Richter Simon F. erwachte in seinem geräumigen Ehebett und gähnte herzhaft. Er streckte sich und empfand es als grenzenlose Freiheit, im Bett auf niemanden mehr Rücksicht nehmen zu müssen. Im Schlafzimmer seiner Villa war es offensichtlich schon länger hell und Richter F. wunderte sich, warum ihn seine Hausangestellten so lange hatten schlafen lassen. Er beschloss, diesmal einfach im Bett zu frühstücken. Es war ein Luxus, den er seit seiner Scheidung öfters genoss und seine Ex-Frau hätte ein Frühstück im Bett auch mit Sicherheit missbilligt, was dem Ganzen eine zusätzliche Würze verlieh. Der Gedanke daran rang dem Richter sogar ein amüsiertes Lächeln ab. Freudig läutete der Richter die Glocke, um die neueste seiner Hausangestellten zu rufen. Sie hatte zwar gute Manieren, aber für des Richters Geschmack war sie viel zu wenig unterwürfig gegenüber einem Mann seiner Position. Zum Ausgleich war sie sehr jung und sah in ihrer Uniform auch noch fantastisch gut aus. Bereits im Bewerbungsgespräch hatte der Richter sorgfältig darauf geachtet, dass genau die Richtige die Stelle bekam. Der Richter räkelte sich in freudiger Erwartung im Bett und lauschte den Geräuschen.
Fünf Minuten später wurde Richter F. unruhig. Eigentlich hätte die alte Haushälterin Rosemarie oder die hübsche, junge Dame in ihrer Stubenmädchenuniform erscheinen müssen, doch war nichts dergleichen geschehen. Ein Blick auf den Radiowecker am Nachttisch verunsicherte ihn zusätzlich, denn die Anzeige war erloschen. Fluchend griff sich der Richter die Fernbedienung und versuchte seinen Flachbildfernseher einzuschalten, um ein wenig Zeit totzuschlagen, bis sich endlich jemand bequemte zu erscheinen. Nach mehreren Versuchen stellte er jedoch fest, dass dies auch nicht funktionierte. Erst jetzt bemerkte er, dass das rote Lämpchen auf dem modernen Gerät ebenfalls nicht leuchtete.
Just in dem Moment sprang die Tür auf und ein moderat gekleideter Mann mittleren Alters trat ein. Der Richter erkannte sofort, dass dieser Mann für ihn ein Fremder war. Das Gesicht konnte der Richter auch nicht genau erkennen, denn die untere Hälfte des Gesichts versteckte sich hinter einem dichten, schwarzen Vollbart, während die obere Hälfte äußerst unpassend von einer großen, sehr dunklen Sonnenbrille abgedeckt war. Auch der Hut des Fremden trug dazu bei, dass der Mann irgendwie unkenntlich wirkte, obwohl er doch gar nicht maskiert war.
»Sie haben geläutet?«, erkundigte sich der Fremde, ohne die geringste Emotion in der Stimme. Der Richter schnauzte den Fremden an, als wäre er sein Diener, »Verdammt, Bursche. Wieso hat mich denn keiner geweckt? Sag der Haushälterin, dass ich heute im Bett frühstücke. Und irgend jemand soll sich den Fernseher und den Radiowecker ansehen, die Dinger sind kaputt. Verstanden?« Der fremde Mann zuckte mit den Schultern und erwiderte emotionslos, »Es gibt heute kein Frühstück. Sie sollten sich nochmals hinlegen und warten, bis wir sie zu uns bitten.« Ohne auf den Wutausbruch des Richters zu reagieren, verließ der Mann das Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Das Geräusch eines Schlüssels, der sich im Schloss drehte, verhieß jedenfalls nichts Gutes. Der Richter schwieg und dachte nach. War er gerade eben in seinem eigenen Schlafzimmer eingeschlossen worden? Hielt man ihn hier etwa gefangen? Immerhin war er Richter und genoss von Grund auf eine gewisse Immunität, ganz zu schweigen von Respekt seiner Position gegenüber.
Mit Zornesröte im Gesicht sprang der Richter aus dem Bett und stürmte zum Kleiderschrank. Rasch zog er sich einen sündteuren Anzug an und kämmte sich notdürftig vor dem Spiegel auf dem Schminktisch seiner Ex-Frau das schon schütter werdende Haar. Die Situation war einfach grotesk, ihn so zu behandeln. Immerhin war der Richter ein Jemand und keinesfalls ein Niemand. Der Richter nahm sich vor, für die fristlose Entlassung dieses fremden Mannes zu sorgen und stürmte zur Schlafzimmertüre.
Nach dem zweiten Versuch gab der Richter schließlich auf. Wie er schon vermutet hatte, war die Tür abgeschlossen und alles Rütteln half ihm nicht, diese Tür zu öffnen. Der Richter grinste hämisch und griff nach seinem Telefon, welches er über Nacht immer auf dem Nachttisch in eine Ladeablage stellte. Doch die Ladeablage war ebenso leer, wie des Richters Magen, der sich schon bemerkbar machte. Wutschnaubend riss der hohe Beamte die Terrassentür in seinem Schlafzimmer mit beiden Flügeln gleichzeitig auf. Schon nach seinem ersten Schritt in die Freiheit stellte er fest, dass er draußen bereits erwartet worden war. Zwei grimmige, hünenhafte Männer kamen umgehend auf ihn zu und griffen ihm sofort unter die Arme. Ihr fester Griff und die Zielstrebigkeit ihres Handelns unterbanden jeden Gedanken an Gegenwehr, den der Richter instinktiv gehabt hatte. Auch diese beiden Männer hatten Vollbärte, dunkle Sonnenbrillen und Hüte. Auch wenn sie lange Regenmäntel trugen, gehörten sie mit Sicherheit zu dem Fremden im Haus. Der Richter bezweifelte doch sehr, dass es sich bloß um eine Modeerscheinung handelte, mit Vollbärten und Sonnenbrillen mitten im frühen Herbst in der Gegend herumzulaufen. Es ging eindeutig etwas Seltsames hier vor. Die beiden Hünen brachten den Richter zu einer von perfekt gestutzten Hecken und gut geschützten Sitzgarnitur, welche sich mitten in des Richters Garten befand. Zu seinem Erstaunen wartete dort bereits ein weiterer ungebetener Gast und er hatte es sich offensichtlich dort auch noch gemütlich gemacht.
»Guten Morgen«, grüßte der sonderbare Mann mit Zylinder recht freundlich. Richter F. sog das Gesamtbild des Mannes in sich auf, als würde sein Leben davon abhängen. Das Gewand des Mannes wirkte, als wäre es aus dem neunzehnten Jahrhundert. Sein Bart glich dem des österreichischen Kaisers Franz-Josef. Das Kinn war frei und gut rasiert, aber der dichte Pelz an Wangen und Oberlippe ließen vermuten, dass dieser Bart nur angeklebt, anstatt gewachsen sein könnte. Auch die zwei strengen Burschen, die ihn hergebracht hatten, sah er jetzt in neuem Licht. Ihre dichten Vollbärte, Sonnenbrillen und Hüte dienten wohl eher dem Zweck, ihre Identität zu verschleiern und ihre Bärte waren mit Sicherheit auch nicht echt. Trotz der freundlichen Begrüßung lief der Kopf des Richters wieder rot an, doch bevor er seinem Ärger Luft machen konnte, drückte ihn seine Eskorte auf einen der freien Gartensessel und blieb hinter ihm stehen. Auf dem kleinen Gartentisch stand eine einzelne dampfende Tasse Kaffee und es war dem Richter sofort klar, dass diese Tasse eigentlich zum Geschirr und damit auch zum Besitz des Richters gehörte.
»Franz hat ihnen doch gesagt, dass sie im Zimmer bleiben sollen«, eröffnete der Mann das Gespräch und wollte wohl den Richter im Vorfeld abwürgen. Doch das alles fand Richter Simon F. nun einfach zu dreist. »Wissen sie überhaupt, wer ich bin?!?«, bellte der Richter mit möglichst drohendem Tonfall. Im nächsten Moment drehte sich alles im Kopf des Richters. Als er wieder klar denken konnte, schmerzte seine gesamte linke Gesichtshälfte und er stellte fest, dass Flüssigkeit aus seinem Mund und über sein Kinn lief. »Es ist die reine Höflichkeit meinerseits, überhaupt mit ihnen zu sprechen. Ich wünschte, sie würden sich zivilisierter benehmen«, rügte der sonderbare Mann. Der Richter spuckte Blut aus und blickte den Fremden zornig an. Er wollte ihnen allen am liebsten sofort mitteilen, dass er allesamt ins Gefängnis werfen ließe, überlegte es sich jedoch anders.
»Also gut, reden wir! Was wollen sie überhaupt von mir?«, begann der Richter und hoffte, etwas Licht ins Dunkel zu bringen. »Es steht mir doch gar nicht zu, ihnen nähere Einzelheiten mitzuteilen. Ich erfülle lediglich meine Aufgabe«, beteuerte der Fremde sichtlich amüsiert über die rasche Verhaltensänderung des Richters. Dann fügte er hinzu, »Das Verfahren gegen sie wurde nun einmal eingeleitet. Sie werden alles zur gegebenen Zeit erfahren.« Der Richter schluckte. Es hatte keine Vorladung und keine Information gegeben, dass gegen ihn ein Verfahren liefe. Außerdem hatte er genügend politisches Kapital, um jedes Verfahren gegen ihn schon im Vorfeld im Keim zu ersticken. Wut kroch im Richter hoch, doch er starrte den Fremden nur zornig an.
Aus einer weiteren Terrassentür kam unerwarteter Besuch eines vierten vollbärtigen Fremden. Der Richter selbst hatte diese Tür noch nie benutzt, daher musste er kurz nachdenken, aus welchem Raum seiner Villa der neue Eindringling gerade gekommen war. Er war aus dem Arbeitszimmer gekommen, stellte der Richter beunruhigt fest. Der Mann hatte die gleiche Verkleidung, wie der Wächter vor seinem Schlafzimmer, doch trug er ein Notebook mit sich und der Richter erkannte es sofort als das Seine.
»Mein Computer ist zwar bestens mit Passwörtern geschützt, aber da ich noch nie etwas verbrochen habe, wäre es ohnehin bedeutungslos für sie, was sich auf dem Ding befindet«, spottete der Richter hämisch. Der Neuankömmling nickte dem Mann mit dem Zylinder nur kurz zu und verschwand dann wieder im Haus. Den Richter ignorierte dieser vierte vollbärtige Mann vollends, was diesen nur noch mehr reizte.
»Die Zeit ist um. Gehen sie zurück ins Zimmer und entledigen sie sich aller Metallgegenstände und aller elektronischen Geräte, die sie bei sich tragen. Wir brechen in fünf Minuten auf«, informierte der sonderbare Mann, welcher der Anführer der Vollbärtigen zu sein schien. Der Richter weigerte sich, irgend etwas abzulegen. Er verbrachte die fünf Minuten lieber schweigend im Garten, ohne zurück ins Haus zu gehen. Wütend über seine Ohnmacht, versuchte er sich die Gesichter der Männer einzuprägen, um sie später identifizieren zu können. Gerade als er festgestellt hatte, dass dies eigentlich sinnlos war, weil sie alle so offensichtlich verkleidet waren, wurde es plötzlich finster.
Dem Richter wurde von hinten ein Sack über den Kopf gestülpt und am Hals zugezogen. Der Sack war zwar luftdurchlässig, aber kein Lichtschimmer drang auch nur durch das kleinste Loch. Im nächsten Moment schlossen sich Ohrenschützer um seinen Kopf und diese nahmen dem Richter auch noch das Gehör. Blind und taub wurde Richter F. grob auf die Beine gestellt. Die Handschellen, die ihm angelegt wurden, brachten den Richter zu dem Schluss, dass er die Situation vollkommen falsch eingeschätzt hatte. Diese Männer ließen sich durch seine Position kein bisschen einschüchtern und sie folgten wie die Lemminge einfach nur stur ihren Aufgaben, so als hätten sie Scheuklappen vor der Realität angelegt. Die Realität besagte jedoch, dass der Richter ein mächtiger Mann war, aber diese Eindringlinge hatten ihn trotzdem aller Macht beraubt. Verärgert ließ sich der Richter von seinen Wächtern abführen.
Wie viel Zeit vergangen war, wusste der Richter nicht. Vom Gerüttel während der Fahrt her, wusste er nur, dass er sich in einem Lieferwagen befand, auf dessen kalte Ladefläche er unsanft gelegt worden war. Wo die Fahrt hinging, war ihm nicht mitgeteilt worden. Wäre er besser behandelt worden, wenn er mitgespielt hätte? Der Richter hatte darauf keine Antwort, aber er versuchte sich, für die Zeit nach der Gefangenschaft, möglichst viel einzuprägen. Die Rache des Richters würde furchtbar werden, schwor sich der einflussreiche Mann.
Kaum waren die Ohrenschützer entfernt worden, festigte sich auch der Stand des Richters. Blind und taub aus den Wagen gezerrt und auf die Beine gestellt zu werden, hatten ihn schwindlig und orientierungslos werden lassen. Gerade als der Richter erste Vermutungen darüber anstellte, dass er sich vielleicht in einer Halle befinden könnte, wurde ihm der Sack vom Kopf genommen.
Zuerst blinzelte der Richter nur und er konnte nichts erkennen, aber dann nahmen die verschwommenen Umrisse feste Konturen an. Er war tatsächlich in eine eher kleine Halle gebracht worden. Bis auf einen langen Tisch und einigen Körben auf diesem Tisch, war die Halle jedoch frei von weiterem Mobiliar oder von Maschinen, welche man in so einer Halle wohl erwarten könnte. Dafür befanden sich zwei Kastenwägen in der Halle, an denen allerdings keine Nummernschilder zu sehen waren. Offensichtlich war seinen Peinigern sehr daran gelegen, dass der Richter keine Anhaltspunkte über seinen Aufenthaltsort oder seine Entführer hatte. Es würde schwierig werden, diesen Schurken auf die Schliche zu kommen, dachte sich der entführte Richter.
Unsicher blickte Simon sich um, als ihm unerwarteter Weise die Handschellen abgenommen wurden. Seine Wächter hatten sich auch sehr verändert, denn jetzt trugen sie ganz unverschämte weiße Masken mit einem aufgemalten, grinsenden Gesicht. Vielleicht waren es ja auch neue Wächter, welche sich hinter diesen Masken verbargen. Jede Maske hatte leicht rötliche Bäckchen, einen nach oben geschwungenen Schnurrbart und einen kurzen, schmalen Bart von der Unterlippe bis zum Kinn. Durch eine schwarze Perücke, die an Maske und Hut befestigt zu sein schien, vervollständigte sich das Gesamtbild. Der Richter leckte sich über die Lippen, denn irgendwo hatte er Masken wie diese schon gesehen. Dann kam die Erkenntnis, denn Richter Simon erinnerte sich an einen Film, den er einmal vor langer Zeit gesehen hatte. Der Schurke in diesem Film war ebenfalls mit so einer ‚Guy Fawkes‘ Maske verkleidet gewesen. In diesem Film griff der Terrorist mit der Maske die herrschende Obrigkeit an und lebte seine Triebe mit abartiger Brutalität aus, um die Regierung zu stürzen. Diese Maske repräsentierte für den Richter die absolute Respektlosigkeit gegenüber einem rechtsstaatlichen Rechtssystem. Diese Maske war eindeutig der Feind von Recht und Ordnung.
Als die Beifahrertür eines der Fahrzeuge ins Schloss fiel, zuckte der Richter zusammen. Sofort erkannte Richter F. den Fremden an seiner moderaten Kleidung wieder, den er bereits in seinem Schlafzimmer gesehen hatte. Zu des Richters Verärgerung trug er aber immer noch seinen Vollbart und seine überdimensionale Brille, wodurch er nach wie vor unkenntlich war. Der Mann im Garten hatte diesen hier als Franz bezeichnet, aber das war für eine Identifizierung auch nicht sonderlich hilfreich.
Die Handschellen waren unangenehm gewesen, daher rieb sich der Richter seine Handgelenke, während er den Vollbärtigen musterte und diesem bei seiner Arbeit zusah. Drei Körbe und ein seltsames Gerät, welches mit langen, gewendelten Kabeln mit einem Metallstab verbunden war, befanden sich jetzt vor dem Mann und wie auf Befehl führten die Wächter den Richter ganz an den Tisch heran.
»Wieviel?«, erkundigte sich der Richter und versuchte dabei höflich und freundlich zu klingen. Verständnislos zuckte der Bärtige mit den Schultern und der Richter präzisierte, »Wieviel muss ich für meine Freilassung bezahlen? So ist es doch üblich bei Entführungen oder nicht?« Als die Wächter lauthals zu lachen anfingen, zog sich im Richter alles zusammen. Amüsiert erwiderte der Vollbärtige, »Ihr wurdet nicht entführt, sondern verhaftet. Ich bin mir sicher, Franz-Josef hat euch gesagt, dass das Verfahren gegen euer Ehren eingeleitet wurde.«
Obwohl ihm das Herz schwer wurde, bemerkte der Richter noch trocken, »Franz-Josef? Klingt passend.« Huldvoll verneigte sich Franz und das Lachen der Wächter verstummte augenblicklich. Franz säuselte erleichtert, »Zu gütig, euer Kompliment.« Der Richter war verblüfft und versuchte sich auf das Spiel weiter einzulassen, um herauszufinden, was eigentlich gerade mit ihm passierte. Auch er verneigte sich und säuselte, »Danke, dass sie mich im Bezug auf meine Verhaftung aufgeklärt haben. Da sich niemand ausgewiesen hat oder eine Polizeiuniform trägt, war ich mir unsicher. Da einige Bestandteile einer regulären Verhaftung bis jetzt gefehlt haben, werde ich sie auch nicht mit der Frage nach einem Haftbefehl belästigen.« Das schallende Gelächter der Wächter erklang von Neuem und Franz lobte den Humor des Richters, doch dieser fühlte sich zunehmend unwohler.
Piiiiep. Franz’ Stirn wirkte wieder gerunzelt, soweit man das durch den schmalen Spalt zwischen Hut und Sonnenbrille beobachten konnte. Der seltsame Metalldetektor hatte wieder zugeschlagen. Es war erstaunlich, was dieses Wunderding alles aufzuspüren vermochte. Der Richter seufzte, »Ich weiß. Ich war angewiesen, diese Dinge alle abzulegen und daheim zu lassen.« Mit Bedauern holte der Richter seine Geldspange aus Platin aus der Innentasche seines Jacketts und legte sie samt Inhalt in das mittlere Körbchen, welches sich schon mit Uhr, Kettchen und allen Metallknöpfen seiner Kleidung gefüllt hatte. Entsetzt streifte Franz die Geldspange von dem üppigen Packen mit 100-Euro Scheinen ab und überreichte das Geld dem Richter. »Wir sind zwar nur einfache Beamte aus den niederen Rängen, aber wir sind keine Diebe. Das Geld gehört selbstverständlich euch«, stammelte Franz verlegen. Seine Hand zitterte, als hätte er in seinem Leben noch nie so viel Geld auf einmal in der Hand gehalten. Erst als der Richter das Bündel wieder eingesteckt hatte, wirkte Franz wieder freundlicher und die Erleichterung des niederen Beamten strahlte dem Richter trotz der Maskierung förmlich entgegen. ‚Einfache Beamte aus niederem Rang‘, schoss es dem Richter durch den Kopf. Dann erinnerte sich der Richter plötzlich an ein Buch, welches er vor langer, langer Zeit gezwungen worden war zu lesen. Doch leider konnte er sich nicht einmal an den Titel des Buches erinnern. Nur der Hass, den er und seine Mitschüler auf dieses Buch damals empfunden hatten, war ihm im Gedächtnis geblieben.
»Ich danke ihnen vielmals für ihre Mitarbeit«, erklärte Franz und überreichte dem Richter ein Feuchttuch. Der Richter grinste schief, denn wie sollte er sich die Farbe des Stempelkissens abwischen, wenn er doch mit einer Hand seine Hose oben halten musste? Seine metallene Gürtelschnalle war auch einkassiert worden und so versuchte er ohne einen Gürtel, der die Hose oben hielt, das Beste aus dieser Situation zu machen. Abwechselnd rieb er nur die Finger gegen den Daumen der einen Hand, bis er die Hand wechselte, um auch diese notdürftig von der Farbe zu befreien. Er rechnete es den Wächtern und Franz hoch an, dass niemand lachte. ‚Nach der Aufnahme kommt die Gefängniszelle‘, dachte sich der Richter und ihm wurde regelrecht kalt ums Herz. Ihn graute es bei der Vorstellung, heute nur mit minderwertiger Nahrung versorgt zu werden und ohne die Annehmlichkeiten seines Eigenheims vorlieb nehmen zu müssen. Dennoch würden diese niederen Beamten nichts für ihn tun, was nicht ihrem Auftrag entsprach. Diese Beamten hier sollten ihn wohl nur verhaften und Franz-Josef mit seinem Gehilfen sollte wohl ausschließlich Beweismaterial sicherstellen. Das engstirnige Beamtenverhalten war dem Richter nur allzu vertraut, allerdings machte es bedeutend mehr Spaß, nicht auf der Empfängerseite des oftmals praktizierten Beamtenstumpfsinnes zu stehen.
Nachdem das Stück Papier mit seinem Konterfeit und den Fingerabdrücken darunter in einen Fallordner verschwunden war, wurde es wieder finster für den Richter. Mit einem Sack über dem Kopf und ebenso taub, wie bei der Anreise, wurde der Richter wieder in den Wagen geleitet. Allerdings durfte er dieses Mal auf der Notbank im Inneren des Kastenwagens sitzen. Es war zwar auch nicht sonderlich angenehm, da er zwischen den Wächtern eingeklemmt war, aber es war besser, als am kalten Boden des Fahrzeugs zu liegen. Wenigstens hatte man ihm dieses Mal keine Handschellen angelegt.
Richter F. grübelte während der Fahrt über das letzte Formular, welches er selbst ausfüllen und danach unterschreiben hatte müssen. Natürlich hatte er es getan, aber die Sinnhaftigkeit des Dokuments war ihm nicht ganz klar. Alles Vermögen hatte der Richter angeben müssen. Alles, was er auch bereits bei seiner Scheidung angegeben hatte, gab er auch auf diesem Formular an. Innerlich schmunzelte der Richter, denn ein Vergleich mit den Unterlagen des Scheidungsverfahrens würde ihn nur bestätigen. Lediglich die Formulierung der Fragen nach seinem Vermögen schien ihm etwas merkwürdig gewesen zu sein, aber darüber machte er sich keine Sorgen, denn der einzige Rechtsexperte bei dieser seltsamen Verhaftung war eindeutig nur er selbst gewesen.
Die Fahrt kam den Richter jetzt kürzer vor und sein Erstaunen war groß, als er sich in seinem Schlafzimmer wiederfand. »Sie wirken so überrascht. Wollen sie denn morgen nicht arbeiten gehen?«, wunderte sich Franz. »Was soll das denn für eine bescheuerte Verhaftung sein, wenn man dann gar nicht eingesperrt wird? Also wurde ich lediglich auf freiem Fuß angezeigt und nicht verhaftet! Erfahre ich jetzt endlich, wer mich verklagt?«, stieß der Richter rüde aus. Franz wirkte entsetzt, aber keineswegs eingeschüchtert. »Wir sind nur für ihre Verhaftung zuständig und lassen sie mich das Eine klarstellen, sie sind tatsächlich immer noch verhaftet und unser Gefangener, auch wenn sie in keiner Zelle sitzen. Sobald wir von den hohen Beamten wieder eine Weisung bekommen, werden wir erneut tätig werden und sie haben sich als unser Gefangener selbstverständlich zu fügen. So ist eben das Gesetz«, erklärte Franz sachlich und machte sich daran, den Raum zu verlassen. Doch der Richter fühlte sich in seiner gewohnten Umgebung wieder sicher und überlegen. Daher versperrte er dem jüngeren Mann den Weg und bestand darauf zu erfahren, was vor sich ging.
Unglaubliche Schmerzen durchfuhren den Körper des Richters. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete Richter F. die Augen und bemerkte, dass er auf sein Bett gelegt worden war. »Dabei war er schon so vernünftig gewesen. Ich glaube, er lernt es nie«, resümierte einer der hünenhaften Wächter, die Franz, den Verhafter, wohl begleitet hatten. Der zweite Wächter streckte die Hand nach dem Richter aus und drehte dessen Kopf. Angsterfüllt starrte Simon F. auf den unverschämten Wächter. »Sicher ist sicher«, erklärte dieser zweite, raubeinige Kerl und der Richter konnte förmlich das spöttische Funkeln der Augen hinter der Maske des Mannes sehen. Dann wurde es für den Richter wieder schmerzvoll und im Anschluss daran finster.
Alles tat
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Reinhard Franz Forstner
Cover: Reinhard Franz Forstner
Tag der Veröffentlichung: 14.10.2018
ISBN: 978-3-7438-8359-8
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch ist dem Leben und Schaffen von Franz Kafka (✝ 3. Juni 1924) gewidmet