Kornblumeneis erzählt eine kleine Geschichte von unsterblicher Liebe.
Beim Schreiben von Kornblumeneis hat mich die Musik von Unheilig begleitet. Lieben Dank an Der Graf für Deine Unterstützung meiner Inspiration!
Cover: Florian Jaedig
Coverfoto: Wald am Holmenkollen, aufgenommen von Daniel Jaedig
© Monika Jaedig
Alle Rechte vorbehalten, besonders das der unerlaubten Vervielfältigung und Verbreitung (auch auszugsweise) in sämtlichen Medien.
Kristiania (Oslo), 7. September 1899
Sonia ging in aufrechter Haltung über das Gelände der Universität. Die wenigen Kurven ihres schlanken Körpers versteckte sie unter einem schwarzen Anzug. Das lange weißblonde Haar hatte sie raffiniert verschlungen und unter einer Studentenmütze verborgen. Auf diese Weise als Mann getarnt, konnte sie sich unerkannt unter die Studierenden mischen und einen Augenschein nehmen.
Sie war nicht hier, um den Vorlesungen der Professoren zu lauschen. Sonia war auf der Suche nach einem kultivierten, gut aussehenden und gebildeten jungen Mann. So wie jener hochgewachsene, flotte Blondschopf mit den strahlend blauen Augen. Eine Locke fiel ihm keck ins markante Gesicht. Sein breiter Mund verzog sich immer wieder zu einem unwiderstehlichen Grinsen, das ebenmäßige Zähne aufblitzen ließ. Er roch sehr anziehend, nach reifer Gerste, ergänzt durch einen Hauch Birkenharz. Olaf wurde er gerufen, so viel wusste sie bereits, und er studierte Rechtswissenschaften.
Sie blieb ihm auf den Fersen, um ihn weiter zu beobachten. Setzte sich in denselben Hörsaal und ließ eine langweilige Vorlesung zum Thema Erbrecht über sich ergehen. In ihrer Welt brauchte man keine solchen Gesetze. Wenn sie etwas begehrte, nahm sie es sich einfach. So wie sie dem alten Geizkragen das stattliche Haus an der Josefinesgate abgeluchst hatte. Ein tiefer Blick in die verkniffenen Schweinsäuglein und flugs hatte er ihr seinen ganzen Besitz geschenkt. Nicht vererbt! Zum Dank hatte sie ihn ins Himmelreich befördert. Seine Nachbarn glaubten, er wäre zu seiner Nichte nach Bergen gezogen. Sie würden ganz bestimmt keine Nachforschungen anstellen, waren viel zu erleichtert, den ollen Griesgram endlich los zu sein.
Nach Ende der Vorlesung folgte sie Olaf in die Bibliothek. Er wandte sich der Rechtsabteilung zu und suchte längere Zeit nach einem Buch. Sonia schlenderte zwischen den hochaufragenden Regalen. Was für eine Fülle an Wissen! Vielleicht sollte sie einmal die Nacht hier verbringen und sich eine Auswahl der vielen Werke zu Gemüte führen?
Ein kräftiger, regelmäßiger Herzklang drang an ihr sensibles Ohr und erregte ihre Aufmerksamkeit. Das Pochen gehörte zu einem angenehmen Duft nach norwegischen Wäldern und einer frischen, salzigen Meeresbrise. Es konnte nicht schaden, ein Auge auf den Träger dieses Duftes zu werfen. Zielstrebig ging Sonia durchs Bücherlabyrinth auf den Herzschlag zu. Gleich da vorn, um die Ecke würde sie ihn erblicken.
Oh ... Er war ein ganzes Stück kleiner als sie. Das schmale Bürschchen mit dem kurz geschnittenen dunklen Haar hatte seine lustige Stupsnase in einem dicken Wälzer über Anatomie vergraben. Zweifellos ein Medizinstudent. Wieder so etwas Unnützes.
Als sie langsam an ihm vorbeiglitt, richteten sich die dunklen Härchen in seinem Nacken auf. Er blickte von seinem Buch auf und wandte sich ihr zu.
Sie musterte das jungenhafte Gesicht: glatte Haut, braune Augen mit gesundem Glanz, ein ebenmäßiger Mund mit rosigen Lippen. Sein freundliches Lächeln galt eindeutig ihr.
»Kann ich dir helfen? Suchst du etwas?«, fragte er arglos.
Die Arglosigkeit irritierte sie. Spürte er denn nicht, wer vor ihm stand?
»Nein, danke. Ich komme schon zurecht«, erwiderte sie mit dunkler Stimme.
»Bist du neu hier? Ich hab dich noch nie gesehen.«
Was für ein aufmerksames Kerlchen! Und furchtbar hartnäckig. Sie blickte ihm tief in die Augen. Das warme Braun erinnerte an poliertes Mahagoni. Von den schwarzen Pupillen ausgehend leuchteten helle Sprenkel, die den Augen sprühende Lebendigkeit verliehen. Sie spiegelten das freundliche Lächeln, überzogen das fein geschnittene Gesicht mit einem Ausdruck, den man sonst bloß bei Kindern zu sehen bekam. Dieser junge Mann war ohne Falsch, hatte ein weit geöffnetes Herz und eine reine Seele.
»Du hast mich nie gesehen.«
Das Lächeln erstarb, die hellen Sprenkel hörten auf zu leuchten. Der schmale Junge wandte sich wieder seinem Anatomiebuch zu und beachtete sie nicht weiter.
Die vergangenen zwei Tage hatte Sonia darauf verwendet, Olafs Gewohnheiten zu studieren. Er war nicht eben der fleißigste Student, kam oft zu spät zu den Vorlesungen und verbrachte die Nächte vorzugsweise bei Bier und Kartenspiel.
Heute Abend folgte sie ihm zu einem Treffen der Burschenschaft. Sie verbarg sich in einem düsteren Winkel gegenüber des Gasthauses, in dem die Studenten regelmäßig zusammenkamen, und lauschte den Gesprächen der jungen Männer.
Wenn Olaf sich zu vorgerückter Stunde auf den Heimweg machte, wollte sie ihn ansprechen. Zu diesem Zweck hatte sie extra ein raffiniert geschnittenes, flaschengrünes Seidenkleid angezogen. Ein Gürtel aus schwarzem Atlas betonte ihre schlanke Taille. Obwohl sie der kühle Abendhauch nicht frösteln ließ, hatte sie sich ein weißes Wolltuch um die Schultern geschlungen. Das helle Haar war kunstvoll geflochten und hochgesteckt, dazu ein pfiffiger schwarzer Hut. An den schmalen Füßen trug sie schwarze Seidenstiefeletten mit zierlichem Absatz, die sie noch etwas größer erscheinen ließen und ihren katzenhaften Gang betonten.
Das Lokal war gut besucht. Es wurde munter debattiert und kräftig gebechert. Olaf sprach dem Alkohol tüchtig zu. So tüchtig, dass er kurz vor Mitternacht einfach vom Stuhl kippte und einschlief.
Sonia war bitter enttäuscht. Mit einem Sturzbetrunkenen war nichts mehr anzufangen. Wie ärgerlich!
Sie wollte sich schon abwenden, als sich der gesunde Herzschlag des Kleinen näherte. Die Tür des Gasthauses öffnete sich und er trat ganz allein ins Dunkel. Im Gegensatz zu Olaf schien er sich beim Alkohol zurückgehalten zu haben, hatte immer noch klare Augen und einen sicheren Gang. Spontan beschloss sie, ihm zu folgen.
»Guten Abend.«
Morten zuckte heftig zusammen, als unerwartet eine junge Frau aus einer unbeleuchteten Gasse trat und sich ihm in den Weg stellte. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, war sie eine Dame der guten Gesellschaft. Ihr schmales Gesicht leuchtete kalkweiß im schwachen Schein der Gaslaternen, die entlang der Hauptstraße etwas Licht verbreiteten. Herbe, ja geradezu harte Gesichtszüge, ein kalter Blick aus hellen Augen. Entgegen der herrschenden Mode trug sie keine Locken, was er ungewohnt fand.
Morten fasste sich wieder und schenkte ihr ein freundliches Lächeln.
»Guten Abend. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Einen Moment lang sah es so aus, als schnappte sie enerviert nach Luft, doch dann wurden ihre harten Gesichtszüge etwas weicher und sie schlug hilflos die Augen nieder.
»Hätten Sie wohl die Freundlichkeit, mich nach Hause zu begleiten? Um diese Zeit ist es fast unmöglich, eine Droschke zu finden. Ich ängstige mich, ganz allein durch die Stadt zu gehen«, bat sie mit verlorener Kleinmädchenstimme.
Morten verbeugte sich höflich.
»Selbstverständlich. Seien Sie unbesorgt, ich begleite Sie gerne. Wohin darf ich Sie bringen?«
»Ich fürchte, ich muss Ihre Zeit unnötig lange in Anspruch nehmen. Mein Haus steht in Homansbyen, an der Josefinesgate.«
»Keineswegs, mein Heimweg liegt in derselben Richtung. Sie dürfen ohne schlechtes Gewissen auf meine Hilfe zählen.«
»Wunderbar! Herzlichen Dank.«
»Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle? Mein Name ist Morten Hansen. Ich bin Student der medizinischen Fakultät.«
»Sehr erfreut. Mein Name ist Sonia. Darf ich Sie Morten nennen?«
Er nickte schüchtern, fühlte, wie er rot wurde. Es war schon höchst ungewöhnlich, dass eine Dame ihrer Stellung nachts ganz allein durch die Straßen ging. Aber gleich solche Vertraulichkeiten!
Er bot ihr seinen Arm, wie es die Höflichkeit verlangte. Sie nickte dankbar und griff zu. Der feine, cremefarbene Kalbslederhandschuh knirschte leicht, als sie sich bei ihm unterhakte.
»Sie studieren Medizin? Eine Familientradition?«, begann sie im Plauderton.
Morten schüttelte leicht amüsiert den Kopf.
»Nein, mein Vater ist Kaufmann. Mein älterer Bruder Haakon wird in seine Fußstapfen treten. Ich hingegen hegte schon sehr lange den Wunsch, Arzt zu werden. Meine Mutter hat diese Idee unterstützt und meinen Vater überzeugt, mir ein Medizinstudium zu ermöglichen. Ich bin ihr dafür sehr dankbar und bemühe mich fleißig zu sein.«
»Sehr schön. Lebt Ihre Familie in Kristiania?«
»Leider nein. Ich stamme aus Trondhjem. Glücklicherweise konnte ich bei einer liebenswürdigen Witwe unterkommen, bei der ich Kost und Logis erhalte. Mein Vater kommt freundlicherweise dafür auf. Ich hoffe, ich kann mich dereinst erkenntlich zeigen.«
Was für ein putziges Kerlchen, dachte Sonia. Unheimlich gut erzogen, dankbar und tüchtig.
»Was hat Sie dazu bewogen, Medizin zu studieren?«
»In erster Linie der Wunsch, den Menschen zu helfen. Die Medizin hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht und entwickelt sich stetig weiter. Man wird immer mehr Leiden heilen können. Daran möchte ich mich beteiligen, es ist ungeheuerlich spannend.«
Die Ernsthaftigkeit, mit der er von seinen Zielen sprach, amüsierte sie.
Sie hatten die schmucke, hell erleuchtete Villa an der Josefinesgate erreicht.
»Hier ist es. Darf ich Sie auf ein Glas hereinbitten? Dann können Sie später gestärkt den Heimweg in Angriff nehmen.«
Der kleine Student wurde schon wieder rot und blickte verschämt zu Boden. Er schien furchtbar verklemmt zu sein.
»Ich glaube, das wäre unangemessen. Wenn Sie erlauben, verabschiede ich mich hier von Ihnen«, wehrte er mit zittriger Stimme ab.
»Das können Sie mir nicht antun, mein Bester. Sie müssen mich ins Haus begleiten!«
Sonia zog ihn einfach mit sich durchs weiß gestrichene Gartentor, über den schmalen Kiesweg, die fünf Stufen hinauf, die zum überdachten Eingangsportal des dreistöckigen, weiß verputzten Hauses führten.
»Wenn Sie meinen ...«
Er wehrte sich nicht, starrte aber verlegen auf seine Schuhspitzen, als Sonia den schweren Messingschlüssel ins Schloss der dunkelbraunen Haustür steckte und öffnete.
»Bitte.« Sie schob ihn über die Schwelle ins Entree, wo er unschlüssig stehen blieb.
»Legen Sie ab!«
Sie zupfte die Handschuhe von den Fingern und zog sich die weiße Strickstola von den Schultern. Warf beides achtlos auf die polierte dunkelbraune Kommode, zog die Hutnadeln aus ihrem Haar und schmiss die schwarze Kopfbedeckung hinterher.
Morten schlüpfte zögerlich aus seinem Gehrock und hängte ihn an die mit Schnitzereien verzierte Garderobe neben dem Eingang. Obwohl überall Licht brannte, schien kein Hauspersonal anwesend zu sein, was es etwas weniger peinlich machte – aber auch beunruhigender. Lebte Sonia hier ganz allein? Oder lauerte am Ende irgendwo ein eifersüchtiger Ehemann? Einen Fremden ins Haus einzuladen ziemte sich nicht für eine Dame ihrer Herkunft.
»Kommen Sie! Was darf ich Ihnen anbieten?«
Morten wollte auf keinen Fall noch mehr Alkohol trinken. Womöglich vergaß er sonst seine gute Erziehung und tat etwas absolut Ungehöriges. Es könnte leicht passieren, dass er sie küsste. So wie er Helga, das Dienstmädchen seiner Familie, geküsst hatte. Er war ihr in den Speicher gefolgt, wo sie Wäsche aufhängte. Hatte sich leise von hinten an Helga herangeschlichen, ihre Taille umfasst und sie zu sich umgedreht. Dann hatte er ganz kurz seine Lippen auf ihren weichen Mund gepresst. Helga hatte wunderbar geschmeckt, nach frischer Butter und nach Veilchen. Sie hatte ihn kichernd von sich gestoßen, als amüsierte sie sein ungehobelter Übergriff. Er war aus dem Speicher geflohen, hatte dabei die
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Monika Jaedig
Bildmaterialien: Monika Jaedig
Lektorat: Pantlipflanzer.ch
Tag der Veröffentlichung: 06.07.2015
ISBN: 978-3-7396-0376-6
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