schwirrten in meinem Kopf umher.

Ich sah zu Mama auf.

"Was...?", flüsterte ich verstört.

"Wen meint er mit "dein Freund"?", schoss Mama sofort los und ihr standen Tränen in den Augen.

"Ich.. Ich weiß es nicht..", flüsterte ich. "Was soll ich tun, Mama?!"

Nun kullerten Tränen meine Wangen hinunter. In mir war nur dumpfe Leere und ich konnte nicht mehr denken. Plötzlich wurde es schwarz um mich herum und ich spürte nichts mehr, nicht einmal, wie ich zu Boden stürzte.

 

 

Die Schwärze um mich herum war so dicht, ich konnte sie nicht durchdringen. War ich tot?

Ich schwebte wie auf schwarzen Wolken, die mich fort trugen, durch die endlose Dunkelheit, ohne Ziel, ohne Ende. Mich streifte etwas und ich zuckte zusammen. Was war das?

Ein stechender Schmerz durchzuckte mich, als würde ich von innen heraus verbrennen. Ich stieß einen stummen Schrei aus, denn meine Stimme wollte mir nicht gehorchen. Ich presste die Augen vor Schmerz zu, als würde das etwas nützen.

Der Schmerz schien sich zu bewegen, von meinen Fußspitzen immer weiter hinauf, bis zu meinem Herzen. Es war eine unmenschliche Qual und ich dachte, das war das Ende. Ich fand keinen Ausweg aus dieser Lage. Würde ich jetzt sterben?

Doch dann war der Schmerz plötzlich abgeklungen. Ich wusste nicht, wie lange es gedauert hatte, doch es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein. Und etwas war anders, das spürte ich. Ich fühlte mich stark, leicht, wie neugeboren. Doch da war auch ein durchdringender kratzender Schmerz in meiner Kehle. Unsicher öffnete ich meine Augen und sah eine veränderte Welt. Die Dunkelheit war nicht mehr so dicht, wie zuvor. Ich sah durch den dunklen Dunst schemenhafte Säulen und Torbögen, Möbel, die mir bekannt vorkamen.

Vor mir leuchtete schlagartig etwas auf. Ein heller Fleck in der durchdringlichen Dunkelheit. Ich kam mir vor, wie in einem Tunnel, der auf den hellen Fleck hinauslief. Und die schwarze Wolke unter mir steuerte direkt darauf zu. Wo war ich bloß?

Ich versuchte mich zu bewegen, doch irgendeine unsichtbare Kraft hielt mich davon ab. Also starrte ich nur auf den größer werdenden, hellen Fleck und wartete auf das in den Augen stechende Licht.

Zuerst sah ich nichts, bis sich meine Augen ungewöhnlich schnell an das helle Licht gewöhnten. Wo war ich hier? Ich sah mich um, wobei ich merkte, dass ich mich nun bewegen konnte. Ich stand auf, mich immer noch um blickend und registrierte im nächsten Moment, dass ich in meinem Zimmer war.

Die Deckenleuchte schien auf mich herunter, doch auch sie leuchtete anders als sonst. Ein merkwürdiger Regenbogen blitzte mir aus dem weißen Licht entgegen und ich konnte jedes Staubkörnchen sehen, das in der Luft herumschwirrte. Was war mit mir passiert?

Ich sah mich weiter um. Mir fiel mein Spiegel ins Auge. Ich rannte auf ihn zu, doch im nächsten Moment stoppte ich vollkommen erschrocken. Nicht nur mein Aussehen hatte sich verändert. Auch meine Bewegungen hatten es. Im Spiegel sah ich eine bildschöne Frau mit langen roten Haaren. Doch das war nicht das erschreckendste an der ganzen Sache. Meine Augen leuchteten mir blutrot entgegen.

Ich stieß einen überraschten, leisen Schrei aus. Dann erstarrte ich. Auch meine Stimme klang anders. Hell und warm und hatte etwas von Klaviertönen an sich.

Ich lief nun geradewegs auf diese hübsche, unheimliche Frau zu und packte den Spiegel, der unter meinem festen Griff glatt entzweibrach.

"Was ist denn das hier?", hauchte ich vollkommen verstört.

Der Schmerz in meiner Kehle meldete sich erneut und nun stärker. Ich fasste mir an den Hals und schluckte. Es tat weh.

Konnte es sein, dass...? War ich hier im falschen Film, oder was? Ich konnte doch unmöglich..?

 

Doch plötzlich wurde alles gleißend hell und ich saß kerzengerade in einem weichen Bett.

"Mila, oh mein Gott, du bist endlich wieder wach! Gott sei Dank!", schrie mir eine sehr bekannte Stimme entgegen und warme Arme umarmten mich.

Ich blickte mich um und sah meiner Mutter direkt in die Augen. In ihrem Gesicht waren getrocknete Tränenspuren zu erkennen. Was war passiert? Wie kam ich hierher? Wo war ich überhaupt?

"M-.. Mama, wo bin ich hier?" Ich erschreckte mich vor meiner eigenen Stimme. Sie klang hohl und schwach, als läge ich im Sterben.

"Du bist im Krankenhaus. Du bist umgekippt, weißt du nicht mehr? Als du den Drohbrief gelesen hast!", sagte sie völlig verstört.

"Wie lange?", fragte ich heiser.

"Drei Tage..", antwortete Mama.

 

What the...! Drei Tage?!

 

Ich starrte sie entgeistert an.

Die Tür ging auf und eine weißgekleidete Frau kam herein. Sie wirkte nett und warmherzig mit ihrem Lächeln und ihren leuchtend braun-grünen Augen. Ihre dunklen Haare hatte sie zu einem lässigen Dutt gebunden.

"Na, auch wieder wach?", grinste sie mich an und stellte ein Glas Wasser auf den Nachttisch.

"Trink", befahl sie mit einem Zwinkern. "Danach geht's dir besser. Ich sage dem Arzt Bescheid." Und mit diesen Worten verließ sie das Zimmer auch wieder.

Gierig trank ich, während ich merkte, wie sich meine Kehle und meine Zunge langsam wieder normal anfühlten und nicht ausgetrocknet.

 

"So. Emilia, wie fühlen Sie sich?", fragte der Arzt. Sein Name war J. Moore, laut dem Schildchen an seinem Kittel. War er aus Amerika?

"Ganz gut, soweit. Wann kann ich wieder nach Hause?"

"Sobald ich noch ein paar Sachen geklärt habe, kannst du gehen. Dauert vielleicht noch etwas. Ich sage dir am besten Bescheid, wenn du gehen kannst." Er hatte einen amerikanischen Akzent.

Als der Arzt wieder gegangen war, sah ich meine Mutter an. Diese lächelte und erhob sich.

"Komm, zieh dich schon mal an, es dauert vielleicht nur noch eine halbe Stunde, bis wir wieder zu Hause sind", sagte sie und ging ebenfalls aus dem Zimmer. Irgendwas war mit ihr, ich wusste nur nicht, was es war.

Als Allererstes ging ich in das kleine Bad nebenan. Ich sah noch so aus, wie immer. Vielleicht etwas schwach, aber ansonsten war alles normal. Ich hatte mir schon ausgemalt, dass ich aussah wie in meinem Traum.

Was war das eigentlich für ein Traum gewesen? Ich hatte ausgesehen, wie ein..

Etwas quietschte mit einem Mal in meinem Zimmer. Klang nach einem sich öffnendem Fenster! Sofort gingen sämtliche Alarmglocken in meinem Kopf an. War das derjenige, der mir gedroht hatte?

Vorsichtig schlich ich zur Tür, die Hand nach dem Knauf ausgestreckt. Doch bevor ich rausging, packte ich mir noch meinen Toupierkamm und hielt ihn in meiner rechten Hand, wie einen Dolch.

Ich fror in meiner Bewegung ein, als ich auf dem Fensterbrett eine Gestalt erblickte.

"Was machst du denn hier?", fragte ich misstrauisch.

"Hast du meinen Brief bekommen?", fragte Seraphin. Sein Blick war unergründlich.

"D-DU?!"

Er nickte mit einem traurigen Lächeln.

Vor Wut wurde mir heiß und kalt und ich packte den Kamm noch fester, sodass meine Fingerknöchel weiß wurden.

"Weißt du eigentlich, was für Angst du mir gemacht hast?! Wegen dir bin ich hier!", zischte ich fuchsteufelswild.

Er sah mich erschrocken an.

"D-Das wusste ich nicht..", flüsterte er und sah schuldbewusst aus.

Ich schnaubte ungnädig.

"Was willst du?", schnauzte ich.

"Gucken, wie es dir geht und ob du meine Warnung ernst nimmst", antwortete er ruhig.

"Darauf kann ich gerne verzichten."

Nun war es an ihm zu schnauben.

"Solltest du lieber nicht. Ich meine es ernst. Julian ist nicht der, für den du ihn hältst. Ich kenne ihn länger, als du mir glauben magst", sagte er und nichts in seiner Stimme ließ mich einen Scherz vermuten.

Ich beschloss in die Offensive zu gehen.

"Und wie lange kennst du ihn?"

Er schmunzelte.

"Ein Weilchen..", antwortete er.

"Also, schätzungsweise hundert Jahre?", fragte ich und sah ihm direkt in seine Augen, in denen etwas aufblitzte und anscheinend entschied er sich für die Wahrheit, denn er antwortete knapp:

"Länger."

Ich lachte kalt.

"Also war meine Annahme richtig."

"Welche Annahme?"

"Dass du ein Vampir bist."

Er nickte nur stumm.

"Und Julian soll daher auch einer sein?"

"Ja."

Ich grinste, denn ich hatte den Beweis dafür, der seinen Behauptungen Lügen strafte.

"Deine Haut ist eiskalt, Julians nicht. Ich kann seinen Herzschlag hören, deinen nicht."

Nun grinste Seraphin süffisant.

"Das liegt daran, dass Julian halb Mensch, halb Vampir ist."

Ich lachte.

"Soll das'n Scherz sein?", fragte ich.

"Nein."

Ich starrte ihn an. Wollte der mich verarschen?

"Und wieso bin ich dann in Gefahr?", versuchte ich das Thema zu wechseln.

"Weil Julian es auf dich abgesehen hat. Er gehört einem feindlichen Stamm an. Es gibt eine Prophezeiung. Und seine Anführer glauben, du seist die Person in dieser Prophezeiung." Er schnaubte und antwortete sofort meiner stumm gestellten Frage. "Es gibt zwei unterschiedliche Versionen der Prophezeiung, je nachdem wie die Entscheidung fallen wird. Eines ist jedoch von vorneherein klar: Die Volturi wollen ihre Macht verstärken und jeden einzelnen Angehörigen dieser geheimen Gemeinschaft aus übernatürlichen Spezies unterdrücken. Damit bringen sie Leid, Gewalt und Schmerz in unser System und irgendwann werden wir von der Weltkarte verschwinden, weil wir uns alle von selbst ausrotten werden. Doch diesen Teil der Prophezeiung ignorieren die Volturi vehement und das ist eigentlich auch der einzige Grund, wieso du existierst. Du bist dazu auserkoren. Also, in der ersten Prophezeiung wird von einem jungen Mädchen erzählt, das mit Vollendung ihres achtzehnten Lebensjahres dazu bestimmt ist, Volterra zu erobern und die Herrschaft der Volturi zu stürzen. In der zweiten Version wird erzählt, dass das Mädchen die Volturi nicht vernichten wird, sondern ihre neue Anführerin werden wird. Beides bringt dich in Gefahr, denn nach der Prophezeiung ausgehend, bist du dieses Mädchen. Es gibt nur einen Haken."

Er machte eine kurze Pause und sah mir nun wieder direkt in die Augen.

"Du musst zum Vampir werden."

 

Waaaaaaaaas?!

 

Konnte es sein, dass ich das schon vorgeahnt hatte? War der Traum eine Vorwarnung auf das, was mir bevorstand?

"Aber.. Das geht nicht! Was ist mit meiner Familie, meinen Freunden? Was soll ich denen bitte sagen, wenn ich plötzlich so anders bin? Und außerdem, bist du verrückt, wieso sollte ich dieses Mädchen sein?!", fragte ich ihn in Erinnerung an meinen Traum.

"Ich kann dir nicht sagen, wieso du es bist. Aber du bist es. Und das ist unumstritten", sagte er nur und blickte mich aus ehrlichen Augen an.

Ich nickte. Mehr konnte ich wohl nicht von ihm verlangen. Noch nicht.

"Inwiefern anders? Und überhaupt: Woher weißt du eigentlich so viel über Vampire?", fragte Seraphin nun verwundert.

"Na, ja.. Du kennst doch so gewisse Vampirbücher und bis jetzt stimmt alles, was ich bei dir beobachtet habe mit den Merkmalen der Vampire aus dem Büchern überein, was heißen soll, dass ich mir schon vorstellen kann, wie anders ich sein werde nach der Verwandlung. Veränderte Stimme, eiskalte Haut, hohe Geschwindigkeit, rote Augen, und wahrscheinlich veränderten Haaren." Letzteres hatte ich gar nicht sagen wollen. Es rutschte mir nur so heraus.

"Veränderte Haare?"

Mist, selbst so ein kleines Detail ging nicht an ihm vorbei.

"Ja.. Also. Ich hatte so einen Traum, während ich ohne Bewusstsein war. Ich habe die Verwandlung sozusagen miterlebt und weiß, wie ich aussehen werde. Frag mich nicht wieso, aber ich weiß, dass ich rote Haare haben werde..", murmelte ich nachdenklich.

"Hm.. Könnte vielleicht eine Gabe sein, die damit zusammenhängt. Schon mal darüber nachgedacht?", sagte Seraphin und runzelte die Stirn.

Ich wollte jetzt aber nicht darüber reden. Es gab Wichtigeres zu klären.

"Also, was ist mit meiner Familie? Meinen Freunden, was soll ich denen sagen, wenn ich so anders bin?", wiederholte ich mich.

"Es sind doch Ferien, sag einfach du fährst mit deinem Freund für ein paar Tage fort. Zwar können sie dir das verbieten, und wenn sie das tun, hole ich dich ab und bring dich an einen sicheren Ort, wo niemand deine Verwandlung mitbekommen kann."

"Ich wette mit dir, du willst nur, dass ich sage, ich gehe mit Julian für ein paar Tage auf Reise, damit man ihn verdächtigt, wenn ich nicht mehr zurückkomme", sagte ich wissend und blickte ihm schelmisch grinsend ins Gesicht. "Bist du etwa eifersüchtig auf ihn? Wieso machst du ihn nur so runter? Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir das alles hier glauben soll."

Er lachte und jeder Laut stach wie Eis.

"Eifersüchtig? Auf ihn? Wieso sollte ich? Was hat er denn, was ich haben wollen würde?", stieß er aus, während er lachte.

"Mich?" Es klang zwar abwegig, doch warum sollte er sich sonst diese Mühe machen, mich zu beschützen?

Seraphin erstarrte mitten in seinem Lachen und blickte mir tief in die Augen.

"Und wenn?", sagte er mit einem schiefen Lächeln.

"Das würde Einiges erklären."

"Was zum Beispiel?" Versuchte er, mich einzuschüchtern? Na, darauf durfte er lange warten!

"Wieso du mir hilfst, zum Beispiel. Wieso du mir das alles sagst. Wenn ich dir nichts wert wäre, hättest du mich doch einfach sterben lassen und.." Ich versteinerte für einen Moment, doch dann schaute ich finster. "Außer du würdest mich benutzen, für deine eigenen Zwecke. Und ich rate dir, dem sollte am besten nicht so sein. Sonst wirst du es bereuen!"

Er sah mich entgeistert an.

"So was traust du mir zu?", flüsterte er.

"Vielleicht.."

Seraphins Gesicht verdunkelte sich schlagartig.

"So, so. Solltest du mir vertrauen, dann treffen wir uns morgen um 17 Uhr."

Und damit verschwand er wieder.

Ich starrte auf die Stelle, wo er eben noch gesessen hatte und fühlte mich leer, mit Ausnahme der Schuldgefühle, die mich nun plagten.

Wie konnte ich nur so blöd sein und ihn derartig verletzen? Seraphin hatte mir nichts getan, er hatte versucht, mir zu helfen. Hatte mir so viel erzählt und ich hatte nichts Besseres zu tun, als ihm zu misstrauen und Sachen an den Kopf zu werfen? Was war ich nur für ein Mensch?

Hinter mir ging die Tür auf.

"Mila! Wieso bist du noch nicht fertig? Ich bin vor einer Stunde aus dem Zimmer gegangen! Wir können los!", sagte Mama verwirrt.

 

Eine Stunde? Wir haben nie und nimmer eine Stunde lang geredet! Oder doch?

 

"Äh, ich bin noch einmal kurz eingedöst, tut mir leid!", erwiderte ich.

"Na, dann beeil dich jetzt mal. Ich bin echt müde." Die Tür knallte wieder zu.

Typisch, Mama. Erst totale Dramatik bezeugen und kurz darauf wieder die knallharte Geschäftsfrau spielen. Ich kannte sie einfach nicht anders.

Als ich mich anzog, kam mir ein Gedanke, den ich früher hätte haben sollen.

 

Wo sollte ich Seraphin morgen treffen?!

 

Ich sollte mir darüber keine Gedanken machen, wahrscheinlich sollte ich einfach um 17 Uhr da sein, wo er dachte, dass ich sein werde. Oder er hatte mir die Zeit gesagt, damit ich wusste, wann ich bereit sein sollte, abzuhauen. Der Treffpunkt war wahrscheinlich nicht wichtig. Er würde mich sowieso überall finden. Er hatte ja auch gewusst, dass ich im Krankenhaus war.

Bissige Erwartungen

Mama tat auf dem Heimweg so, als wäre nichts geschehen, als hätte sie mich bloß von der Schule abgeholt oder so was.

Ich wusste nicht, was mit ihr los war. Hatte sie irgendetwas mitbekommen? Sicher nicht. Wie sollte sie?

"Es ist besser, wenn du dich heute noch etwas ausruhst, in Ordnung, Mila?", sagte Mama geistesabwesend und ging abrupt ins Wohnzimmer, ohne auch nur eine Antwort von mir abzuwarten. Was hatte sie bloß?!

Kopfschüttelnd und ratlos lief ich die Treppe hinauf in den letzten Stock, wo mein Zimmer lag. Es war offen und freundlich, hatte Fenster mit Bänken, auf denen man sitzen konnte, um hinaus zu schauen. Zwei Wände besaßen brombeerfarbene Tapeten, eine cremeweiße und die Wand, an dem das große, weiße Himmelbett stand, bedeckte in der Mitte eine Streifentapete in den Farben der restlichen Wände. Der Teppich war in einem angenehmen Sandton gehalten.

Ich liebte dieses Zimmer. Schließlich war es auch mein Zimmer.

Doch im Moment hatte ich keinen Blick dafür. Ich musste nachdenken. Sollte ich Seraphins Worten Glauben schenken? Sollte ich das? Es hörte sich alles so krass und unmöglich an. Aber wie konnte man sich so was denn schon ausdenken? Gab es die Volturi wirklich? Entsprach all das, was Stephenie Meyer hatte drucken lassen, der Wahrheit? Und wenn es so war, wer war dann Stephenie Meyer? War sie eine von ihnen?

Ich fasste mir an die Stirn, denn ein stechender Schmerz hatte meine Überlegungen stocken lassen. Mama hatte recht; ich sollte mich nicht zu überanstrengen. Weder körperlich, noch geistlich.

Mit einem tiefen Seufzer ließ ich mich auf die weiche Matratze fallen und starrte gen Decke.

 

Meinst du wirklich, du kämst als Vampir klar? Diese Aufgabe, die du zu erledigen hast, ist nicht gerade einfach. Wenn die Volturi genauso sind, wie in diesen Büchern, dann singen dir die Engel bald Halleluja entgegen, auf deinem Weg ins Totenreich, Vampirsein hin oder her!

 

Wie wahr dieser Gedanke nur war, abgesehen von der Tatsache, dass ich wahrscheinlich in der Hölle landen würde, nicht im Himmel. Es war einfach geradezu unmöglich, die Volturi zu schlagen. Wie sollte ich es also anstellen? Ein normales Mädchen, das in einer normalen Familie aufgewachsen ist, normale Freunde hat und normale Noten. Ich war weder übernatürlich schlau, noch besonders kämpferischer Natur. Manche sagten mir einfach nur nach, mein einziges Talent bestehe darin, gut auszusehen und einen auf italienische Braut zu machen, was mal so was von voll gar nicht auf mich zutraf! Ich war eigentlich relativ verschlossen, gewollt oder ungewollt sei mal dahingestellt, und hatte deshalb auch nur wenige, dafür sehr gute Freunde.

Wenn man bedenkt, ich habe auch nicht das perfekte Leben, meine Mutter hatte ständig etwas mit ihrer Gesundheit, mein Bruder hatte mich abgehärtet, dann waren da noch die Probleme mit manchen Jungs aus meiner Stufe und, und, und... Kein Leben lief perfekt, man konnte es aber danach aussehen lassen, doch wer wollte das schon wirklich? Wenn dem nicht so war? Trotzdem kannte ich einige Leute, die dies vortäuschten. Wut schoss mir wie eine Flut aus Lava durch den Körper, sodass ich schnell wieder den Ventilator startete, der nun brausend Luft von der einen Zimmerecke in die andere pustete.

Resigniert legte ich mich vor dem Ventilator auf den flauschigen Teppichboden und versuchte wieder meine Gedanken dem Kern meiner jetzigen Probleme zuzuwenden, doch immer wieder driftete ich ab. Sei es die Schule, sei es Julian und Seraphin, - wobei das Thema nicht einmal weit gefehlt vom gewünschten Thema abging -, sei es meine Mutter, die sich so seltsam verhielt, oder sei es einfach mein sich nun total veränderndes Leben.

Wollte ich überhaupt, dass es sich veränderte? Eigentlich ging es mir doch gut, bis auf ein paar Kleinigkeiten, die man leicht in die hinterste Ecke seines Hirns befördern konnte, wie der Ventilator den kleinen Fussel, der über meinem Kopf hinweg schwebte, irgendwo hinter mich, um bald vergessen auf dem Boden dahinzuvegetieren und dann irgendwann an meinem Socken kleben zu bleiben.

Genau in diesem Moment riss mein Bruder die Tür auf, starrte mich an, wie ich da verdreht auf dem Fußboden herumlag und an die Decke blickte, ohne einen Mucks und ohne eine Rührung.

"Ähh, weißt du wo Mama ist?", fragte er nach einer kurzen Weile und beäugte mich mit einem spöttischen Grinsen. Vermutlich dachte er wieder, ich dachte an irgendwen, der ihn nichts anging und ich ihn deshalb ignorierte, weil ich so verträumt und reglos vor seinen Füßen herum lag.

"Nääh, frag doch Papa", gab ich gelangweilt zurück.

"Du weißt doch, der kann grade nicht, der arbeitet."

Ich verdrehte die Augen.

"Mir doch egaaal!"

Luca grinste erneut.

"Heute wieder mal geil aufgestanden, was?"

"Ja, im Krankenhausbett aufzuwachen ist echt total supi", entgegnete ich trocken. Ich hatte grade echt keinen Bock auf meinen Bruder. Was wollte der eigentlich noch hier? Hatte ich ihm seine Frage nicht längst beantwortet?

Unerwartet blickte ich in sein fragendes, perplexes Gesicht.

"Hää, was haste gemacht?"

"Du hast nicht bemerkt, dass ich umgekippt bin und drei Tage lang verschwunden war?", fragte ich ihn voller Überraschung. Was ging denn mit dem ab?

"Es.. was?!"

"Hast mich schon verstanden...", antwortete ich genervt und verdreht die Augen wieder zur Decke. Mann, wie lahm.

"Und wie haste das gemacht?"

"Ich. Umgekippt. Du verstanden?" Ich versuchte möglichst langsam und deutlich zu sprechen. Ich wusste, dass ich gerade echt eine blöde, zickige Kuh war, aber manchmal hatte mein Bruder einfach die besten Qualitäten für einen verbal zu attackierenden Sandsack.

"Mann, woher soll ich das denn wissen?! Ich war doch im Trainingslager, du Olle! Mir kann man ja nicht mal 'ne SMS schicken, um mir zu sagen, dass meine Schwester im Krankenhaus liegt, was? Brauchst mich bloß nicht so anzumachen. Hast du deine Tage, oder was?", fuhr er mich wie erwartet aufbrausend an.

Sagte der Richtige, wenn ich mir überlegte, wie oft der schon seine Tage gehabt hatte!

Ich lächelte ihn falsch an.

"Also, ich weiß nicht, wo Mama ist. Bist du jetzt fertig?"

"Ja."

Die Tür knallte hinter ihm zu.

 

Seufzend widmete ich mich wieder der weiß gestrichenen Decke. Sollte ich es wirklich riskieren und mit Seraphin "durchbrennen"? War es das Risiko wert, auf eine äußerst gefährliche Reise zu gehen, nur damit ich ihn besser kennenlernen konnte?

Nicht so kennenlernen, bremste ich mich und mein Kopfkino selbst und schüttelte den Kopf, um die Bilder loszuwerden.

 

Scheiße, verdammt, ey!

 

Frustriert hörte ich dem Ventilator beim Pusten zu. Ich wollte gar nicht hier herumliegen und warten, bis der nächste Tag anbrach. Es war so langweilig, sich ständig ausmalen zu müssen, was passieren könnte, wenn ... Es war eintönig, die Decke anzustarren, die Wand anzuschauen und die Sonne beim Wandern zu beobachten.

Ich tastete ohne hinzusehen nach der Fernbedienung für meine Anlage und schaltete sie ein. Sofort dudelte ein Song durchs Zimmer, den ich etliche Male gehört, und trotzdem nicht langweilig gefunden hatte.

"We are never ever, ever, getting back together...", sang ich mit dem Text mit, ohne es wirklich zu registrieren.

Bei dem Lied schoss mir der Gedanke durch den Kopf:

 

Warum bin ich überhaupt mit Julian zusammen? Wie hatte er mich "gekriegt"?

 

Grübelnd über diese Frage merkte ich nicht einmal, dass mein Vater schon eine Weile in der Zimmertür stand, und so trällerte ich die Lyrics geistesabwesend mit geschlossenen Augen, passend zum Lied.

Erst, als der Song zu Ende war und mein Vater die kurz eintretende Stille nutzte, um sich vernehmlich zu räuspern, schreckte ich zusammen. Ich dachte mein Herz würde mir aus meinem Mund hinausspringen, denn das Räuspern hatte etwas vom Klang von Serpahins Stimme in sich und ich wirbelte sofort herum, doch nicht zur Tür, sondern zum Fenster und als ich dort Niemanden sitzen sah, erstarrte ich und blickte verwirrt und fragend meinen Teddybären an. Erst aus den Augenwinkeln heraus bemerkte ich meinen Vater, der lachte, als er mich so dämlich glotzen sah.

Doch plötzlich wurde er wieder ernst.

"Deine Mutter ist schon länger weg. Hat sie dir vielleicht gesagt, wo sie hinwollte? Non riesco a spiegare! Du vielleicht?", fragte er und raufte sich dabei die Haare.

"Ne, sorry, Papa, ich kann's mir auch nicht erklären. Luca hat auch schon nach ihr gefragt."

Ich war überrascht, dass Mama nicht Bescheid gesagt hatte. Sonst ging sie nie, ohne uns Bescheid zu sagen und das hier war jetzt das erste Mal. Doch sie war den ganzen Tag schon so seltsam drauf gewesen. Was war ihr über die Leber gelaufen?

Unwillkürlich setzte sich ein Verdacht in meinem Kopf fest und blieb dort fest verankert. Ich runzelte die Stirn. Hatte das alles mit dieser komischen Prophezeiung, oder wie man es auch immer nennen mochte, zu tun? Gab es wirklich so etwas wie Prophezeiungen in der Vampirwelt? In der Welt der dunklen Geschöpfe? Brauchte man so etwas wie Prophezeiungen in einer Welt, in der man sowieso an nichts glauben konnte, außer an sich selbst und an den Wunsch zu überleben?

Mein Vater riss mich wieder aus den Gedanken.

"Strano (Merkwürdig)", murmelte er, schloss die Tür wieder hinter sich und ließ mich mit meinen Sorgen alleine.

Um mich vielleicht etwas abzulenken stand ich auf, ging in mein persönliches Badezimmer und machte mir ein Schaumbad. Und nein, es roch nicht nach Erdbeeren!

Die nassen Haare in einem provisorischen Turban gewickelt und die Augen geschlossen, genoss ich das Schaumbad. Endlich konnte ich einmal abschalten und die Seele baumeln lassen, wie meine Mutter es so gerne formulierte.

Na, supi, das Abschalten war ja von kurzer Dauer. Kack Gedanken aber auch!

Wieder kreiste mein Noema nur um das mytseriöse Verhalten meiner Mutter. Ich kam zu dem Schluss, dass sie etwas mitgehört haben musste. Anders konnte ich es mir einfach nicht erklären! Doch was hätte sie dazu bewegen können, einfach abzuhauen?

Ich versuchte mich angestrengt an jedes einzelne Wort zu erinnern, das Seraphin und ich gewechselt hatten, bevor Mama ins Zimmer hereingekommen war. Dachte sie womöglich, Seraphin wäre dieser "Freund", von dem im Brief die Rede war? Wenn dem so war, dann hatte sie zweifelsohne nicht das komplette Gespräch gehört. Zumindest nicht den Anfang. Dafür konnte sie den ganzen Rest mitgehört haben und das wäre fatal.

Erstens, sie wusste dann über Vampire Bescheid, zweitens wusste sie, dass Julian und Seraphin Vampire waren, - auch wenn sie sie nicht kannte, doch dass ich sie kannte, war ihr bestimmt schon genug - und drittens, dass ich dazu auserwählt zu sein schien, die mächstigsten und gerissensten Vampire herauszufordern, die es je auf der Welt gegeben hatte. Und nebenbei wurde ich dann auch zum Vampir.

Aber dachte sie, sie könnte den Verlauf meiner Bestimmung irgendwie verändern, indem sie davor weglief?

 

Mann, Mama! Wieso gibst du einem immer Rätsel auf?

 

Da mir langweilig war und ich sonst nichts zu tun hatte, warf ich Hände voll Schaum in die Luft und zerschlug dann die herabschwebenden Kügelchen, die zu vielen kleinen Teilchen zerstoben, was den Eindruck erwecken ließ, dass es im Bad schneite.

Früher hatte ich, wenn ich in der Badewanne war, immer so getan, als sei ich eine Meerjungfrau, hatte versucht, Arielles Lied zu singen und meine Haare gebürstet. Früher wollte ich immer besonders sein. Eine Prinzessin oder ein Star. Jetzt war das alles so unwirklich geworden. Ich konnte höchstens der Star unseres Restaurants werden.

Ich seufzte.

Früher hatte ich davon geträumt, als berühmte Schauspielerin über den roten Teppich zu schreiten, eine lange, wunderschöne Robe zu tragen und mit blitzend weißen Zähnen in tausende Kameras zu lächeln. Aber welches Mädchen hatte nicht schon davon geträumt, berühmt zu werden?

Ich summte gedankenverloren die Melodie von Footprints in the Sand, ein Lied, das ich schon früher gern gehört hatte.

Der restliche Abend verlief größtenteils unter Langeweile. Mein Bruder ließ sich hin und wieder einmal blicken, fragte, ob mich Mama irgendwie kontaktiert hatte und ging dann wieder, Papa war mittlerweile ernsthaft besorgt und ich hatte nur eine kalte Leere in mir verspürt, ohne zu wissen, wieso. Ich hatte das Thema Mamas Verhalten und Verschwinden den ganzen restlichen Abend noch in Gedanken durchgekaut, ohne zum Ergebnis zu kommen. Schließlich hatte ich den Fernseher an geschmissen, um mich von meinen Sorgen abzulenken.

Morgen war es soweit. Morgen würde ich die Erfüllung der Prophezeiung antreten. War ich überhaupt schon bereit für so eine Aufgabe? Ich konnte doch nicht einmal kämpfen! Ich wusste auch nicht, ob ich Fähigkeiten besitzen würde, und wenn ja, welche. Ich hatte so wenig Ahnung von der Vampirwelt. Ich kannte sie ja nur aus irgendwelchen Büchern und Literaturverfilmungen und ob davon auch alles stimmte, das war hier die Frage.

Soweit ich wusste, hatte ich vieles richtig über Vampire gewusst, schließlich hatte mich Seraphin gefragt, wieso ich so viel wusste. Doch reichte das aus? Sicherlich nicht.

Nicht, um die drei obersten Volturi zu besiegen. Und dann auch noch die Restlichen. Falls alles aus den Büchern und Filmen der Wahrheit entsprach, würde ich Aros, Caius und Magnus Fähigkeiten, sowie Janes, Alecs, Demetris, Chelseas, Renatas und so viele andere noch umgehen können müssen.

War ich überhaupt wirklich dieses Mädchen, das in der Prophezeiung vorkam, als die Heldin oder was auch immer? Schwierige Frage. Welche Kriterien hatte denn dieses Mädchen erfüllen müssen?

"Das muss ich unbedingt Seraphin fragen, sobald wir aufbrechen...", murmelte ich.

"Ich glaube, dazu wird es nicht mehr kommen, Mila."

Ich zuckte derartig zusammen, sodass mir der leere Teller vom Bauch rutschte und scheppernd auf dem Boden landete. Sofort fiel mein Blick zum Fenster und wider Erwartungen saß dort nicht Seraphin sondern:

"Julian!", keuchte ich überrascht.

"Ja, ich heiße Julian."

Er klang total verändert. War das sein wahres Gesicht? Ich versuchte mich dumm zu stellen, tat so, als wüsste ich nicht, dass er ein Vampir war und mich umbringen wollte.

"Was machst du hier? Wie bist du hier rein gekommen?", fragte ich.

"Durch's Fenster. Und ich bin hier, um dich zu entführen." Er sprach es ganz gelassen, als würde er über das Wetter reden.

Ich starrte ihn perplex an. Er wollte.. Was?!

"W-wie bitte?", stammelte ich.

"Hast mich schon verstanden, oder, Süße?" Er grinste frech.

"Und wieso? Soll das'n Scherz sein?!"

Ich stand langsam auf und bewegte mich zur Tür. Keine gute Idee, denn Julian stand blitzschnell vor mir und drückte mich an die Wand.

"Das solltest du lieber nicht versuchen. Ich kriege dich sowieso."

Ich schlotterte. Dieser neue Julian machte mir Angst.

"Wer bist du und was hast du mit Julian gemacht?"

"Ich bin Julian. Und ich war schon immer so, du hast es nur nie mitbekommen. Bist du jetzt böse?", fragte er spöttisch lächelnd. Am liebsten hätte ich ihm eine geklebt. Doch dann ließ ich es lieber bleiben.

Plötzlich packte er mich und zerrte mich zum Fenster, als sei ich eine Stoffpuppe. Ich wehrte mich, jedoch ohne Erfolg. Klar, er war ein Vampir, wie sollte da ein kleines, schwaches Mädchen auch nur den Hauch einer Chance haben?

"Komm schon, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Wenn du lieb bist und mitspielst, lass ich dich vielleicht auch noch ein paar Tage am Leben. Was hältst du davon?"

"Rede nicht mit mir, als sei ich vier Jahre alt!", blaffte ich ihn an, während er mich auf eines der Fensterbretter zog.

"Heute ein bisschen zickig, was?" Was hätte ich nicht gegeben, um ihm seine Visage zu zerbomben. Doch ich schwieg eisern und ließ es zu, dass er mich über die Schulter warf und nach unten sprang, zwei Stockwerke tief.

Der Aufprall war hart, aber erträglich.

"Seraphin findet mich so oder so, du kannst mich nicht vor ihm verstecken", sagte ich süffisant.

"Du verlässt dich aber wirklich total auf deinen netten Beschützer. Leider musste ich ihn mir vornehmen, bevor ich zu dir gegangen bin. Jetzt wird er dir nicht mehr zu Hilfe kommen können. Jetzt bist du ganz allein in einer Welt voller Ungeheuer." Er lachte kalt.

Meine Eingeweide zogen sich schmerzhaft zusammen. Mein Herz drohte zu zerspringen. Was war mit Seraphin? Was hatte Julian mit ihm gemacht? Seraphin konnte nicht tot sein!

"Du bluffst."

"Nein, tu ich nicht", sagte er vollkommen ernst.

Ich fing an unter Tränen vor Wut auf seinen Rücken zu trommeln und schrie: "Du beschissener Mistkerl! Du mieses, dreckiges, bescheuertes, kaltes, mörderisches, altes, hartherziges .... Monster!"

"Danke für die Massage", erwiderte er nur, was mich noch mehr in Rage versetzte.

Ich suchte verzweifelt mit den Augen nach etwas Spitzem. Einem spitzen Ast, den man diesem Typen in den Rücken stoßen konnte. Er hatte Seraphin auf dem Gewissen und das war das Schlimmste, was er mir hatte antun können. Ohne Seraphin war ich nichts und würde auch nie etwas sein. Schon gar nicht das Mädchen, das zur Heldin werden würde und die Volturi besiegte.

Ich würde ja nicht einmal Vampir werden, so wie es im Moment aussah. Ich würde ein mickriger Mensch bleiben und schon mit siebzehn ein halb das Zeitliche segnen. Dabei hatte ich noch so viel tun wollen: Meinen Abschluss schaffen, studieren, eine Familie gründen, ein riesiges Haus kaufen, Berühmt werden und für immer glücklich sein.

Und das alles konnte ich nicht, nur weil Julian mir im Weg war. Nur, weil er mich reingelegt hatte. Und nur, weil ich ihn geliebt hatte. Doch jetzt war das endgültig vorbei. Jetzt, wo er mich entführt hatte.

 

 Ich saß still auf einer abgenutzten Matratze und starrte ins Nichts. Ich fühlte nichts, hörte nichts, spürte nichts und sah nichts. Nur diese Leere leistete mir Gesellschaft. Julian hatte mich in eine Hütte mitten im Wald gesperrt. Es war dunkel hier drin und kalt. Und dabei war es Sommer.

Was würden Papa und Luca nur tun, wenn plötzlich auch noch ich verschwunden war? Ich hoffte, dass es ihnen gut ging. Ich wollte nicht, dass sie sich um mich sorgten. Ich würde sie zwar nie wieder sehen, aber ich konnte es nicht ertragen, sie unglücklich zu machen und nicht einmal etwas dafür zu können. Wie hatte ich mich nur so sehr von Julian verarschen lassen können? War ich wirklich so einsam gewesen, dass ich mich auf ihn eingelassen hatte, um endlich Jemanden zu haben, der immer für mich da war? Doch eigentlich war ich ja auch ohne ihn gut klar gekommen. Sogar besser. Selbst, wenn er nicht so böse gewesen wäre, hätte ich mich besser gefühlt, ohne ihn. Er hatte mich versetzt, sei es aus Feigheit oder anderen Gründen so gekommen. Ich konnte nur glücklich sein, wenn Julian mich in Ruhe ließ.

Bis jetzt hatte er das ja auch getan. Seit er mich hier eingeschlossen hatte.

Er hatte gegrinst und gesagt: "Willkommen in deinem Hotel. Ich wünsche dir viel Spaß und freu dich schon mal auf dein Ende. Bereite doch 'ne Abschiedsrede vor, ich glaube, die lassen wir dich noch halten."

Lachend war er gegangen, während die Tür ins Schloss fiel und es klickte. Seitdem waren gefühlte Stunden vergangen, in denen ich meinen Hintern platt gesessen hatte und mein Gehirn mit sinnlosen Gedanken gefüllt hatte.

Eine Gehirnhälfte ließ immer den gleichen Namen in einer Endlosschleife abspielen: Seraphin. Seraphin. Seraphin. Seraphin. Seraphin. Seraphin...

Es war schrecklich daran denken zu müssen und sich auszumalen, was mit ihm geschehen war. Julian besaß offensichtlich keinerlei Skrupel, Jemanden zu töten oder zu quälen. Er hatte schließlich auch die verletzlichen Gefühle eines unschuldigen Mädchens schamlos ausgenutzt, um sie nachher zu entführen und zu ermorden. In meinen Gedanken hörte sich das so an, als sei nicht ich mit diesem Mädchen gemeint. Vielleicht ein Vor-Selbstmord-Schutz-Kommando in meinem Kopf. Aber womit hätte ich auch einen Selbstmord begehen können? Mit einer Matratze? Na ja, ich hätte mich selbst ersticken können, aber wer hatte schon großartig Lust so zu sterben? Viel zu aufwendig. Wenn ich starb, wollte ich, dass es möglichst schnell ging und hoffentlich berücksichtigte Julian diesen Wunsch. Aber eigentlich konnte ich davon nicht ausgehen.

Ich seufzte verzweifelt.

 

Seraphin. Wo immer du auch sein magst. Bitte hilf mir!

 

Ich konnte mich nicht damit abfinden, dass Seraphin tot war. Ich hielt es für einen Bluff. Schließlich konnte jeder sagen, es wäre keiner, wenn man ihn fragt. Gelangweilt trommelte ich irgendeine Fantasiemelodie auf das Holz der Hüttenwand neben mir und summte irgendetwas.

Wie lange hatte ich überhaupt noch Zeit? Ich hatte überhaupt keine Ahnung, wann ich entführt worden war und wie lange ich schon in dieser Hütte steckte.

Immerhin konnte ich durch das Fenster den Mond hell leuchten sehen, woraus Jeder schließen konnte, dass es Nacht war.

Ich hörte eine Eule kreischen, als Etwas gegen das Holz der Hütte krachte. Ich schrie auf vor Schreck.

"Hm, morgen bekommen wir endlich wieder Futter!", seufzte eine männliche Stimme vor der Hüttentür verträumt.

"Ja, aber das Mädchen wird kaum ausreichen, meinste nicht?", erwiderte eine andere ernüchternd.

"Mann, ist mir doch egal. Hauptsache, es gibt irgendetwas!"

"Komm, wir sollten abhauen, Lloyd mag es gar nicht, wenn wir in der Nähe unserer Gefangenen reden."

Und somit verstummten ihre Stimmen.

Auf einmal wurde ich so müde, dass ich mich auf die harte Matratze fallen ließ und sofort einschlief.

 

So schnell, wie ich eingeschlafen war, hörte der Schlaf auch wieder auf. Als nämlich Jemand gegen Etwas trat und dieses Etwas krachend zu Boden fiel, schreckte ich hoch. In der Tür stand eine bullige Gestalt, zu deren Füßen lag die Hüttentür, die sie aus den Angeln getreten hatte. Teilweise war sie zersplittert und gebogen. Entsetzt und angsterfüllt starrte ich auf die Gestalt, die von hinten von der Sonne angestrahlt wurde, sodass das Gesicht vollkommen im Dunkeln blieb. Die Gestalt kam auf mich zu und ich drückte mich in die hinterste Ecke der Hütte.

"Zeit für's Frühstück!", brummte der Mann freudig und streckte die Arme nach mir aus. Es war einer der Vampire, die ich reden gehört hatte.

Ich quiekte vor Angst und kauerte mich voller Panik zusammen.

"Ryan, lass das! Das Mädchen ist noch zu wichtig für uns. Habe ich gesagt, dass du sie frühstücken darfst? Pass auf, dass ich nicht wütend auf dich werde!", sagte ein weiterer Vampir, der nicht so bullig war und der in der Tür auftauchte. Seine Stimme klang bedrohlich.

Was sollte ich ihnen überhaupt noch bringen? Wollten sie mich nicht einfach aus dem Weg schaffen? Ich dachte, ich sei eine Gefahr für sie, solange ich lebte. Zwar wollte ich noch weiterleben, aber ich verstand einfach nicht, was sie von mir wollten.

"Was wollt ihr eigentlich von mir?", fragte ich leise, jedoch laut genug, als sich die Beiden Vampire abwandten und wieder verschwinden wollten.

Der Bullige lachte höhnisch auf.

"Du willst unser Rechtswesen total ummodellieren! Zwar hab ich nichts dagegen, aber Caius hat uns immer mit allem unterstützt. Wir haben die Mondkinder gejagt, bis sie sich zusammen gepfercht irgendwo in Asien verkrochen haben. Die werden Caius nicht mehr so schnell versuchen, etwas anzutun. Wenn du Caius nun stürzt, sind wir am Ende und das können wir nicht zulassen. Wir haben viel zu viele Feinde, die unser Gebiet übernehmen wollen. Auch die Freunde deines Freundes haben das schon versucht, nicht bedacht dabei aber, dass wir in enger Verbindung mit den Volturi stehen und so haben wir sie fast gänzlich ausgelöscht. Seraphin hat sich einem anderen Clan angeschlossen der sich erst kürzlich zusammengefügt hat. Und wegen all dem musst du sterben. Wir müssen unseren größten Feinden einen Schlag versetzen und wie kann man das am besten anstellen, wenn nicht ihnen das zu nehmen, was sie am Meisten brauchen? Aber genug geredet. Wir haben zu tun und du musst bestimmt noch einiges nachdenken, oder? Also, wir sehen uns beim Festmahl!", sagte der Vampir, der offensichtlich der Anführer dieses Vampirzusammenschlusses war.

Also hatten diese Vampire eine enge Bindung zu Caius, dem Volturi, den ich am Wenigsten leiden konnte. Wo war ich hier nur gelandet? Schlimmer hätte es ja gar nicht kommen können!

 

Stunden später hatte ich mich wieder etwas entspannt, was man bei meiner Situation eigentlich als unmöglich betrachten konnte und starrte auf den Boden. Die Möglichkeit, durch die offene Tür zu fliehen, hatte ich sofort beiseitegeschoben. Diese Typen waren viel zu schnell, um ihnen zu entkommen würde ich mehr als ein Wunder brauchen. Also blieb ich bei meinem bisherigen Verhalten und dachte einfach nur nach. Zeit hatte ich ja noch genug. Doch in schon ein paar Minuten konnte es aus sein. In einer Minute konnte einer dieser Vampire auftauchen. In einer Minute konnte man mich aus der Hütte zerren, ins mittlerweile dämmernde Abendrot der Sonne. In einer Minute konnte so viel passieren. Selbst in einer einzigen Sekunde.

Ich atmete tief ein und aus, versuchte mich zu beruhigen, doch ich klammerte verzweifelt meine Finger um das dicke Holzbrett der Pritsche und kniff die Augen zusammen. Ich wollte nicht sterben! Nicht so.

Ein dumpfes, aber hörbares Klopfen war zu hören. Erschreckt blickte ich auf und schaute in Richtung Tür. Der etwas schmächtigere Vampir stand gegen den Rahmen der nicht mehr vorhandenen Tür gelehnt, die immer noch auf dem Boden lag. Ich konnte sein Gesicht zwar nicht erkennen, doch wusste ich, dass ein Grinsen seine Lippen umspielen musste.

"Es wird langsam Zeit, meinst du nicht auch?", fragte er entzückt, weil ich bei seinen Worten zu zittern begann. Ein kehliges Lachen ertönte aus seinem Mund.

 

Nein, ich will nicht! Lass mich in Ruhe!

 

Voller Panik drückte ich mich gegen die Holzwand, als er auf mich zukam, so langsam und gelassen, wie er konnte, ergötzte sich an meiner Angst.

"N-nein, bitte nicht!", piepste ich.

"Sch, sch. Ist doch alles gut. Es wird auch gar nicht wehtun. Nicht viel, jedenfalls. Du musst wissen: Ich weiß, wie man eine Lady umbringt." Als er dies sagte, konnte ich seinen kalten Atem auf meinem Gesicht spüren und er beugte sich zu mir herunter. Mir wurde schlecht.

Von weitem sah er gar nicht mal so groß aus, doch jetzt ragte er wie ein gewaltiger Baum vor mir empor und schüchterte mich noch mehr ein, als dieser Bulle von eben. Eine unheimliche, starke Aura umgab diesen Vampir. Dunkel, kalt, gefühllos, aggressiv, undurchschaubar und unerbittlich.

Urplötzlich zerrte er mich von der Pritsche und hinaus aus der Hütte. Ich war noch zu gelähmt vor Schreck, um mich zu wehren. Meine Beine liefen einfach mit, ohne auf mein Gehirn zu hören, das "Nein! Aufhören! Streikt ihr blöden Beine!" schrie. Ansonsten war mein Kopf wie leer gefegt. Als hätte etwas dort so gründlich geputzt, dass nichts mehr übrig geblieben war.

Das Licht der Abenddämmerung, die mittlerweile eingesetzt hatte, blendete mich und ich blinzelte. Ich wollte wenigstens noch diejenigen sehen, die gleich die Zähne in meine Kehle rammen würden. Ich wollte sehend sterben, in dem Wissen, wer meine Mörder waren.

Als sich meine Augen wieder an die Helligkeit gewöhnt hatten, erblickte ich etwas, was mich keuchend einen Schritt zurückweichen ließ, sodass ich gegen Llyod stieß, der kicherte.

"Ja, deine Mutter hatte uns gesucht, wir haben sie gefunden. Sie wollte sich im Tausch gegen dich anbieten. Im Grunde genommen hatten wir nichts dagegen, nur hätte sie vielleicht bedenken müssen, dass wir nicht besonders ehrliche, faire Geschäftsleute sind." Viele umstehende Vampire gackerten belustigt.

Ihre Freude, die wie eine Woge eiskalten Wassers über mich hereinbrach, ließ mich erschaudern. Es widerte mich an. All das, was mir passiert war, seitdem Julian mich verschleppt hatte, seitdem Mama verschwunden war, um sich anscheinend den Vampiren als Opfer für mich auszuliefern.

Bei dem Gedanken liefen mir Sturzbäche von Tränen die Wangen hinunter.

 

Ach, Mama. Wie mutig du auch bist und wie stolz und froh ich bin dich zu haben, so eine Entwicklung hättest du doch vorhersehen können. Nun müssen wir beide sterben. Es tut mir so leid, Mama!

 

Wie meine Mutter so kniend, ergeben den Kopf gen Boden gereckt, ihre Kehle so schutzlos ließ, wurde mir heiß und kalt gleichermaßen. Das Feuer, das in letzter Zeit oft in mir hervorgelodert war, lieferte sich einen erbitterten Kampf mit einer erdrückend kalten Landschaft aus Eis, beide nicht gewillt, nachzugeben. Diesen Krieg im Inneren meines Herzens, zusammen mit dem zweiten Krieg in meinem Gehirn zu überstehen, schien mir unmöglich. Ich wollte, dass es aufhörte. Dieser Schmerz, die Verzweiflung und die Gewissheit, überhaupt nichts ausrichten zu können, ließen mich ebenso zu Boden sinken. So saß ich in eine unbekannte Ferne blickend da, bemerkte nichts um mich herum. Mich hätte in diesem Moment eine Lawine überrollen können, oder ein Zug, ich hätte nichts verspürt. Nichts, denn der Schmerz war bereits da und es gab kein Anzeichen auf Heilung. Nichts deutete ein baldiges Ende meiner Leiden an. Dieses Mädchen aus der Prophezeiung; ich wollte es nicht sein. Nicht so, weil ich es nicht konnte. Ich war zu schwach.

Etwas rauschte blitzschnell an meinen Ohren vorbei, etwas, so schnell, dass man es unmöglich hätte erblicken können. Was war das?

"Nein, nicht schon wieder du! Du nervst echt!", schrie ein Vampir, nicht weit neben mir.

Jemand packte mich grob und zerrte an meinen Haaren, sodass meine Kehle erreichbar wurde. Im nächsten Moment spürte ich einen stechenden Schmerz. Zwei fast direkt nebeneinander liegende Punkte ließen das Feuer in mir höher auflodern, als vorher ohnehin schon. Das Eis verzog sich geschlagen. Langsam bemerkte ich, wie zusammen mit dem Eis, auch meine Lebenskraft versickerte. Etwas stahl sie mir, sog sie aus mir heraus und ich wusste, es hatte etwas mit diesen zwei plötzlich aufgetauchten Punkten zu tun.

Ich kämpfte gegen das Etwas an, was mir meine Lebenskraft stehlen wollte. So einfach wollte ich sie ihm nicht überlassen! Ich traf etwas sehr hartes und meine Hand fühlte sich an, als sei sie gebrochen. Doch das etwas ließ von mir ab, obwohl ich glaubte, dass nicht ich der Auslöser dafür war.

Sanft wurde ich hochgehoben und etwas trug mich davon. Ich konnte nichts sehen, ich konnte nichts hören oder riechen. Allein das Gefühl war noch da. Und es brannte in mir, stieg empor, von meinen Füßen hinauf zu meinen Oberschenkeln und immer weiter.

Ich fiel in einen undurchdringlichen Schlaf, dessen Schwärze mich beherrschte und gegen das drückte, was mich trug. Und dieses Gefühl klopfte an meine Erinnerungen. Doch ich wusste nicht, was es war. Ich konnte nicht mehr klar denken. Jedenfalls nicht gut genug, um mich zum Erinnern zu zwingen. Ich dachte nur an das Feuer, dessen Herd - der Vulkan - wanderte, spuckte kochende Lava in jede Faser meines schwachen Körpers und entzog ihm etwas, gab jedoch etwas Neues dazu. Ich wusste nicht, welches Ziel der Vulkan verfolgte, zumindest jetzt noch nicht.

Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis der Vulkan meinen Bauchnabel erreichte und sein Feuer zu meinen Armen ausdehnte. Das Feuer züngelte meine Finger entlang, leckte an meinen Nägeln und Lava zischte brodelnd meinen Hals entlang. Ein Prickeln durchfuhr meine Haarwurzeln, meine Lippen, meine Nase, selbst meine Augen kribbelten, fühlten sich an wie kochendes Wasser. Jetzt wusste ich, was der Vulkan beabsichtigte. Mit einem Heer aus Vulkankriegern stürmte er auf mein Herz zu, kratzte an dessen Toren und versuchte die Festung zu stürmen, die mein Herz von meinem übrigen Körper abkapselte und nun beschützte. Doch mein Herz wollte sich nicht so einfach geschlagen geben und die Wächter schossen mit Pfeilen auf die Krieger unter ihnen ab; doch ohne Erfolg. Das Tor brach unter der Flut der Vulkankrieger zusammen, splitterte in tausend kleine Stücke und überließ mein Herz schutzlos, dem Putsch des Vulkans ausgeliefert. Nach ein paar Sekunden war es schon vorbei. Doch der Vulkan loderte nicht weiter in mir. Er ging nach und nach aus, mein Körper kühlte sich ab, doch ich fühlte mich nicht tot. Ich fühlte mich stark und neu.

Anders, das war das Wort; ich fühlte mich anders.

Ja oder Nein? Jain!

Als ich die Augen öffnete, bot sich mir ein fantastisches Schauspiel. Farben, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, blitzten mir entgegen. Ich konnte den Staub klar geformt vor mir schweben sehen, tanzend im Wind, wie kleine Feen. Dann starrte ich in den klaren, blauen Himmel. Auch von hier unten konnte ich die Flugzeuge klar umrissen sehen, Vögel, die hoch oben über mir dem Süden entgegen flogen.

Erst jetzt konzentrierte ich mich auf meine anderen Sinne, ich hörte ein Knistern, irgendwo fast neben mir, ein Zwitschern, hoch oben in den Bäumen, und einen Atem. Ich fühlte links etwas Warmes, dass in Hitzewellen meinen Körper anstrahlte. Und dann roch ich etwas, was mir die Luft nahm: Einen herben, männlichen Duft, der mich um den Verstand zu bringen schien.

Wie eine aufgeschreckte Gazelle schoss ich mit meinem Oberkörper in die Senkrechte. Ich war abermals erschrocken, da ich eigentlich während der Bewegung verschwommene Umrisse hätten erblicken sollen. Doch alles um mich herum, bis ins kleinste Detail, war gestochen scharf.

 

Was -?!

 

"Hey, du Schnarchnase. Auch wieder wach?", ertönte Seraphins Stimme belustigt.

Ich sah mich zur Seite um und blickte in Augen aus wunderschönem Karamell. Sie waren noch ausdrucksvoller und tiefgründiger blickend, als ich früher immer angenommen hatte. Sie blickte in mich hinein und lasen mich wie ein offenes Buch, doch es war keineswegs unangenehm. Es entfachte ein Gefühl von Leichtigkeit, Wärme und Geborgenheit in mir, etwas, bei dem ich mich zu Hause fühlen konnte.

  Ein schelmisches Grinsen lag auf Seraphins Lippen und seine weißen Zähne glitzerten, wie funkelnde Diamanten. Seine Haut war so rein und sah so weich aus, dass ich mich nur schwer zurückhalten konnte, um nicht über seine Wange zu streichen und seine Schönheit zu bewundern.

"Wie kommst du denn hierher?", fragte ich mit einem schönen Sopran.

Moment mal, das war nicht meine Stimme!

Ich fasste mir an meinen Mund: Er war weich und angenehm warm. Aber auch er schien nicht mehr der zu sein, der er einmal gewesen war.

"Was ist mit mir?!", stammelte ich total überfordert mit der Situation.

Seraphin lächelte sanft und etwas blitze in seinen Augen auf. Etwas, das ich schon oft bei ihm gesehen hatte, wenn er mich anschaute, aber noch nie hatte deuten können.

"Willkommen in deinem neuen Leben, Mila!", sprach er und bot mir seine Hand an, damit ich aufstehen konnte.

Verwundert sah ich ihn aus großen Augen an, nahm aber seine Hand dankbar an. Ungewöhnlich schnell stand ich auf den Beinen, ohne ein Schwanken, ohne irgendeine Spur von Schwindel. Doch etwas loderte schmerzend in meiner Kehle auf. Ich schluckte krampfhaft und versuchte den Schmerz damit zu stoppen. Doch es funktionierte kein Stück weit. Das Kratzen verstärkte sich nur noch umso mehr. Verzweifelt presste ich meine Hand gegen meine Kehle und schloss die Augen. Trotz der geschlossenen Lider konnte ich noch ziemlich viel erkennen. Es war, als würde ich durch ein sehr trübes Milchglas blicken. Schemenhaft konnte ich Seraphins Gestalt ausmachen, die sich auf mich zu bewegte.

"Mila, keine Angst. Das ist ganz normal. Am Anfang wird es erst sehr schlimm sein, aber wenn du es einmal gelernt hast, ist es total einfach", redete er ruhig auf mich ein.

Ich nickte mit immer noch zugekniffenen Augen, ohne wirklich zu begreifen, von was er da überhaupt sprach und orientierte mich an dem Licht. Dann öffnete ich meinen Mund und atmete – ohne es wirklich zu benötigen, aber aus Gewohnheit her – die klare, frische Luft ein. Der Duft des Vampirs vor mir betörte mich dermaßen, dass ich meinen Mund rasch wieder zuklappte und er auch geschlossen blieb. Dann öffnete ich die Augen.

Nach einer Weile stellte ich die für mich entscheidende Frage: "Bin ich jetzt ein Vampir?"

Seraphin nickte nur und lächelte. Dann fuhr er mit seiner Erklärung fort.

"Deiner Mutter geht es gut, sie ist wieder Hause, hat mir aber versprechen müssen, den Mund zu halten."

Mama?! Angestrengt versuchte ich mich daran zu erinnern, was geschehen sein könnte. Ich fühlte mich, als sei ich aus einem langen, traumlosen Schlaf erwacht, aus dem Koma. Verschwommene Bilder schwirrten mir im Kopf herum, tauchten auf und verschwanden, immer mehr nahmen Gestalt an, sobald ich mich intensiver versuchte zu konzentrieren, andere verschwammen und blieben schließlich unentschlüsselt. Doch ein Bild stach mir entgegen, dass ich ohne viel Mühe scharf vor meinem inneren Auge hatte, als würde es mir jemand dagegen halten.

Mama, wie sie zwischen all den hungrigen Vampiren kniete; schmutzig, verletzt und vollkommen hilflos.

"Oh, mein ... Was ist passiert, Seraphin?!", stieß ich qualvoll hervor und riss die Augen auf, um das schreckliche Bild nicht mehr sehen zu müssen.

"Wie gesagt, sie ist jetzt in Sicherheit. Ich habe sie nach Hause gebracht, nachdem ich Lloyd von dir runter bekommen hatte. Dieser ... Eines Tages bringe ich ihn um!", zischte er und ballte seine Hände zu Fäusten, sah mich nicht an, blickte über meine Schultern hinauf in die Baumkronen.

Ich schnellte auf ihn zu und presste ihn an mich. Seine Haut war keineswegs mehr kalt, sie war so angenehm warm wie die meine und fühlte sich verboten gut auf meiner an. Ich wollte auf ewig so bleiben. Nichts würde mich davon abhalten.

"M-mila ... Aua", keuchte Seraphin und erschrocken ließ ich ihn los.

"Was hab ich denn gemacht?"

"Als Neugeborene bist du stärker als ich. Vergiss das bitte nicht", grinste er verlegen.

Ich grinste.

 

Achso, das Neugeborensein hat also auch seine Vorteile. Wie praktisch!

 

Dann runzelte ich jedoch abermals die Stirn. Wenn ich doch jetzt ein Vampir war, hatte ich irgendeine Fähigkeit, eine Gabe? Oder war ich ein nutzloser, normaler Vampir, der nichts anderes tun konnte, als zu jagen und zu versuchen zu überleben?

Seraphin schien meine Gedanken gelesen zu haben.

"Sei dir versichert, du hast eine Gabe. Ich sehe dir das jetzt schon an. Das habe ich auch vorher schon." Wieder blitzte etwas in seinem Blick auf.

"Wie meinst du das man sieht es mir an?"

"Naja, du hast rote Haare, genau wie du es vorhergesehen hast. Vielleicht ist das deine Gabe, aber das erklärt immer noch nicht die roten Haare. Vielleicht hast du mehrere oder eben nur eine. Nur müssen wir das noch herausfinden", sprach Seraphin nachdenklich.

 

Hm, wer weiß. Es kann schon wirklich sein, dass ich Hellsehen kann, aber Seraphin hat Recht. Es könnte etwas anderes sein oder noch  etwas anderes. Mann, wieso ist so etwas immer so kompliziert?

 

"Und welche Gabe hast du?" Ich war neugierig auf seine Gabe, auch wenn ich schon eine vage Vorstellung hatte, was seine sein konnte.

"Ich kann die Zeit manipulieren. Siehst du?" Und er schloss kurz die Augen.

Plötzlich war jegliches Geräusch verstummt. Kein Knistern, kein Zwitschern oder Rauschen. Stille. Eine Stille, wie ich sie noch nie gehört hatte. Falls man Stille überhaupt richtig hören konnte.

Überrascht blickte ich mich um. Die Baumkronen, die zuvor noch im Wind getanzt hatten, waren erstarrt, genauso wie die Flammen des Lagerfeuers, das ich bisher noch gar nicht richtig bemerkt hatte.

"Das warst du?! Wie geht das?", fragte ich fasziniert.

 

Mann, wie cool! Wenn man so was konnte, dann endete doch nie ein Tag und man konnte alles von neuem erleben!

 

"Naja, das Einzige, was ich nicht kann, ist in die Vergangenheit zu reisen. Ich kann die Vergangenheit nicht verändern. Das ist Gesetz und es übersteigt die Gesetze der Natur, die wir ja sowieso überstiegen haben. Aber dieses Gesetz steht über allem anderen", flüsterte er, denn hätte er normal gesprochen, hätte es sich in dieser Stille wie ein Schrei verhalten.

Ich nickte, leicht enttäuscht, aber verständnisvoll. Zugleich war ich jedoch auch überrascht, als könne er zusätzlich noch in meinen Kopf schauen.

Und doch : Es wäre ja auch irgendwie langweilig, würde man alles verändern können. Man könnte es einmal versauen, weil man ja sowieso wusste, man könnte es später noch ändern. Aber so musste man immer noch auf alles achten.

"So habe ich dich auch vor den anderen retten können. Ich kann bestimmen, wer die Zeitreise mit mir macht und wer nicht. Doch bisher konnte ich nur eine Person richtig einbeziehen. Und das bist du. Das muss eine Bedeutung haben und deshalb glaube ich, du bist die Auserwählte. Und nicht nur deshalb, auch weil du sofort gewusst hast, dass ich anders war. Du hast nicht einmal einen Tag gebraucht, um zu begreifen, dass ich ein Vampir bin. Du bist etwas Besonderes, Mila."

Hätte es in meinem Körper noch Blut gegeben, wäre ich jetzt so rot geworden, wie eine Tomate. Verlegen ließ ich mir die Haare ins Gesicht fallen und schaute zu Boden auf dem ich die winzigsten Tierchen erblicken konnte und beeindruckt ihrer Arbeit zusah. Auf einmal waren Ameisen so interessant!

Ich beobachtete die kleinen Arbeiter bei ihrem Treiben und versuchte, mich nicht allzu sehr von Seraphins Duft, der mir immer noch gut bemerkbar um die Nase waberte, ablenken zu lassen. Dabei war es nicht besonders hilfreich, dass Seraphin meine Hand in die seine nahm und sie anscheinend begutachtete.

"U-und, was jetzt?", fragte ich immer noch verlegen. "Was sollen wir nun unternehmen?"

Mann, wie das klang. Ich war echt albern!

Seraphin grinste.

"Du musst nach Volterra. Aber vorher muss ich dich noch etwas trainieren und deine Gabe aus dir herauslocken."

Na, das konnte ja heiter werden. Welche Gabe sollte ich schon besitzen? Das Einzige, was sich für mich spürbar verändert hatte - abgesehen davon, dass ich jetzt unsterblich war - waren meine Haare. Und ob ich mich mit einem Rot wirklich anfreunden konnte? Vielleicht brachte das ja auch die Zeit.

Trotzdem hätte ich etwas Natürlicheres besser empfunden. Im nächsten Moment aber verwarf ich diese Überlegung. Mann, war ich aber oberflächlich! Das war ja fast so, als ob die Mädchen, die über mich getuschelt hatten, Recht gehabt hatten!

"Und wie sollen wir das denn anstellen?" Irgendwie begriff ich heute nichts ohne Hilfe.

Er lächelte, als würde er wissen, was ich gerade gedacht hatte.

"Ich werde dich provozieren. Das hilft immer bei Neugeborenen, um ihre Kräfte herauszufordern. Falls du mich dann wirklich angreifen willst, bin ich vorbereitet."

Ich starrte ihn fassungslos an.

Mich .. Provozieren?! War ihm klar, dass mein Temperament sehr leicht und sehr heftig zugleich aus mir herausbrechen konnte und dass ich stärker war als er? Wusste er, dass diese Aktion wirklich gefährlich für ihn werden konnte?

Ich schüttelte vehement den Kopf.

"Nein! NEIN! Das machst du nicht! Du weißt nicht, wo das hinführen könnte. Du vergisst, ich bin Italienerin!"

Mit einem Schmunzeln verkündete er: "Das wird überbewertet. Selbst von Italienern."

"Ach, glaubst du, dass du Italiener besser kennst, als Jemand wie ich, der Zeit seines Lebens von Italienern umgeben war? Schließlich bin ich selbst Halbitalienerin! Glaubst du nicht, dass ich das besser einschätzen kann?!", regte ich mich sofort auf, stockte und dann lachte ich, weil ich wusste, was er gerade mit mir machte. "Das funktioniert nicht bei mir, Seraphin. Ich weiß, was du vorhast!"

Er lachte ebenfalls.

"Aber ich muss es tun, verstehst du? Anders geht es nicht", erwiderte er entschlossen und unerbittlich. "Es sei denn..", murmelte er plötzlich nachdenklich, blickte mir dabei tief in die Augen. Es schien, als könnte ich in ihn hinein schauen, die unerforschten Tiefen seines Verstandes und die Berge und Abgründe seiner Seele sehen.

Es war ein berauschendes Gefühl und dann spürte ich plötzlich noch etwas anderes. Etwas zog mich zu ihm hin, etwas in meiner Magengrube zog und zerrte an meinem Körper, um mich vorwärts zu bewegen, aber nicht mit mir!

Augenblicklich änderte Seraphin die Strategie. Hatte er tatsächlich eine leise Ahnung, was meine Begabung sein konnte?

"Denk bitte einmal an deine Mutter, stell dir ihr Gesicht vor und versuche, jeden einzelnen Zug und jedes Detail bildlich wiederzugeben, zu einer Gestalt zu formen."

Was sollte das denn? Was beabsichtigte Seraphin mit dieser neuen Aufgabe? Trotzdem gehorchte ich seufzend. Immerhin sollte ich die Volturi aufhalten und alles, was meine Gabe zum Vorschein bringen konnte, half mir, in dieser Herausforderung einen Schritt weiterzukommen.

 

Ich soll mir meine Mutter vorstellen? Das ist doch nicht so schwer! Ich stelle mir einfach ihre honigblonden, langen Locken vor und ihre glitzernden, klugen Augen aus Smaragden. Und ihre Gesichtsform und ihre Züge sind auch nicht schwer, sich vorzustellen, immerhin sieht sie Douzen Kroes nicht unähnlich und das ist mein Lieblingsmodel!

 

Sofort erschien mir das Gesicht meiner Mutter vor meinem geistigen Auge. Sie war die einzige Person aus meiner Vergangenheit, an die ich mich noch genau erinnern konnte. Vielleicht lag das daran, dass ich sie noch kurz zuvor gesehen hatte, bevor meine Verwandlung einsetzte.

Ein angenehmes Kribbeln breitete sich auf meinem Gesicht und meiner Kopfhaut aus, wanderte in Schüben über meine Augen, meine Nase, meinen Mund, mein Kinn.

"Mila! D-du!", hörte ich Serpahins vollkommen verwirrte, erstaunte Stimme ganz nah neben mir. "Du siehst aus wie deine Mutter! Ich wusste es! Du kannst deine Gestalt verändern!"

Er klang aufgeregt und erfreut. Unwillkürlich trat in mir ein lustiges Bild vor das Gesicht meiner Mutter, auf dem Seraphin als Clown geschminkt vor mir herumtanzte.

Ich lachte laut los und öffnete die Augen. Doch dann hielt ich inne. Meine Stimme hatte sich nach der Verwandlung zwar anders angehört, aber nicht so anders, wie sie jetzt klang. Ich erschrak, denn ich erkannte die Stimme meiner Mutter!

Vollkommen außer mir starrte ich in Seraphins Gesicht.

"Was-? Was passiert mit mir?", fragte ich und bemerkte nur im Unterbewusstsein, dass mein Gesicht wieder kribbelte und sich meine Stimme wieder normal anhörte, wenn man diese Stimme überhaupt normal und nicht übernatürlich nennen sollte.

"Du bist eine Gestaltwandlerin!", rief Seraphin und nahm mich in den Arm.

"Wie bitte?! Gestaltwandlerin?!" Ich war so betört von Seraphins Duft, der um meine Nase waberte, dass ich kaum noch denken konnte. Wieso musste dieser Typ mich auch nur so verwirren? Ich meine, wie stellte er das an? Niemand brachte mich so sehr aus der Verfassung wie er, weil ich nicht wusste, was er dachte und das machte mich wahnsinnig!

Seine starken Arme hielten mich sanft fest und er schien mich gar nicht mehr loslassen zu wollen. Jegliches Geräusch um uns herum war verklungen, kein Vogel zwitscherte, kein Wolf heulte in der bereits angebrochenen Nacht. Es gab nur noch uns.

Und ich starrte nur auf sein weißes T-Shirt, das seinen Körperbau vorteilhaft umspielte und seine Muskeln hervorhob, roch den herben Duft und driftete in unerreichbare Fantasiewelten ab.

Ich konnte es kaum glauben: Mila Signorelli, vor ein paar Tagen noch ein ganz normales Mädchen ist jetzt Vampir und Gestaltwandlerin. Ich bin ein Vampir, der seine Gestalt und sogar seine Stimme verändern kann. Unglaublich!

 

 

 

So verging die Zeit. Aus Tagen wurden Wochen, in denen wir als Nomaden durch Deutschland reisten und mich trainierten. Für einen Kampf, der für mich noch so weit in der Ferne lag, dass ich kaum glauben konnte, dass bereits ein halbes Jahr vergangen war.

Mittlerweile beschlich mich immer wieder ein seltsames Gefühl, wenn ich Seraphin ansah, doch ich konnte es nicht deuten. Es war stark und schwebte täglich in mir, als wolle es mich nie wieder loslassen, genauso wie Seraphin, wenn er mich einmal umarmte. Und in letzter Zeit umarmte er mich oft.

Ich hatte festgestellt, dass Vampire sehr wohl schlafen konnten, wenn sie nur wollten und erschöpft waren. Dann fielen sie in einen sogenannten Regenerationsschlaf, der bis zu dreizehn Stunden anhält. Diesen Schlaf benötigten Vampire jeden Monat in der Vollmondnacht, um ihre Kräfte wieder aufzufüllen und ihre Gabe am Leben zu halten. Fehlt ihnen dieser Schlaf, weil sie ihn irgendwie umgangen haben, wird ihre Haut porös und man wirkt mit der Zeit älter und älter. Die Kräfte werden weniger und der Verstand schrumpft. Dieser Schlaf dauert meistens jedoch nur zwei Stunden. Sobald der Mond wieder abnimmt, erhöht sich auch die Dauer der Stunden, die ein Vampir schläft, bis der Mond seine kleinste Größe erreicht hat. Nimmt der Mond wieder zu, verringert sich die Zeit, die der Vampir schläft, wieder. So einfach war das.

Ob die Volturi diesen Schlaf umgingen, aus Angst, ich würde kommen und sie holen? Immer, wenn ich daran dachte, musste ich unwillkürlich kichern.

 

Da ich hart trainierte und sich langsam erhebliche Fortschritte bemerkbar machten, schlief ich schon bald jeden Tag ein paar Stunden, manchmal mehr, manchmal weniger. Eines Nachts, in einer Vollmondnacht, wachte ich auf, blieb jedoch reglos auf dem Gras liegen, denn ich war wie erstarrt, als ich spürte, wie Seraphin hinter mir lag und seine starken Arme um mich schlang, sein Gesicht in meinem Haaren vergraben.

Das Ziehen und Zerren, dass ich mittlerweile fast pausenlos verspürte war nun so stark, dass ich all meine Kräfte benötigte, mich dagegen zu wehren. Es machte mir Angst, dieses Gefühl, mich so eng an Seraphin zu schmiegen, wie ich nur konnte. Doch ich wollte es nicht, aus irgendeinem Grund war ich dafür noch nicht bereit. Irgendetwas musste noch geschehen.

 

Wieso denn nicht, Mila? Du kennst ihn jetzt doch besser und er ist so süß! Außerdem passt er perfekt zu dir. Und denk doch nur an seine Augen!

 

Am liebsten hätte ich mich selbst geschlagen für die Worte der hinterlistigen Stimme in meinem Kopf. Es brachte mich aus der Verfassung, wenn ich über diese Sache nachdachte! Aber ich wollte mich nicht bewegen, ich wollte Seraphin nicht bei seinem Traum stören.

 

Gut, dann entscheide dich jetzt! Ja oder Nein?

 

Ich runzelte nachdenklich die Stirn. Ja, was wollte ich denn nun? Ja oder Nein?

Doch wie ich es auch drehte und wendete, ich konnte keine exaktere Antwort darauf finden.

Also flüsterte ich in die Nacht hinein: "Jain!"

Alec

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

4. Teil - Alec - 

Das Mädchen mit der Geige

Es war wieder einmal später Nachmittag, der rund fünfhunderttausendste Nachmittag meines kläglichen Daseins und ich wartete neben Aro an die kalte Steinwand gelehnt auf unser Abendessen: Menschenblut. Was sollte es auch sonst sein? Ich muss jedoch zugeben, dass mein Alltag mittlerweile zu einem langweiligen und trostlosen Verweilen zwischen mittelmäßigen Vampiren geworden war. Ich wollte wieder umher ziehen, wie ich es vor hunderten von Jahren getan hatte, bevor die Volturi mich und meine Schwester gefunden hatten. Es war, als würde etwas fehlen. Etwas, das mich beschäftigte, außer dass eben dies fehlte. Doch was es wirklich war; ich wusste es nicht einmal einzuschätzen!

Die hübsche, blonde Vampirin - deren Name ich mir noch nie hatte merken können, ich glaube er begann mit S - betrat den Saal, gefolgt von einer Schar Touristen, die noch einen Moment glauben durften, sie wären nur Mitglieder einer harmlosen Touristengruppe, die alte Gebäude von Volterra besichtigte, bis sie uns erblicken würden. Ein boshaftes Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus und ich fokussierte mein Denken auf mein Ziel: Ein schönes, rothaariges Mädchen Anfang zwanzig, keine dreißig Meter von mir entfernt.

Um mich zu vergewissern, dass ich zuschlagen durfte, blickte ich in Richtung Aro, der gierig grinsend nickte und sprach: "Willkommen, meine Freunde!" Und an seine Gefolgsleute gewandt zischend fuhr er fort: "Lasst mir ein Paar übrig!"

Und zischte ich los, betäubte mein hübsches Opfer und biss erleichtert zu. Ich seufzte zufrieden, als sich mein Mund mit der süßen, warmen Flüssigkeit füllte. Die junge Frau brachte nur ein verzweifeltes Gurgeln zustande, ehe sie im nächsten Moment schlaff und tot zu Boden stürzte. Ein alter Mann zu meiner Rechten kauerte sich vor Schrecken zusammen, soweit seine steifen Gliedmaßen es ihm noch erlaubten. Ich gluckste leise und riss den Mann in einer einzigen, eleganten Bewegung hoch. Dieser keuchte vor Entsetzen auf und starrte in mein Gesicht, das ihm erbarmungslos entgegenblickte und er schüttelte fast ohnmächtig den Kopf. Als ob sich sein Schicksal dadurch ändern würde!

Nach wenigen Augenblicken waren die Schreie und Spritzgeräusche in der Halle verklungen. Stille legte sich über die Vampire in ihrer Mitte. Jane, meine Schwester wischte sich mit dem Zeigefinger einen Rest Blut von den Lippen und nahm ihn in den Mund, während sie mich mit diebischem Vergnügen in den blutroten Augen musterte. Ihren Blick erwidernd, richtete ich mich zu voller Größe auf, wandte meinen Blick zu Aro, der meine stumme Frage verstanden hatte und mit einem Nicken bejahte. So ging ich aus dem Saal, hinaus in meine Freiheit auf Teilzeit.

Der Marktplatz von Volterra leuchtete mir strahlend hell entgegen, als ich aus einer dunklen, schmalen Gasse stieg und mir die dunkle Kapuze über den Kopf zog. Menschenmassen drängten sich mir entgegen, hielten sich mit keinem einzigen Blick an mir auf und nach wenigen Sekunden, die für mich wie eine Ewigkeit waren, waren sie vorüber.

Wie ich so durch die Gassen lief und mir ein mögliches Opfer zum Nachtisch suchte, hatte ich das Gefühl, dass etwas in mir nach meiner Aufmerksamkeit verlangte. Abrupt blieb ich stehen und lauschte. Ein Klang, der nicht von dieser Welt zu sein schien, drang an meine Ohren und benebelte meine Gedanken. Eine übernatürlich schöne Melodie waberte durch jede einzelne Faser meines Körpers und erfüllte mich mit einem Gefühl, das an Trance erinnerte.

 

Was war das?

 

Ich schloss die Augen, durch die ich immer noch schemenhaft meine Umwelt erkennen konnte und ging der Musik entgegen, ohne überhaupt nachzudenken, ob es vielleicht fahrlässig wäre und mich in eine Falle locken könnte.

Auch wenn ich nicht besonders musikalisch gewesen war - noch nie - konnte ich automatisch sagen, welche Töne gespielt wurden. Am häufigsten war da ein Cis, dann ein Gis und ein A. Und doch konnte ich die Musik nicht deuten. Sie war geheimnisvoll, traurig und schön zugleich und ein solches Gefühl hatte ich noch nie in meinem Inneren verspürt. Ein Gefühl von Mitleid und noch etwas Anderem.

Als ich um eine Ecke bog und meine Augen wieder öffnete, da die Musik nun am lautesten klang, erblickte ich in einer dunklen Gasse eine junge, brünette Frau, die auf einer Geige spielte, mit geschlossenen Augen. Sie schien mich nicht bemerkt zu haben, erst, als ich mich ihr näherte und direkt vor ihr stand, öffnete sie die Augen und ich blickte in ein glühendes Feuerrot.

Nach einer Weile sperrte ich den Mund auf, nachdem ich mich zwingen musste, aus diesem Trance zu erwachen, den diese Augen verursachten und fragte: "Wer bist du?"

"Hm, ich glaube nicht, dass du das wissen musst", grinste sie, ohne ihrem Geigenspiel ein Ende zu bereiten. In diesem Moment, in dem sie dies aussprach, glitzerten ihre blutroten Augen als wären sie Teile des Himmels bei Nacht - übersät mit Sternen.

Ich schnaubte.

"Dann erfährst du auch den meinen nicht!", entgegnete ich, um ihr einen verbalen Schlag zu verpassen, doch sie grinste weiter, sogar noch breiter, sodass ich jeden einzelnen, spitzen weißen Zahn sehen konnte.

"Wieso sollte ich deinen Namen erfahren wollen?"

"... Darum?!", brachte ich verzweifelt heraus.

 

Alec, verdammt, was tust du da überhaupt?!

 

Ihr helles Lachen, das wie Glockenschläge klang, hallte durch die dunkle Gasse und schien sie um einen Bruchteil zu erleuchten. Hell, überirdisch und schön.

"Nun gut, mein Name ist Arianna Marcia Sabatini. Kennst du Gaetano Sabatini? Ein italienischer Maler und mein Vater, aber er ist längst tot. Und nun, wer bist du?"

"Alec... Einfach nur Alec."

"Schöner Name."

"Deiner auch."

Sie lächelte.

Nach einer Ewigkeit des Schweigens, während wir uns einfach nur anstarrten und sie weiterspielte, fuhr ich fort.

"Hast du irgendeine Gabe?"

"Ja, ich bin ein Schutzschild", antwortete sie selbstgefällig. "Und was kannst du?"

"Hm, ich kann's nicht richtig beschreiben, aber zeigen kann ich's dir", sprach ich und grinste in mich hinein. "Es wird nicht wehtun, ich verspreche es dir."

Arianna nickte mutig und sah mir tief in die Augen, sodass mir warm ums Herz wurde.

Nun konzentrierte ich mich auf meine Gabe, den sanften Nebel, der sie zu umarmen begann und sie erblinden ließ und sie wehrlos machte. Doch sie feixte nur süffisant.

"Soll das alles gewesen sein?"

 

 

Ach, Mist! Ganz vergessen, dass sie ein Schutzschild ist! Aber wie? Bisher gab es nur eine Person, die meiner Gabe gewachsen gewesen war. Und das war...

 

"Hey!!", schrie sie, als ich sie unverhofft packte und hinter mir her zog, aber ich achtete nicht auf ihren Protest. Das musste Aro erfahren, sofort!

 

 

"Aro, das ist Arianna Marcia Sabatini, sie ist ein Schutzschild", sagte ich, sobald wir den Saal betraten.

Prompt waren alle Augen auf meine Begleitung gerichtet, die sich endlich von mir lösen könnte, aber nur, weil ich es ihr erlaubte.

"Ein Schutzschild, also?" Man konnte Aros Augen durch den ganzen Saal aufleuchten sehen. "Bring sie zu mir, mein Freund."

Gesagt, getan. Die schöne Vampirin stand nun vor dem obersten der Vampir und verbeugte sich ehrfürchtig.

"Herzlich willkommen, Arianna. Nun, was führt dich zu mir?"

Arianna drehte sich um, deutete auf mich und sprach: "Der da hat mich urplötzlich bei meinem Geigenspiel unterbrochen und mich dann einfach hierher geschleift!"

Ich blickte sie bitterböse an, doch sie verkniff sich nur ein freches Grinsen.

 

Elende Petze!

 

"Aber, aber, Alec. Das war nicht die feinste Art!", tadelte Aro und Arianna wandte sich wieder ihm zu.

"Na ja, dies tut nichts zur Sache, dass ich ohnehin zu Euch wollte. Ich habe von Eurer Gabe gehört, Aro. Bitte, ich beweise Euch, dass es bei mir nichts bewirkt!" Sie streckte entschlossen ihre Hand aus.

Für einen Moment wirkte Aro recht überrascht, nahm dann aber die Hand der Vampirin an. Ein Zischen drang Jane über die Lippen, doch Aro winkte ab. Ich blickte sie aufmunternd an und gesellte mich zu ihr, um Arianna ins Gesicht schauen zu können, während sie mit Aro sprach. Jane funkelte nur böse zurück.

Nach zehn Sekunden, die für mich wie Jahrtausende dauerten, löste Aro seine Finger erneut und beide ließen ihre Hände sinken.

"Das ist unglaublich! Ich sehe nichts! Faszinierend, dass ich so etwas schon einmal..." Er brach nachdenklich ab. "Könnte es sein, dass manche Gaben häufiger auftauchen, als andere? Dass es mehrere Vampire gibt, die die gleiche Gabe besitzen? Wenn das möglich wäre, gäbe es vielleicht eine Möglichkeit... Ja."

Etwas blitzte in Ariannas Augen auf, was ich nicht vermochte zu deuten. Diese Frau war anders, ganz klar. Und ich hatte das Gefühl, dass sie ein Geheimnis verbarg, doch aus irgendeinem Grund war ich nicht in der Lage, Aro oder irgendeinem anderen - nicht einmal meiner Schwester - anzuvertrauen, was ich zu wissen glaubte.

Mila

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

5. Teil - Mila - 

Die Volturi

Wir hatten alles geplant. Monatelang hatte Seraphin mich trainiert und belehrt und dennoch hatte ich das Gefühl, dass wir zuvor noch etwas hätten klären müssen. Zwar umarmte er mich oft, ärgerte mich und war eifersüchtig, weil ich mich unter so viele männliche Vampire mischte, weil er dachte, es würde genauso sein wie bei Julian und trotz meiner ganzen Kenntnisse über ihn und seine Gedanken, die mich bestrafen und wahrscheinlich auch seine Gefühle, liefen wir in diesem Punkt nur auf der Stelle. Und nun war ich hier in Volterra, ohne ein Ergebnis und ohne Gewissheit.

Sogar Geige spielen hatte ich für unseren großen, einsteigenden Coup lernen müssen! Und doch war im Gegensatz dazu das Bedürfnis, den Satz mit den drei Worten auszusprechen eine schwierigere Aufgabe, als das Können, das man sich eigentlich in vielen Jahren aneignete, in nur zwei Monaten zu erlernen.

Also hatte ich es auf einen indirekten Weg gefunden, meine Gefühle offen zu zeigen. Doch jetzt war jetzt: Ich musste die Volturi von innen heraus zerstören. Meine eigenen, kleinen Problemchen waren nur nebensächlich.

Ich atmete tief ein und aus, als die Glocke des Kirchturms halb zehn Uhr morgens schlug. Hoffentlich war Alec heute wieder um diese Uhrzeit unterwegs. Als das Lied zu seinem Höhepunkt kam, spürte ich die Anwesenheit eines anderen Vampirs. War es Alec oder jemand anderes? Doch als ich die Augen öffnete, sobald ich wusste, dass der fremde Vampir direkt vor mir stand, blickte ich in dunkelrot funkelnde Kristalle. Der Vampir hatte blonde Haare und trug einen melancholischen Ausdruck im Gesicht.

"Wer bist du?"

"Hm, ich glaube nicht, dass du das wissen musst", grinste ich, ohne meinem Geigenspiel zu bereiten.

Ich wusste, dass er derjenige war, den ich heute anzutreffen erhoffte. Also ging ich über in den zweiten Schritt unseren unseres Plans.

Alec schnaubte verächtlich.

"Dann erfährst du auch den meinen nicht!", entgegnete er, womöglich um mich einzuschüchtern. 

Das musste er aber noch etwas üben, denn ich kannte weitaus bessere Experten auf diesem Gebiet.

"Wieso sollte ich deinen Namen erfahren wollen?", fragte ich also grinsend.

"... Darum?!", brachte er hilflos heraus.

 

Was für ein Idiot. Und der soll einer der beiden Killergeschwister sein? Also an Hirn hatte der nicht viel abgekriegt! Das wird ja dann ein leichtes, die Volturi zu zerstören!

 

Ich lachte auf diesen Gedanken schadenfroh. Mann, war ich fies geworden!

"Nun gut, mein Name ist Arianna Marcia Sabatini. Kennst du Gaetano Sabatini? Ein italienischer Maler und mein Vater, aber er ist längst tot. Und nun, wer bist du?", fuhr ich nun fort, um zu Potte zu kommen.

Natürlich hatte ich einen anderen Namen gebraucht, denn Seraphin und ich waren uns sicher, dass sie meinen echten Namen kannten. Und um diesen Namen noch glaubwürdiger zu machen, hatte ich mir einen Namen mit Vorgeschichte ausgesucht. Und dieser Name stach in meinen Gedanken hervor, da mein Vater die Bilder von Sabatini liebte.

"Alec... Einfach nur Alec", antwortete Alec knapp.

"Schöner Name." Er wusste schließlich nicht, dass ich seinen Namen bereits kannte. Also einfach mal so tun, als würde ich diesen Namen schön finden.

"Deiner auch."

Ich lächelte. Mein Schauspielunterricht hatte also doch etwas bewirkt! 

Nach einer Ewigkeit des Schweigens, während wir uns einfach nur anstarrten und ich weiterspielte, führ er fort: "Hast du irgendeine Gabe?"

"Ja, ich bin ein Schutzschild", antwortete ich selbstgefällig und fügte in Gedanken hinzu: Und noch vieles mehr. "Und was kannst du?"

"Hm, ich kann's nicht richtig beschreiben, aber zeigen kann ich's dir", sprach er und grinste in sich hinein. "Es wird nicht wehtun, ich verspreche es dir."

Ich nickte mutig tuend und sah ihm tief in die Augen, schließlich wusste ich, dass mit mir nichts passieren würde.

Als er nun eine Weile so da stand, die Augen konzentriert geschlossen hielt und darauf wartete, dass sich meine Sinne verabschiedeten, dachte ich weiter nach. Ich musste überlegen, mit wem ich mich gutstellen wollte. Alec konnte wahrscheinlich ein guter Behüter sein, aber ich musste Jane loswerden und zwar so, dass Aro sie hassen wird. Vielleicht werde ich durch ihren Bruder des Rätsels Lösung finden.

Als er nach einer Weile verwundert die Augen öffnete und mich anstarrte, als sei ich eine Göttin oder so etwas, feixte ich nur süffisant und fragte: "Soll das alles gewesen sein?"

Nun schien er sich daran zu erinnern, dass ich ein Schutzschild war. Was für ein Holzkopf! Aber er könnte mir nützlich sein.

"Hey!!", schrie ich völlig überrumpelt, als Alec mich plötzlich packte und hinter sich her zog, ohne auf meinen Protest zu achten. Was hatte der Typ nur auf einmal?!

 

"Aro, das ist Arianna Marcia Sabatini, sie ist ein Schutzschild", sagte Alec, während er mich in den Saal hinein zerrte. 

Prompt waren alle Augen auf mich gerichtet, was in mir ein Unbehagen auslöste, das ich jedoch nicht nach außen hin zeigte. Ich riss mich von Alec los und blickte Aro direkt ins Gesicht.

"Ein Schutzschild, also?" Man konnte Aros Augen durch den ganzen Saal aufleuchten sehen. "Bring sie zu mir, mein Freund."

Gesagt, getan. Er beförderte mich vor Aros Füße und ich stand vo dem obersten der Vampire und verbeugte mich.

"Herzlich willkommen, Arianna. Nun, was führt dich zu mir?"

Ich drehte mich um, deutete auf Alec und sprach: "Der da hat mich urplötzlich bei meinem Geigenspiel unterbrochen und mich dann einfach hierher geschleift!"

 

Das ist die Strafe für deinen plötzlichen Überfall, du Idiot! Mich zerrt man nicht einfach so irgendwohin und kommt dann unbeschadet davon!

 

Er blickte mich bitterböse an, doch ich verkniff nur ein freches Grinsen.

"Aber ,aber, Alec. Das war nicht die feinste Art!", tadelte Aro und ich wandte mich wieder ihm zu. 

"Na ja, dies tut nichts zur Sache, dass ich ohnehin zu Euch wollte. Ich habe von Eurer Gabe gehört, Aro. Bitte, ich beweise Euch, dass sie bei mir nichts bewirkt!" Ich streckte entschlossen meine Hand aus. Ich wusste ja, dass er mir nichts anhaben konnte und das würde meine Glaubwürdigkeit, dass ich ein harmloser Schutzschild war, vielleicht verstärken. Ich könnte es jetzt tun, ihn töten und seinen beiden Gefährten und die Ära der italienischen Macht über die Vampire wäre gebrochen. Doch das war mir entschieden zu anstrengend und es würde mich mehr befriedigen, Aro langsam in Qualen sterben zu sehen. Wenn ich irgendwann einmal die Möglichkeit hatte, werde ich Aro eine falsche Erinnerung von mir zeigen, sodass er von mir und meinen guten Absichten überzeugt ist. Der wird noch staunen, wenn ich ihn langsam vergiften werde und er bald niemanden mehr hat, der ihm hilft!

Für einen Moment wirkte Aro recht überrascht, nahm dann aber meine ausgestreckte Hand an. Ein Zischen drang Jane über die Lippen, doch Aro winkte ab. Innerlich lachte ich schallend. Ich war Jane noch nie zuvor begegnet und konnte trotzdem jetzt schon behaupten, dass ich sie nicht auf den Tod ausstehen konnte - ich hasste sie genauso sehr wie Caius. 

Nach zehn Sekunden, die ich nur gelangweilt in Aros Augen blickte, aber immer noch versuchte, die Fassade der Arianna aufrecht zu halten, ließ Aro meine Hand erstaunt los und ich ließ die meine sinken.

"Das ist unglaublich! Ich sehe nichts! Faszinierend, dass ich so etwas schon einmal..." Er brach nachdenklich ab. "Könnte es sein, dass manche Gaben häufiger auftauchen, als andere? Dass es mehrere Vampire gibt, die die gleiche Gabe besitzen? Wenn das möglich wäre, gäbe es vielleicht eine Möglichkeit... Ja."

Wenn der wüsste!, lachte ich in Gedanken. Der würde ausflippen, wenn er die Wahrheit wüsste. Ich werde sein wertvollstes und treuestes Sammlerstück sein und doch werde ich es sein, die ihn töten wird. Mach nur weiter, Aro, du rennst in deinen eigenen Tod!

 

Nun saß ich auf meinem neuen Himmelbett, das perfekt in das Rot und Schwarz gehaltene Zimmer passte. Es war eigentlich ein sehr schöner Raum; weit und geräumig und trotzdem so düster. Düster wie jede Seele in diesen Gemäuern. Ich hoffte, dass unabhängig von meiner dahin gelogenen Persönlichkeit meine Seele nicht auch zu so etwas Finsterem verkommen würde.

Ich stand auf und lief zu meinem neuen Kleiderschank, der so groß war wie mein ganzes Zimmer in Deutschland. Doch im nächsten Moment gefror mein überraschtes Grinsen zu einer entsetzten Grimasse. Im ganzen Schrank hing nur ein Kleid?! Was waren das denn für Vampire, die einen riesigen Kleiderschrank besaßen, aber nur ein Kleid? Das hieß shoppen und zwar auf der Stelle!

Hastig lief ich aus meinem Zimmer, ohne das Kleid noch ein zweites Mal anzuschauen und machte mich auf den Weg in den großen Saal. Als ich dort eintraf, roch ich frisches Blut. Schnuppernd ließ ich meinen Blick durch den prunkvollen Raum wandern und erblickte mehrere schon ausgesaugte Leichen.

"Oh, Arianna. Wie es aussieht hast du das Abendessen verpasst!", ertönte Aros erstaunte Stimme vor mir.

Ich blickte auf. "Ja, sieht ganz danach aus. Ich wollte Euch etwas fragen, Aro. Ihr müsst wissen, dass ich ein sehr modebewusster Vampir bin, weshalb ich unbedingt etwas gegen einen gähnend leeren Schrank in meinem Zimmer unternehmen muss. Erlaubt ihr mir, ein paar Kleider zu besorgen? Es ist fast dunkel, es wird niemand merken", sprach ich ruhig.

Ich wusste zwar nicht, ob es klug war, direkt wieder zu fragen, ob ich ausfliegen durfte, aber dadurch würde sich meine Laune wieder bessern, das wusste ich.

Aro sah mich forschend an. "Mir wäre es lieber, wenn du eine Zeit lang hier bliebest, damit ich dich besser kennenlernen kann, doch wenn dies ein so dringendes Problem ist, dann können wir vielleicht einen Kompromiss eingehen. Alec, begleitest du sie?"

Warum musste ausgerechnet Alec mit? Da war ich nun, so kostbar für die Volturi, dass man mir sogar einen persönlichen Babysitter zuwies. Ich konnte mir vorstellen, dass er ein Verbündeter sein könnte, jedoch hieß das noch lange nicht, dass ich ihn mögen musste. Alec trat aus den Schatten neben den drei Thronen, auf denen Magnus, Caius und Aro saßen, unverändert wie bei meiner Ankunft mit einem leeren, leicht melancholischen Ausdruck im Gesicht und gesellte sich neben mich, stumm und nickend wie ein Fisch. Ich grinste. Alles nur Idioten, die wie kleiner Hündchen hinter alten, verquatschten, faulen und dummen Greisen her trotteten. Was für Schwächlinge!

"Ist das in Ordnung für dich, Arianna?", fragte Aro plötzlich und beendete damit meinen Gedankengang abrupt.

"Ähm, gewiss doch. Ich werde Alec auch nicht lange aufhalten. In drei Stunden bin ich spätestens wieder zurück!", erwiderte ich schnell, drehte mich um und schritt - gefolgt von Alec - hinaus aus dem Saal.

Kaum hatte ich das dunkle Pflaster der Straßen von Volterra betreten, stürmte ich auch schon davon. Alec würde mir schon hinterherkommen und wenn nicht, so war das nicht meine Schuld. Ich shoppte nun mal auf meine Art.

Sobald das Fenster im Hinterhof einer kleinen Boutique zerbrochen war, so leise, dass es selbst den großen Pitbull nicht geweckt hatte, der geschätzte acht Meter weit von mir entfernt schlief, stieg ich schon leichtfüßig hinein und blickte mich im Halbdunkel des Mondlichts um. Ich mochte Pitbulls, auch wenn ich nie einen hätte besitzen wollen. Ich war zwar nicht ganz Hundemen- äh Hundevampir, aber auch nicht ganz der Katzentyp. Ich mochte beides. Das Geräusch, das Alec verursachte, als er weniger geschickt wie ich durch das Fenster kletterte, war ohrenbetäubender Lärm im Vergleich mit der schläfrigen Stille, die herrschte. Ich zischte mahnend. Alec warf mir im Vorbeigehen einen entschuldigenden Blick zu und zuckte die Achseln. Ich tat es ihm gleich, als ich mich vergewissert hatte, dass der Pitbull immer noch von einem Berg Knochen träumte und stürzte mich regelrecht auf die Kleidung, die an den Stangen hing. 

Vollbeladen machte ich mich daran, jedes Kleidungsstück einzeln auf dem freien Boden zu verteilen, warf hin und wieder eines auf einen kleinen Hügel mit den Sachen, die ich aussortierte und ignorierte den überraschten und belustigten Ausdruck auf dem Gesicht meines Begleiters, der sich das ganze Spektakel von einem der Regale aus ansah, direkt über dem schnarchenden Pitbull.

Nach zehn Minuten war ich fertig und packte den kleinen Berg mit Kleidern, die ich schließlich mitnehmen würde in eine der gigantischen Einkaufstüten, die unter der Kasse lagen. Alles andere, was auf dem Boden lag, legte ich über eine der Kleiderstangen, die unter dem zusätzlichen Gewicht zu wanken begann. Ich schnalzte mit der Zunge, um Alec ein Zeichen zu geben, dass ich hier fertig war, nahm die Tüte und gelangte durch das zerbrochene Fenster wieder hinaus. Wenn Alec glaubte, dass das schon das Ende war, dann musste er  schon bald darauf erfahren, dass ich gerade erst warm wurde. Doch er ließ sich nichts anmerken und folgte mir geistesabwesend. Ich würde nur zu gerne wissen, was in ihm vorgeht, doch Gedankenlesen konnte ich leider nicht - noch nicht. In den letzten Monaten bevor ich ohne Seraphin nach Volterra aufgebrochen war, hatten wir gemeinsam meine wahre Gabe herausgefunden. Und das war auch nur durch Zufall geschehen, denn ich hatte mir sehnsüchtig gewünscht, selbst die Zeit still stehen lassen zu können, damit ich Zeit zum Nachdenken hatte. Alec bemerkte auch jetzt nicht, dass ich mir diese Fähigkeit zu Nutze machte.

Um wieder zu meiner Gabe zurückzukommen: ich war eine Gabenkopiererin und konnte - wie man sich gut selbst denken kann - alle Gaben derjenigen Vampire kopieren, die ich berühren konnte. So war ich auch in den Besitz von Alecs und Aros Fähigkeiten gelangt. Mein eigentliches Ziel war es zunächst, Jane mit ihrer eigenen Gabe außer Gefecht zu setzen. Zu gerne hätte ich ihr Gesicht gesehen, wenn sie begriff, dass sie mit ihrer eigenen Waffe geschlagen wird. Jedoch hatte meine Gabe auch eine Schwachstelle. Ich konnte zwar Gaben kopieren, doch sie blieben eben nur eine Kopie, zwar eine Gute, doch es gab immer eine Möglichkeit, diese Kopie zu zerstören. Ich war ein Vampir, für den der monatliche Schlag überlebenswichtig war. Wurde ich dabei gestört oder gar daran gehindert, konnte ich all meine gesammelten Gaben verlieren, bis auf eine weitere: Die Gestaltwandlung. Von Seraphin hatte ich erfahren, dass einer meiner bereits verstorbenen Großväter bemächtigt gewesen war, sich in einen mächtigen Wolf zu verwandeln. Das Vampirgift hatte jedoch keine Schäden zurück gelassen, vermutlich weil ich größtenteils ein Mensch gewesen bin und nicht fähig war, mich in einen Wolf zu verwandeln.

Mittlerweile hatten wir einen Schuhladen betreten - auf dieselbe Weise wie zuvor - und ich hielt bereits schwarze Plateaus in der Linken und Hautfarbene in der Rechten. Bald darauf hatte ich keinen Arm und keinen einzigen Finger mein frei, um eine weitere Tüte zu tragen. In dieser Hinsicht war Alec überhaupt kein Gentleman, da er nur teilnahmslos neben mir her wanderte, als gehöre er nicht zu mir und würde mich gar nicht bemerken. Sehr hilfreich, aber er war ja nicht zum Taschentragen abgerichtet worden ,als er den Befehl erhielt, mich zu bewachen.

"So, ich glaube, jetzt habe ich genug für's Erste", murmelte ich leise, mehr zu mir selbst.

"Für's Erste?!", entrüstete sich Alec entgeistert. "So viele Klamotten hat nicht einmal Jane in den ganzen Jahren auf einmal angeschleppt!"

"Jede Frau ist ein Individuum", entgegnete ich nur abwesend. Ich konzentrierte michj auf die große Turmuhr, die ich vom Marktplatz aus erkennen konnte. Da ich die Zeit angehalten und Alec in diesen Raum mit eingebunden hatte, war es immer noch zwanzig nach zwölf.

 

"Ah da bist du ja wieder! Du meine Güte, hast du ganz Volterra ausgenommen?!", begrüßte mich Aro überrascht. 

"Nein, nein. Nur ein bisschen hiervon und davon..."

"Gut, du kannst jetzt gehen. Alec? Mit dir muss ich noch etwas besprechen, bleib noch kurz hier."

Ich ging wieder hinaus und betrat nach wenigen Augenblicken mein Zimmer. Doch wider Erwarten war ich nun nicht mehr allein. Jane saß auf meinem Bett und blickte mir vollkommen gelassen entgegen, ohne auf die Tüten zu achten, die ich vor Schreck fallen ließ.

"Hallo?", fragte ich zögerlich und blickte ihr direkt in die blutroten Augen.

"Hallo. Ich würde mich vorsehen an deiner Stelle. Wenn du dich zu sehr an Aro heranmachst, wird das Konsequenzen nach sich ziehen", sprach sie aalglatt mit einem kühlen Lächeln auf den Lippen.

"Wie bitte?", entgegnete ich verständnislos. Wieso kam mir Jane jetzt auf diese Tour? Getan hatte ich ihr jedenfalls noch nichts. Sie saß da, wie eine lebensgroße Puppe, mit eisigem Blick und das war gruseliger als alles, was ich jemals zuvor gesehen hatte.

"Du hast mich schon verstanden. Halte dich so weit es geht von Aro fern. Ich weiß, dass du etwas im Schilde führst und ich werde auch herausfinden, was. Also sehe dich vor. Ich kann dich jeder Zeit auffliegen lassen." Sie lächelte zuckersüß, sodass ich mir ein Würgen verkneifen musste.

"Wie kommst du darauf, dass ich etwas zu verbergen habe? Wenn du es genau wissen willst: Ich will mich rächen", begann ich.

"An wem?"

"Kennst du die Cullens?", fragte ich hastig, obwohl ich wusste, dass sie sie kannte. Sie nickte nachdenklich und hob die Brauen. "Nun gut. Ich war unterwegs mit meinem Gefährten Dorian. Wir wussten nicht, dass es die Quileute gibt, deshalb drangen wir unbewusst in ihr Revier ein. Also griffen sie uns an und die Cullens verteidigten sie, bis ein Wolf Dorian tötete. Natürlich war ich in Rage und versuchte genauso einen von ihnen zu töten, doch die Cullens hielten mich davon ab. Sie sagten, ich würde nur in meinen eigenen Tod rennen und vielleicht war das auch wahr, aber dass sie diesen Vertrag mit diesen Hunden haben... Sie hätten nicht tatenlos zusehen dürfen! Sie hätten ihre Art verteidigen müssen! Deshalb bin ich hier. Ich möchte sie ein bisschen leiden sehen." Ich bleckte meine Zähne. Dass mir so schnell eine andere Geschichte einfallen könnte hätte ich nicht gedacht. Und dass ich diese auch noch glaubhaft vermitteln würde sowieso nicht. Jane sah mich bestürzt an, doch dann wich ihrer Bestürzung und ein Ausdruck der Zufriedenheit glitt auf ihr Gesicht, auch wenn in ihrem Blick noch ein gewisser Unglauben lag.

"Dann haben wir wohl etwas gemeinsam. Ich kann die Cullens nämlich ebenso wenig leiden. Doch vielleicht ergibt sich bald auch eine Gelegenheit. Wir sind dabei, ihnen irgendetwas anzuhängen und das kann nicht mehr lange dauern. Giulia meinte, bald würde Etwas geschehen." Und auf meinen fragenden Blick fuhr sie fort: "Giulia kann nicht wirklich sehen, was passieren wird. Sie hat keine Visionen, aber sie kann fühlen, ob bald etwas geschehen wird, wenn sie an bestimmte Dinge denkt. Nun, ich lasse dich mal auspacken. Wir sehen uns dann!"

Völlig perplex, dass Jane so schnell ihr Verhalten mir gegenüber geändert hatte, musste ich mich zunächst einmal setzen. Mir tat es sofort leid, dass ich die Cullens mit in meine Pläne hineingezogen hatte. Doch sie waren die Ersten gewesen, die mir so schnell in den Sinn gekommen waren.

 

 

Es war gar nicht mal so lange her gewesen, als ich den Volturi beitrat. Jane behandelte mich höflich, genauso wie Alec es tat. Und Aro schien sich vollkommen in mein Talent verliebt zu haben. Nun war ich diejenige, die Aro schützen würde. Nur eins verlief gegen den Strich: Die Volturi hatten wirklich vor die Cullens auszulöschen und ich musste tatenlos zusehen, wenn es soweit war. Jedoch schickte ich eine Mitteilung an Seraphin; wo auch immer er war, er würde sie schon bekommen. Wenn ich einmal eine Pause brauchte von all diesem Theater, das ich veranstaltete, ohne viel Aufmerksamkeit auf mich legen zu wollen, so ließ ich die Zeit stehen und wanderte hinaus aus der Stadt.

Mittlerweile hatte es auch hier angefangen zu schneien, wenn auch sehr wenig und es war nicht kalt genug, sodass der Schnee liegen bleiben konnte. Ich lief also durch den Wald, der weit entfernt von Volterra lag und blickte in den klaren, dunklen Sternenhimmel. Wie gerne würde ich ein sorgenloser Stern sein, der hinunter auf die kleine Erde blickte und nichts von ihrer Grausamkeit sah.

Jane lief zu Hochtouren auf, was ihre Vorstellungen von Rache anging, deren Bedürfnisse ich ja angeblich bei den Cullen zu stillen ersuchte. Manche davon waren wirklich ziemlich abartig. Ich konnte nicht verstehen, wie so ein Mädchen zu so einem Monster werden konnte. Doch diese Frage stellte ich mir nicht nur bei ihr öfter als gewollt. Nun hatte ich Seraphin seit einem halben Jahr nicht gesehen und ich vermisste ihn schrecklich. Aber ich durfte ihn nicht sehen, es war zu gefährlich. 

Abgelenkt durch meine Gedanken hatte ich gar nicht bemerkt, dass ich in mein Zimmer zurückgekehrt war, doch nun saß ich hier, starrte ins Leere und bemühte mich auch nicht mehr, die Zeit zu kontrollieren.

In dem Moment, als ich dies begriff, flog die Tür mit einem kräftigen Schwung und krachte gegen die Wand, flog fast aus den Angeln.

"Hey!", rief ich wütend, da mir nun ein tiefer Riss in der Tapete entgegen klaffte. Ich sprang fuchsteufelswild auf.

Es war Felix, der nicht weiter auf meinen Ausruf einging und mir mit einer Kopfbewegung zu verstehen gab, ihm zu folgen. Felix war ein breitschultriger Vampir. Ein Vampir, den ich nicht oft zu Gesicht bekam und von dem ich nicht wusste, was er konnte und ob er überhaupt etwas konnte. Doch wieso hätte Aro ihn sonst in seine Reihen aufgenommen? 

Wir schritten einen dunklen, steinernen Gang entlang, der zum Saal führte. Ich wusste schon, dass Aro mich sehen wollte. Er ließ mich nicht länger allein als drei Stunden. Sei es Misstrauen oder eine Art Sehnsucht nach meiner Fähigkeit - ich wusste es nicht, doch es störte mich ungemein.

"Arianna! Dir geht es gut, nehme ich an. Um sofort zum Thema zu gelangen... Ich habe einen Auftrag für dich und du wirst ihn ganz alleine erledigen. Jane hat mir erzählt, dass du die Cullens kennst? Nun, dann ist es somit deine Aufgabe, ihnen etwas näher zu kommen und herauszufinden, welche Leiche sie in ihren Kellern verstecken. Ich will nicht, dass mir eine Pleite wie vor fünfzig Jahren noch einmal geschieht. Du erteilst alle sieben Tage Bericht. Und du wirst sofort aufbrechen, wenn du etwas über die Cullens erfährst, verstanden?", sprach der Mittlere der drei obersten Vampire, sobald ich eintrat.

Ich war erstaunt, dass sie mir so viel Vertrauen entgegenbrachten. Und welche Pleite hatten sie denn vor fünfzig Jahren von den Cullens erhalten? Soweit ich Bella Cullen kennengelernt hatte, gab es auch nichts, was man ihnen hätte vorwerfen können. Doch ich musste tun, was Aro von mir verlangte, um in seiner Gunst bleiben zu können.

Also nickte ich. "Ich nehme an, ich soll sofort aufbrechen?", fragte ich ruhig und entschlossen.

"Ja."

Ich nickte erneut und wandte mich ab. Vielleicht konnte ich in den Cullens Verbündete finden, die mir im Kampf für bessere Herrscher halfen. Jedoch war ich mir da nicht so sicher. Es war immerhin ein sehr großes Risiko, dass dieser Versuch scheiterte und ich konnte gut verstehen, wenn sie vor fünfzig Jahren so etwas Ähnliches erlebt hatten, dass sie sich lieber in Frieden von solchen Angelegenheiten fernhielten.

In meinem Zimmer packte ich ein paar Kleider ein, zog mir eine dunkelblaue Chino und ein weißes T-Shirt mit pinkem Aufdruck an, über das ich einen dunkelblauen Blazer trug. Die braunen Ballerinas trug ich zwar nicht oft, aber es sah unschuldiger aus, als meine meterhohen Absätze.

Ich verabschiedete mich noch von Jane und Alec, obwohl man uns nicht unbedingt als Freunde bezeichnen konnte und verließ kurz darauf die Stadt, ohne ein einziges Mal zurück zu blicken, begleitet von einer Stimme in meinem Kopf, die mich fragte: "Werde ich jemals zurückkehren?"

Fahrlässigkeit ist auch eine Todesursache.

 Nun stieg ich in das Flugzeug nach Chicago ein. Als ich eintrat und nur auf mein Ticket schaute, um meinen Platz zu finden, bemerkte ich nicht den Mann, der direkt auf mich zu lief - ebenfalls vertieft in sein Ticket. Es kam wie es kommen musste: Wir stießen zusammen und ich ging zu Boden. Meine Sonnenbrille verrutschte und ich setzte sie mir hastig wieder auf die Nase. Wenn irgendjemand meine roten Augen sah, konnte ich direkt wieder aussteigen und den Weg durchs Meer nehmen. Das einzig Schwierige an dieser Flugzeugaktion war, dass ich zwischen so vielen Menschen saß, deren Hälse mir ahnungslos entgegenblitzten. Mit der Ader, die schwach pulsierte und von der der verführerische Duft kam.

"Scousi, habe ich ihnen weh getan?", fragte eine wohlklingende Männerstimme, bei deren Besitzer ich den Geruch von Blut vergeblich suchte. Also auch ein Vampir, da waren es schon mal zwei.

"Nein, es ist alles in Ordnung, vielen Dank", antwortete ich während ich den Vampir aufmerksam durch die dunklen Gläser begutachtete.

Strubbeliges, kastanienbraunes Haar und bernsteinfarbene Augen. Er war sehr muskulös und ragte über mir empor, als er mir half aufzustehen. Doch wieso versteckte er seine Haut nicht? In dem gleißenden Licht der Sonne sollte seine Haut Funken sprühen! Und doch; kein Herzschlag, kein Blut. 

"Wie heißen Sie denn, wenn ich fragen darf?"

"Arianna, und sie?"

"Mein Name ist Paolo. Freut mich, Sie kennenzulernen, Arianna." Er lächelte freundlich. Doch ich hatte das Gefühl, dass er etwas im Schilde führte und dass der Zusammenstoß keineswegs zufällig geschehen war. Er suchte das Gespräch mit mir. Außerdem war es merkwürdig, dass sein Gesicht nicht funkelte, wurde es doch von der Sonne erhellt. 

So wie wir uns anstarrten, hatte keiner von uns bemerkt, dass ein Flugbegleiter direkt hinter mir aufgetaucht war und uns mit dem Satz "Setzen Sie sich bitte auf Ihre Plätze." aus der tranceähnlichen Stille riss.

Ich nickte nur kurz und begab mich fügsam an meinen Platz. Der benachbarte Platz war immer noch frei, also stellte ich mich darauf ein, alleine zu sein. Doch im nächsten Moment ließ sich Jemand darauf nieder. Aus den Augenwinkeln erkannte ich Paolo.

"Was für ein Zufall, dass wir zusammen sitzen, nicht wahr?", begann er grinsend.

 

Von wegen Zufall! Ich weiß, dass du was im Schilde führst, also mach hier nicht auf scheinheilig und nett!

 

"Bist du vergeben?", fing er sofort an.

Innerlich verdrehte ich die Augen, blieb aber äußerlich vollkommen neutral, jedoch desinteressiert. "Na ja, so etwas in der Art schon. Nur sind wir voneinander getrennt", entgegnete ich monoton.

Er blickte mitleidig. "Das ist überhaupt nicht schön. Kann ich dir helfen, ihn zurück zu bekommen?"

Ganz sicher nicht!, schrie es in mir, doch ich zuckte nur die Achseln. Dass er mich sofort duzte, ging mir gegen den Strich. Wie aufdringlich dieser Typ war!

"Ich möchte jetzt etwas schlafen. War eine lange Reise bis hierhin", beendete ich die Unterhaltung gnadenlos.. Sie es nicht wert fortgesetzt zu werden.

Also tat ich so, als würde ich schlafen und konzentrierte mich erneut auf die Zeit, die zum Halten kam. Ich öffnete die Augen und sah jeden Menschen - auch den zwielichtigen Paolo - in der Bewegung erstarrt. Ich lächelte zufrieden.

 

Nun wollen wir doch einmal sehen, was du verbirgst!

 

Ich kramte in den Taschen seiner Jacke herum, fand jedoch nichts außer eine Zigarettenschachtel und einem Handy. Ich war mir nicht sicher, ob ich es einschalten konnte, wenn das Flugzeug stand, aber ich nahm einfach mal an, dass das ging. Ich drückte auf den Startknopf, doch es war bereits an und das Display leuchtete mir entgegen. Er hatte nicht einmal ein Passwort für den Sperrbildschirm? Fahrlässig, Paolo, sehr fahrlässig! Aber offenbar dachte er, man würde ihn sowieso nicht ausrauben können - Vampir und so. Ich öffnete den Posteingang. Dort waren nur SMS' von ein und derselben Person; einem gewissen Monroe. Stirnrunzelnd las ich die zuletzt eingegangene Nachricht.

"Haben deine Eltern dir nicht beigebracht, dass man nicht in fremden Handys schnüffelt, Mila?", ertönte Paolos Stimme.

Ich stieß einen überraschten Schrei aus und ließ beinahe das Handy fallen.

"Was-?!", stammelte ich, ohne die Frage aussprechen zu können. Wieso kannte dieser Kerl meinen richtigen Namen und wieso wirkte bei ihm Seraphins Gabe nicht?!

"Ich befürchte, dass du meine Fähigkeiten unterschätzt hast, nicht wahr? Du fragst dich jetzt sicherlich, wieso ich deinen Namen kenne. Ich schätze, das wirst du erfahren, wenn du diese SMS liest, die du gerade geöffnet hast. Aber ob ich das zulassen werde - das ist eine ganz andere Frage." Sein Lächeln war böse, heimtückisch.

"Wer bist du?", fragte ich bemüht ruhig. 

Dieser Kerl wusste, wer ich war. Dieser Kerl schien mich ohne Probleme gefunden zu haben. Dieser Kerl hatte meine Fähigkeiten weggefegt wie eine Feder, die vom Wind fortgetragen wird. Doch wie hatte er das geschafft? Dieser Kerl wusste genau, dass ich in dieser Situation nicht so einfach verschwinden konnte. Was wollte dieser Typ?

"Ich heiße Michael David Preston. Anscheinend gehe ich gut als Südländer durch, jedenfalls hast du mir diese Geschichte geglaubt, vielleicht nicht alles, aber genug. Ich glaube, das muss dir genügen. Was gedenkst du jetzt zu tun, Mila Signorelli, Tochter eines italienischen Restaurantbesitzers in Deutschland?" Er grinste wieder und ich wusste, dass er mir Angst einjagen wollte und meine Reaktion abwartete.

Ein Schauer lief mir trotz aller Anstrengungen, keine Regung zu zeigen, über den Rücken. Langsam wurde mir die Situation echt zu unheimlich - noch unheimlicher als die Situation bei den Volturi.

"Was willst du?"

"Willst du hier ein provisorisches Verhör starten? Mila, du verfehlst die Lage. Du bist nicht gerade in der Position, in der du dich überlegen fühlen kannst. Ich wurde beauftragt, dich gefangen zu nehmen, koste es was es wolle. Nur vernichten soll ich dich nicht. Den Anlass dafür wirst du schon bald erfahren."

Ich starrte ihn an - fassungslos und panisch. Wieso musste ich auch immer wieder in solche dämlichen Situationen stolpern, die mich in Gefahr brachten? Es schien, als läge ein Fluch auf mir. Aber das war doch blanker Unsinn. Vampire ja, aber so etwas wie Flüche oder Magie, soetwas wäre zu viel.

"So und jetzt schließt du die Augen, kleine Mila. Alles wird gut, es wird dir nichts geschehen."

Und im nächsten Moment wurde mir schwarz vor Augen.

 

Mein Kopf dröhnte und meine Glieder schmerzten. Ich hätte nie im Leben geglaubt, dass ich je wieder Solches fühlen konnte. Mit flatternden Lidern versuchte ich die Augen zu öffnen und nach einigen Versuchen gelang es mir auch, doch mein Blick war verschwommen und stumpf, meine Augen blickten in der Dunkelheit blind umher.

Mein Schädel war leer und ohne eine Ahnung, wo ich war, wartete ich auf irgendeine Veränderung. Dass etwas passierte. Doch nichts geschah, es blieb leise, dumpf, dunkel, leer und kalt. Kälter als meine Körpertemperatur, jedoch nicht so kalt, wie die kluftige, karge und düstere Landschaft im Innersten meines Herzens. Mit rasch wachsender Verzweiflung versuchte ich meine Hände zu bewegen, doch so stark ich auch zerrte und zog, meine Hände blieben gefesselt. 

Normalerweise hätte mich nichts und niemand aufhalten können, dich irgendetwas ließ mich erschauern, irgendetwas entzog mir meine Kräfte, ließ meine tiefsten Ängste wieder hervorfluten und die Schwäche Oberhand gewinnen. Und ich wusste nicht, was sie von mir wollten, hatte keine Ahnung, was ich ihnen hätte geben können. Ich wusste nicht einmal, wer sie waren und wie viele sich daran beteiligten. Ich wusste nur, dass ich hier nicht lange bleiben konnte, sonst würde Aro Verdacht schöpfen und Seraphin krank vor Sorge werden, was er vermutlich ohnehin schon war.
 Verzweifelt versuchte ich mich zu beruhigen und nachzudenken, doch ich wusste einfach nicht, wie ich mich aus diesem Schlamassel herauswinden sollte. Es gab nichts, an das ich mich festklammern konnte, nichts dass ich sehen oder fühlen konnte. Plötzlich fühlte ich nichts.

"Mila, Mila, Mila. Ich hatte dir doch gesagt, dass du uns bloß nicht in die Quere kommen solltest. Nun wirst du dafür bezahlen, was du bereits angerichtet hast. Caius ist unterrichtet und nichts und niemand wird dir mehr helfen können. Niemand. Es gibt Niemanden mehr, der dich retten würde, wenn er könnte. Seraphin ist tot und du wirst ihm bald folgen." Julians gackerndes Lachen schallte durch den anscheinend sehr großen Raum, doch ich konnte nur an Eines denken und dieser Gedanke stieß tausend Dolche in meine Brust und ließ nichts mehr zurück, nichts als Verzweiflung.

 

Seraphin - tot?! Nein, das darf nicht sein!!

 

Meine Augen wurden fürchterlich trocken und meine Kehle brannte, meine Kräfte schienen nun endgültig verloren. Wie sollte ich jetzt jemals die Kraft aufbringen können, die Volturi zu besiegen?

Julian schien auf mich zu zu kommen, seine Schritte wurden lauter. Er bemühte sich nicht Zeit zu sparen, er schien es zu genießen, mich so schwach vor sich zu sehen. 

"Arme Mila, man hat dich verlassen, deine Hoffnungen schwinden. Tut mir leid, aber ich werde versuchen, dir deine letzten Stunden so schmerzhaft wie möglich zu machen. Gewöhne dich schon mal daran hier drin zu sein. Es wird dein letztes Zuhause sein!"

"Julian, man ruft nach dir!", sagte eine Stimme, doch ich konnte sie nicht lokalisieren, geschweige denn sie einer Person zuordnen. Sie war fremd und ein unheimlicher Unterton begleitete ihre Worte. Ich erschauerte.

"Ich komme gleich wieder!" 

Mir war eins klar: Bis Julian zurückkommen würde, musste ich verschwunden sein. Doch wie sollte ich das anstellen? Irgendeine unsichtbare Macht fesselte mich auf den harten Boden und ich wusste nicht, wie ich diese umgehen konnte.

"Jared, pass gut auf sie auf bis ich wieder da bin, lass sie keinen Moment aus den Augen!", rief Julian Jemandem zu.

Dieser antwortete so klar und deutlich, dass er nur in meiner unmittelbaren Nähe stehen konnte, mit einem dunklen Grummeln und ließ das Schwächegefühl umso stärker werden. Dieser Jared war es also, der mir meine Kraft nahm, nicht nur die Tatsache, dass Seraphin tot sein sollte. Konnte ich dieser Aussage überhaupt Glauben schenken, wenn sie von Julian kam?

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seitdem Julian bereits fort war. Ich wusste nur, dass ich mir so schnell wie möglich etwas einfallen lassen musste, sonst wäre ich geliefert. Angestrengt versuchte ich, meine Gedanken zu sortieren und einen klaren Kopf zu bekommen. Es wollte nicht gelingen und vor Wut und Verzweiflung stieß ich ein aggressives Knurren aus. Kaum eine Millisekunde später wurde das bedrückende Gefühl noch stärker und zwang mich wieder zurück in meine unterworfene Haltung. Wenn ich hier raus wollte, musste ich stumm sein, ich musste so tun als würde ich mich mit meinem Schicksal abfinden, um im richtigen Moment zuschlagen zukönnen. 

Ich lehnte mich zurück gegen die kalte Mauerwand und entspannte mich, schloss meine Augen und konzentrierte mich ganz und gar auf die Zeit. Um zu prüfen, ob Jared reagierte, bäumte ich mich erneut auf und schrie, doch es kam keine Reaktion. Die Zeit anzuhalten schien also zu funktionieren. So hatte ich zumindest Zeit um nachzudenken. 

Gefühlte Stunden später, meine Kraft und Konzentration waren beinahe bis zur Gänze erschopft, war ich kaum einen Schritt weiter gekommen. Das Einzige, was mir klar geworden war, dass ich Julian ein letztes Mal ins Gesicht blicken wollte, bevor ich ihm durch die Finger glitt. Ich wollte sein Gesicht sehen, während er tatenlos zusehen musste, wie ich vor seiner Nase verschwand. Ich wollte ihm das Grinsen aus seiner Visage kratzen, ihn leiden sehen, so sehr wie ich unter ihm gelitten hatte. Mit ihm hatte alles angefangen und mit ihm würde meine Pein auch enden. Wie ich das anstellen sollte, würde mir schon noch einfallen, wenn es soweit war.

Somit ließ ich die Zeit wieder laufen und wartete auf Julian. Nun schien die Zeit noch langsamer zu verlaufen und ich begann erneut an meinen Fesseln zu zerren, einfach um etwas zu tun zu haben. Jared zischte leise, als ich nicht aufhörte, Krach zu machen und erhöhte erneut den Druck auf mich. Doch nun da ich merkte, wie die Fesseln sich langsam, doch immer weiter lockerten, bekam ich Hoffnung; Hoffnung darauf, dass ich noch eine Chance hatte. Mir war egal, wer diese Leute waren. Mir war sogar egal, was Caius nun, da er von mir wusste, unternehmen würde. Gewiss hatte er Aro davon berichtet und gewiss war Aro darüber alles andere als amüsiert gewesen. Zweifelsohne würde er seine eigene kleine Truppe zusammenstellen, um mich zu finden und zu töten, ganz gleich, was Caius bereits unternahm. Vielleicht hatte Caius ihm auch gar nichts von seinen kleinen Freunden erzählt. Vielleicht tat er so, als hätte ihm Jemand diese kleine, nützliche Information zugespielt. Doch es war klar, dass Aro in diesem Moment Wut speiend meinen Verrat erkennen würde und ich niemals wieder dorthin zurückkehren könnte, ohne von einer mordlustigen Jane erwartet zu werden.

"Sieh mal einer an, kleine Mila. Da hast du aber noch einmal Glück gehabt, dass der große Monroe dich sehen will. Also hopp, hopp! Ich muss dich zu ihm bringen," rief Julians Stimme plötzlich aus dem Nichts.

 

Der Mann, der hinter dem Tisch zu erkennen war, saß fast gänzlich im Dunkeln. Alles, was ich erkennen konnte, war ein grauer, teuer aussehender Anzug, der leicht im schummrigen Licht der kleinen Lampe zu schimmern schien, jedoch nicht zu seinem Gesicht vordringen konnte, trotz der guten Sicht, die meine untoten Augen mir verliehen. Monroe wollte sich also immer noch nicht vor mir zu erkennen geben.

"Setz dich, bitte", sagte er. Seine Stimme klang freundlich, doch ich wusste, dass er schlechte Absichten hatte, nicht nur, weil ich seine Gefangene war. Folgsam setzte ich mich trotzdem. "Also, Mila. Du bist also das Mädchen, das meinem Freund Caius so viele Sorgen bereitet." Nun beugte er sich vor, kam ins Licht und ich sah das schrecklichste Gesicht, das ich jemals zuvor erblickt hatte. Über seinen kompletten, kahlrasierten Schädel zog sich eine Narbe, die schlecht vernäht worden war und sein Gesicht deshalb wie eine Kraterlandschaft auf seinem Hals thronte. Seine Augen waren eisblau und doch rot und bohrten sich in die Meinen. Sein Mund war ein dünner Strich, der sich niemals zu einem Lächeln verkrümmte. Niemals zuvor hatte ich solch ein Gesicht gesehen, gar nach Horrorfilmen davon geträumt. Meine Erinnerungen an Schrecken und Horror waren nichts gegen das, was dieser Mann versprühte, welches Gefühl er mir gab, als gäbe es nur ihn und mich. Dieser Gedanke daran - er würde mich in jedem Augenblick töten. Ich musste nur noch warten, wann es soweit sein würde. Wäre ich noch ein Mensch gewesen, hätten mir Schweißperlen auf der Stirn gestanden, wäre mein Atem flach gegangen und meine Hände nass wie der tosende Wellenschlag, der auf sie träfe. In meinen Gedanken war nichts, dass mich hätte retten können; keine Hoffnung, keine Kraft und kein Lebensmut. Ich wollte einfach nur noch, dass es vorbei war. Ich konnte meinen Blick nicht von diesen toten, gnadenlosen Augen abwenden, die mich leblos und doch voller Hass anblitzten und mich in die Knie zwangen, ohne sein weiteres Zutuen. Er hätte mich hier und jetzt zum Selbstmord zwingen können, ich hätte ihm den Wunsch erfüllt aus Angst, mir könne Schlimmeres wiederfahren. Und wider aller Erwartungen dieses Mannes gelang es mir - zwar nach langem Kampf, jedoch schließlich erfolreich - mich von diesem Blick zu lösen und ihm zu antworten. "Wenn Caius meint, ich sei einfach nur ein Mädchen, dass ihm Sorgen bereiten kann und nicht mehr, weiß ich nicht, wie lange er noch am Leben bleiben wird. Diese Fahrlässigkeit ist zwar keine Straftat, jedoch auch eine Todesursache", entgegnete ich mutig, konnte mir aber nicht ein kurzes ängstliches Aufblicken zu Monroe verkneifen.

 

 

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Bildmaterialien: LoveWallpapers4u.Blogspot.Com
Tag der Veröffentlichung: 26.01.2014

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Sei Du selbst diese Veränderung, die Du Dir wünschst für diese Welt. - Mahatma Gandhi

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