Schattentanz
SchattenRiss
Isabella Mey
Band III
Torin, Provence, Donnerstag, 10. Juni
Eine Erschütterung folgt der nächsten und noch immer gelingt es mir kaum, zu erfassen, was meine Tochter über Wochen hinweg vor mir verheimlichte. Zwar erfüllt es mich mit Stolz, dass sie dieses besondere Ausnahmetalent des Schattenzaubers offenbar von meiner Seite erbte, dass sie sich mir, ihrem Vater, jedoch nicht anvertraute, kränkt mich noch immer. Zudem lässt mich die Vorstellung all der Gefahren und Bedrohungen, denen sie ausgesetzt gewesen war, erschaudern. In keinem Fall darf meinem einzig Fleisch und Blut ein Unheil zustoßen und doch bleibt mir nichts anderes übrig, als mich der Ohnmacht zu ergeben – der Preis für ein Leben in Freiheit, die ich meiner geliebten Tochter nicht vorenthalten darf.
Nach Julis erschütternden Offenbarungen habe ich mich in unsere Behausung des Feriendorfes zurückgezogen und die Fensterläden geschlossen, um die vielfältigen Neuigkeiten erst einmal auf mich wirken zu lassen. Abermals muss ich mich vom Sessel erheben, damit ich den Kommunikationskristall aus der viel zu engen Tasche meiner halblangen Jeans herausziehen kann. Ich bereue, dass ich mich von Inea zu dieser Strandkleidung inklusive buntem Hawaiihemd überreden ließ, komme ich mir darin doch vor wie einer dieser lachhaften Straßenkünstler.
Keinesfalls sollte ich nun übereilt handeln und doch müssen die anderen Magier unbedingt zeitnah über die Bedrohung informiert werden. Ich positioniere den Kommunikationskristall vor mir auf dem gläsernen Couchtisch. Das Licht, welches sich durch die Ritzen der Fensterläden mogelt, wirft dünne Fäden tanzender Staubflöckchen in den Raum und malt hier und dort helle Punkte auf die Einrichtung. Das metallische Rattern eines den holprigen Fußpfad passierenden Fahrrades, dringt durch die dünnen Holzwände und stört mich in meiner Konzentration, um eine Verbindung herzustellen.
»Liliana!« Unter all den Magiern traue ich Ineas Tante am meisten, daher will ich sie als erste informieren, doch vergeblich warte ich auf das helle Licht, welches stets von einem sanften Surren begleitet wird.
»Rucht Femmock!«
Ein Kommunikationskristall, der nicht aufleuchtet?! So etwas hat es noch nicht gegeben!
Selbst wenn Liliana den Kristall nicht bei sich trägt, müsste er auf meine Magie reagieren, doch er liegt vor mir auf dem Tisch wie ausgebrannt.
Ich nehme den Kristall in die Hand und drehe ihn in meinen Fingern. »Simeo, Leyla, Somelia, Terano, Serena!«, rufe ich die verbliebenen Ratsmitglieder an, doch nicht mal ein winziges Fünkchen erglimmt im Zentrum des Brillantschliffs.
Schnaubend fahre ich hoch, klappe den Fensterladen auf und betrachte meinen Kommunikationskristall eingehend von allen Seiten. Durch den besonderen Schliff lässt das Sonnenlicht einen Regenbogen im Inneren erstrahlen, also rein äußerlich ist kein Makel zu erkennen. Ich umfasse den Kristall mit beiden Händen, während ich die Lider schließe und meine Magie hineinsende. Statt des warmen Prickelns der darin innewohnenden Energie schlägt mir die Empfindung kalter Leere zurück.
Erschüttert lasse ich ihn in meine Tasche gleiten.
Wie kann das sein? Der Einzige, der vom Versagen des Kristalls profitiert, ist Wilhelm, doch auf welche Weise könnte er ihn manipuliert oder zerstört haben?
Es erscheint mir doch recht unwahrscheinlich, dass er das tatsächlich fertigbrachte, ohne ihn zu berühren. Doch in diesem Moment dringt eine beinahe schon vergessene Begebenheit in mein Bewusstsein: Am Tage, als mich Inea in Wilhelms Gestalt zusammen mit Leyla beobachtete, wurde ich im Ratssaal niedergeschlagen – eine Schmach, die ich nur allzu gerne verdrängt hätte. Meine Ohnmacht bot dem Täter alle Möglichkeiten der Manipulation, sowohl meines Kristalls als auch meines Leibes. Der Gedanke treibt kalten Schweiß auf meine Stirn.
»Diese verfluchten Spinnen!«
Die Vorstellung völlig ferngesteuert Freveltaten zu begehen und dabei meinen Liebsten Schaden zuzufügen, erfüllt mich mit Horror. Dass mein bester Freund Markus davon befallen ist, übertraf bereits einiges an Grausen, was mein langes Leben schon mit sich brachte, doch nun tut sich ein bodenloser Abgrund direkt vor meinen Füßen auf.
Während ich rastlos im Raum umherwandere, greift eine unerträgliche Ohnmacht nach meiner Brust. Mit jeglicher Gefahr nehme ich es auf, doch mit diesem Gefühl kann ich nicht umgehen, viel zu lange litt ich unter dem unerbittlichen Training meines Vaters Nehef Sorbat. Um aus mir einen würdigen, machtvollen Nachfolger zu formen, sperrte er mich bereits als zarten Jüngling in einen Käfig, angefüllt mit monsterhaften Kreaturen, wo ich ums nackte Überleben kämpfen musste. Doch selbst das war besser, als das Grausen, welches die kaum greifbare Bedrohung dieser Spinnen in mir auslöst. Immerhin lag es damals noch in meiner Macht, den Monstern heil zu entkommen, aber nachdem es nicht einmal Markus mit seinen mentalen Fähigkeiten gelungen war, den Fremdkörper im Kopf zu bemerken und auszuschalten, wie konnte es mir da gelingen? Ich versuche, zu erfühlen, ob sich irgendwo in meinem Hirn etwas angedockt haben könnte, durchleuchte jede Zelle in meinem Kopf, aber ich bemerke nichts Ungewöhnliches. Genau genommen spüre ich überhaupt nichts. Wenn man die Schattenmagie einmal ausnimmt, sind meine Fähigkeiten vor allem physischer Natur.
Die Schattenmagie!
Unwillkürlich wandert mein Blick zu meinem Schatten, der sich vom hereinfallenden Licht diffus auf dem Sofa abzeichnet. Das sollte jedoch ausreichen, um ihn fortzuschicken.
»Suche nach Wilhelm und berichte mir, was er treibt. Wenn du ihn nicht finden kannst, gehe zu Liliana.«
Erschüttert muss ich feststellen, dass ich weder eine Resonanz spüre noch eine Eigenbewegung des Schattens erkennen kann. Mein Atem geht schwer, während weitere kalte Schweißtropfen von meiner Stirn perlen. Und mit der schlagartigen Erkenntnis, was hier schiefläuft, beginnt mein Puls zu rasen:
Meine Magie ist versiegt!
Ein Zittern durchfährt meinen Leib, während ich entkräftet aufs Sofa sinke und gleichzeitig hasse ich mich für die widerwärtige Schwäche, die von mir, dem Lord der Schatten, in diesem Augenblick Besitz ergreift.
Schwächlinge sind unwürdiger als der Auswurf eines Mugoks!, brüllt in meinem Inneren die Stimme meines Erzeugers. Zu tief sitzen die Wunden und eingeimpften Programmierungen, um sie in solchen Momenten auszuschalten.
Noch immer atme ich stoßweise. Ohne meine Zauberkraft bin ich ein Niemand, die kreatürliche Hilflosigkeit in Person – ein Zustand, der fataler kaum ausfallen könnte für jemand, der es gewohnt ist, zu den potentesten dunklen Magiern seiner Zeit zu zählen. Der Strick der Panik schnürt mir die Kehle zu, sodass ich in Atemnot gerate und gleichzeitig bete ich, dass weder Inea noch meine Tochter zurückkehren – der schlimmste Horror, sollten mich die beiden in dieser unwürdig jämmerlichen Lage überraschen.
Mein Gesicht in den Händen vergraben, ringe ich um Beherrschung. Es gilt, sich zu beruhigen, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Kaum etwas hat mich jemals dermaßen aus der Bahn geworfen. Längst verdrängte Ereignisse meiner Kindheit blitzten unvermittelt vor meinem geistigen Auge auf: Mit einem Fuß am Strick hängend, baumele ich von einem morschen Ast herab. Unter mir ragen messerscharfe Spitzen aus dem Boden. Vor lauter Angst war es mir damals kaum gelungen, meine ehedem noch launische Magie zu bündeln, um das bedrohliche Metall zu pulverisieren.
Damals jedoch ging es lediglich um mein eigenes bescheidenes Leben, dessen Ende ich nicht allzu sehr bedauert hätte, gegenwärtig jedoch, zerreißt mir die Sorge um meine Lieben schier das Herz.
Auch die Kommissura hatte mich bereits einmal der Magie beraubt, doch jetzt fühlt sich die Lage weit bedrohlicher an, zwielichtiger, unberechenbarer, denn im Gegensatz zu diesen Spinnen ist mir das Tattoo gut bekannt in seiner Wirkungsweise. Es blockiert lediglich gewisse Zauber, doch gegenwärtig fühle ich mich wie leergesaugt –- ein durchaus adäquates Sinnbild, denkt man an eine Spinne.
Ruhig Atmen!, befehle ich mir und zwinge mich zu selbigem.
Wie immer wird sich eine Lösung finden, selbst wenn sich derzeit nichts dergleichen abzeichnet.
»Ich muss die anderen warnen!«, geht mir abermals durch den Kopf, aber ohne Kristall und Schatten sind mir jegliche Kommunikationsmöglichkeiten verwehrt, ebenso alle Optionen, Informationen außerhalb dieses Ortes einzuholen …
Das Mobiltelefon!
Da ich es nicht gewohnt bin, derartige technische Geräte zu nutzen, hatte ich diese Möglichkeit völlig verdrängt. Ich ziehe den Koffer unterm Bett hervor, welchen Inea und ich noch nicht einmal ausgepackt haben, klappe ihn auf und fische das kleine schwarze Gerät heraus. Das Drücken der beiden seitlichen Knöpfe bleibt jedoch ohne Wirkung.
Ein entnervtes Seufzen entweicht meiner Kehle.
»Femmock!«
Das darf doch nicht wahr sein, dass nun auch noch die technischen Geräte versagen.
Entnervt drücke ich extra lange auf beiden Knöpfen herum, was nun tatsächlich doch den Bildschirm erhellt. Ich warte, bis sich die leuchtenden Anzeigen beruhigt haben, dann erscheint das Tastenfeld für die PIN.
»Femmock!«
Gerade, als ich versucht bin, das Gerät frustriert aufs Bett zu pfeffern, erinnere ich mich an die gewählte Nummernfolge: das Geburtsjahr unserer Tochter. Nachdem ich ein wenig durch die Menüs geklickt habe, finde ich was ich suche: Inea hat mir alle wichtigen Kontakte einprogrammiert, sodass ich nur noch Lilianas Namen anzutippen brauche.
Doch zunächst gilt es, mein Gemüt zu beruhigen. Noch immer steckt mir die Fassungslosigkeit über die verlorene Magie in den Knochen. Geschlagene zehn Minuten benötige ich, in denen ich reglos auf dem Sessel verharre, um mich einigermaßen an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich nun zeitlich begrenzt keine Zauber mehr wirken kann. Dass dieser Zustand eventuell dauerhaft anhalten könnte, diese Möglichkeit weise ich weit von mir.
Zurückblickend hatte ich seither des Öfteren den Eindruck, dass meine Magie schwächeln würde, doch ich schob dieses Gefühl auf die Sorge um Inea und den Stress, welchen dieser Wilhelm verursachte. Noch immer scheint es mir unbegreiflich, dass er hinter all dem steckt und nicht selten argwöhne ich, dass auch dies nicht seine wahre Gestalt sein könnte. Womöglich hat der eigentliche, unbekannte Magier den echten Wilhelm ermordet, um fortan in seiner Gestalt umherzuwandern. Dies würde auch dazu passen, dass er sich zurückzog, nachdem er im Kampf beinahe tödlich verletzt worden war.
»Lord, nennt er sich …«, schnaube ich abfällig und schüttele grimmig den Kopf.
Hasserfüllte Wut staut sich in mir darüber an, dass er mir meine Magie geraubt hat. Meine geballte Faust saust auf das Bett nieder, was diese gemütliche Oase definitiv nicht verdient hat.
Keinesfalls sollte ich mich derart gehenlassen.
Ein kräftiger Atemzug, der den Duft von Sand, Salz und Palmen mit sich trägt, verleiht meinem Gemüt wieder ein wenig Abkühlung.
Die seltene Gabe des Gestaltwandelns fällt in den Bereich der Lichtmagie, wogegen es sich bei Sandro und damit zwangsläufig auch bei seinem Vater um einen Umbro handelt. Offenbar hat er sich mit Wilhelm zusammengetan, um aus den beiden Polen der Magie ein teuflisches Spinnenwerk zu kreieren, das sich als weit mächtiger herausgestellt hat, als ich zunächst ahnte. Einen Menschen darüber zu kontrollieren ist eine Sache, aber ihn seiner Magie zu berauben, eröffnet eine weitere Dimension abartiger Allmachtsfantasien.
Schließlich greife ich doch wieder zu dem mobilen Telefon und dieses Mal stelle ich tatsächlich eine Verbindung zu Liliana her. Nach einigen Freizeichen vernehme ich ihre liebliche Stimme an meinem Ohr: »Ach, wie schön, dass du dich meldest, Torin«, grüßt sie. »Ich hoffe, trotz dieser herausfordernden Zeiten verlebt ihr einen erholsamen Urlaub.«
»Sei gegrüßt, Liliana.« Ein unwillkürliches Räuspern befreit sich aus meiner Kehle. »Nun, es gab einige Probleme. Bitte überprüfe zunächst, ob dein Kommunikationskristall noch voll funktionsfähig ist.« Meine dunkle Stimme lässt nichts von der Hilflosigkeit erahnen, in die mein Innerstes gestürzt war. Von klein auf wurde ich darauf trainiert, sämtliche Emotionen hinter einer harten Schale zu verbergen, sodass es mir nun, nachdem ich mich einigermaßen wieder gefasst habe, leicht gelingt, Stärke zu mimen.
»Weshalb? Du klingst, als hätte dich etwas heftig aus der Bahn geworfen. Was ist los, Torin?«
»Sieh nach dem Kristall«, schnaube ich entnervt.
Ich hätte wissen müssen, dass man vor Ineas feinfühliger Tante nichts geheim halten kann.
»Na gut. Ich habe ihn hier vor mir liegen. Er reagiert auch auf mich, doch taucht dein Bild nicht auf, wenn ich dich darüber anrufe. Was ist da los?«
Die Schmach, über meine versiegte Magie zu reden, bringe ich jedoch nicht über mich.
»Da mein Kristall defekt ist, übernimm du bitte die Aufgabe, die anderen Magier über Folgendes zu informieren: Wie wir nun wissen, beherrscht Wilhelm das Gestaltwandeln. Offenbar arbeitet er mit Sandros Vater zusammen, einem Umbro mit Namen Randolf Martens. Von ihm wissen wir, dass er Menschen mittels einer Zecke eine mikroskopisch kleine Spinne in die Blutbahn injiziert. Diese dockt sich im Gehirn an, um dort die Kontrolle zu übernehmen. Markus steht bereits unter dieser Fremdbestimmung und zum Schutze aller, muss er sofort festgenommen werden, sollte er irgendwo auftauchen. Im Grunde können wir nun niemandem mehr trauen. Vermutlich beeinflusst diese Spinne auch die Magie eines Magiers.« An dieser Stelle halte ich inne und schlucke, um den sich anbahnenden Zitteranfall in den Griff zu bekommen.
»Oh mein Gott! Das klingt ja furchtbar! Und gibt es weitere Menschen, die davon betroffen sind?«, erregt sich Liliana. »Geht es Juli und Inea gut?«
»Ja, sorge dich nicht. Die beiden sind wohlauf.« Meine Erleichterung darüber hält sich jedoch in Grenzen angesichts der steten Bedrohung, in diesem Fall durch meine eigenen Hände …
Auch meine Idee für ein Passwort unter den nicht ferngesteuerten Beteiligten erscheint mittlerweile obsolet. Dabei müsste ich mich nun selbst ausschließen und es erscheint mir vage, ob dieser Lord derartige Informationen einem okkupierten Hirn zu entnehmen vermag.
»Torin, ich bitte dich! Erzähle mir, was geschehen ist …«
»Nun, Amalia Julia wurde von Markus angegriffen, doch es ist ihr nichts zugestoßen. Zudem verfügt sie über ungeahnte Schattenfähigkeiten.« In der Hoffnung, dass sich Liliana mit diesen Informationen zufriedengibt, drängt es mich nun, das Gespräch rasch zu beenden. »Inea und ich werden unser Möglichstes tun, um die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen. Gib derweil auf dich acht und informiere zeitnah die anderen Magier.«
»Ja, natürlich, das werde ich tun. Wann kehrt ihr denn wieder zurück von Südfrankreich?«
»Sei gewiss, ich arbeite daran, die Sache zu beschleunigen.«
»Oh, aber was ist mit Julis Schulausflug? Willst du wirklich, dass sie ihn vorzeitig beendet? Ich meine, ich verstehe natürlich die Dringlichkeit, aber ich würde euch so wünschen, dass ihr noch ein wenig die Sonne an der Côte d’Azur genießen könntet. Nach allem, was ihr durchgemacht habt …«
»Während dieser Lord kontrollierende Spinnen verpflanzt und mein ferngesteuerter Freund versucht, meine Tochter umzubringen?«, bricht es nun doch ungehalten aus mir hervor.
»Oh mein Gott«, ruft Liliana entsetzt aus.
Verärgert darüber, die Fassung verloren zu haben, nehme ich einen tiefen Atemzug, bevor ich fortfahre: »Nun, im Augenblick können wir ohnehin nicht viel unternehmen. Im Grunde sind wir hier nicht weniger sicher als zu Hause, daher spricht eigentlich nichts dagegen, meiner Tochter noch ein paar Tage Erholung zu gönnen.«
Mein plötzlicher Sinneswandel entspringt meiner Furcht, ich selbst könnte zur Gefahr für Julia werden, daher kam mir der Einfall, sie hier in Ineas Obhut zu belassen, während ich alleine zurückreise. Zuvor bleibt mir jedoch nicht erspart, ein intensives Gespräch mit meinen Lieben zu führen, auch diesen Sandro sollte ich mir vorknöpfen.
Dabei schweift mein Blick unwillkürlich zum Fenster. Ob es dem Zufall geschuldet ist oder ob dieser Kerl meine Gedanken aufgefangen hat, lässt sich nicht sagen, doch just in diesem Moment spaziert ein dunkelhaariger junger Mann auf dem etwas entfernten Hauptweg vorüber. Bedauerlicherweise hatte ich ihn nur flüchtig wahrgenommen, als ich ihm am Strand begegnete, kurz nachdem meine Tochter den vermeintlichen Wilhelm in meiner Gestalt niederschlug, daher bin ich mir nicht sicher, ob es sich bei diesem Jungen tatsächlich um Sandro handelt.
Achtlos lege ich das Mobiltelefon aufs Bett. Das sanfte »Torin?«, welches entfernt daraus ertönt, nehme ich schon nicht mehr wahr, während ich eilig das Ferienhaus verlasse.
Palmen, Binsen, Schilf und Stachelpflanzen umrahmen den von einem Bach gespeisten Seerosenteich. Ich überquere das Gewässer über eine hölzerne Brücke, um dem sandigen Fußpfad bis zur Kreuzung zu folgen. Hier spazieren mehrere leicht bekleidete Familien und Pärchen, doch der junge Mann scheint verschwunden.
Femmock!
Sollte sich der Umbro magisch tarnen, so ist es mir nun nicht einmal mehr möglich, die Täuschung zu durchbrechen.
»Du suchst nach mir?« Ich fahre herum und starre in das dunkle Augenpaar eines jungen Mannes.
Er war direkt hinter mir gestanden, ohne dass ich ihn bemerkt hatte!
Ohne meine Fähigkeiten komme ich mir vor wie erblindet und versuche vehement dieses widerliche Schwächegefühl zu verscheuchen, welches an meinem Selbstwert zupft.
»Dein Name ist Sandro?«
»Ja.« Etwas Misstrauisches liegt in den zu Schlitzen verengten Augen und auch ich selbst bin mir im Unklaren, wo ich diesen jungen Mann einordnen soll. Für gewöhnlich hätte ich ihn magisch durchleuchtet, nun bleibt mir nichts andres übrig, als mich einzig und allein auf meine menschliche Intuition zu verlassen.
»Dann komm mit!« Gefolgt von Sandro wende ich mich ab und marschiere zurück zu Ineas und meiner Holzhütte. Drinnen bedeute ich dem jungen Mann, sich auf dem Sessel niederzulassen, wogegen ich mir einen Stuhl nehme, um mich ihm gegenüber zu platzieren.
Das ist also der junge Mann, von dem meine Tochter so überschwänglich schwärmt …
Da mir meine Magie versagt bleibt, mustere ich ihn eingehend. Ohne eine Miene zu verziehen, begegnet er meinem kritischen Blick. In seinen wachen Augen spiegelt sich etwas, das mich an mich selbst erinnert: eine Härte, die das Leid aus einem Menschen schmiedet und tiefsitzender Argwohn, welcher unzähligen negativen Erfahrungen entspringt.
»Mein Erzeuger hasst dich«, beginnt er plötzlich das Gespräch, nachdem wir uns eine Weile stumm taxiert haben. »Schattenlord!« Das letzte Wort wirft er mir voller Sarkasmus vor meine Füße, welche in unwürdigen Sandalen stecken. In diesem Aufzug muss sein Eindruck von mir zwangsläufig vernichtend ausfallen.
Um nicht die Beherrschung zu verlieren, richte ich mich kerzengerade auf und pariere seinen Angriff: »Nun, ganz im Gegensatz dazu, lobt dich meine Tochter bis in die höchsten Sphären. Wollen wir sehen, ob sie sich irrt«, erwidere ich, die Stirn tief in Falten gezogenen.
Sandro presst die Lippen zusammen und mustert mich mit schief gelegtem Kopf. »Wie bringst du es fertig, deine Magie so gut zu tarnen, dass nichts davon zu spüren ist?«
Nur mit Mühe widerstehe ich dem Drang, mich zu räuspern.
»Dir sollte klar sein, dass Fähigkeiten nicht jedem preisgegeben werden. Aber nun zu dir. Julia berichtete uns von magischen Spinnen, die über Zecken ins Gehirn ihrer Opfer geschleust werden. Berichte mir mehr darüber. Wie wirken sie und wie könnte man sie ausschalten?«
Sandros Leib versteift sich, während er mich kritisch taxiert. »Du verbirgst dich vor mir. Ich vertraue dir nicht.«
»Du vertraust Juli. Sie ist meine Tochter.« Mein Tonfall klingt hart und unnahbar, so wundert mich sein Misstrauen wenig, doch benötige ich dringend diese Distanz, um meine Schwäche zu kaschieren.
Ein hämisches Schnauben entweicht Sandros Kehle. »Ich vertraue auch mir selbst, jedoch nicht meinem Erzeuger. Das ist nicht dasselbe.«
»Wohl wahr«, muss ich gezwungener Maßen zugeben. »Auch ich litt unter meinem Erzeuger, Nehef Sorbat.«
Sandro nickt, wobei mich seine Augen zu durchleuchten versuchen. Das ungute Gefühl, ihm derzeit magisch weit unterlegen zu sein, lässt sich nur äußerst mühevoll unter Kontrolle bringen. Ich sollte dieses Gespräch beenden, bevor mich dieser naseweise Jüngling am Ende der Lächerlichkeit preisgibt.
»Was stimmt nicht mit deiner Magie? Du verheimlichst etwas«, prangert er mich prompt an. Sollten seine Fähigkeiten ähnlich gelagert sein wie die von Markus, liest er meine Gedanken, ohne dass ich in der Lage wäre, mich vor ihm abzuschirmen.
Ich bin versucht, ihn aus der Hütte zu schmeißen, doch andererseits sind wir dringend auf seine Hilfe und Loyalität angewiesen. Es fällt mir schwer, es mir einzugestehen, doch Sandro ist der Schlüssel, mit dem am Ende der Lord, Wilhelm und die Spinnen unschädlich gemacht werden können. Ich selbst fühle mich weder emotional noch magisch in der Lage, etwas zu bewirken. Selbst wenn man es mir optisch nicht ansieht, und ich es meist nicht wahrhaben will, doch mit den vielen Jahren ist der Lord der Schatten tatsächlich gealtert. Auch wenn dieser Prozess bei Magiern sehr viel langsamer vonstattengeht als bei normalen Menschen, setzt selbst bei ihnen irgendwann die Degeneration ein. Tief durchatmend schließe ich die Augen. Ob es mir passt oder nicht, es führt kein Weg daran vorbei, ich muss mich diesem Kerl öffnen, um sein Vertrauen zu gewinnen.
»Als … ich im Ratssaal niedergeschlagen wurde …« Die Worte perlen äußerst träge über meine Lippen. »… während der Ohnmacht muss etwas mit mir geschehen sein, das mir nun die Magie raubt.«
Sandros Augen weiten sich merklich. »Deshalb ist nichts davon zu spüren«, erkennt er.
»Behandele diese Information vertraulich!« Mein harscher Tonfall entspringt der Furcht über diese Schwäche. Nach einem tiefen Atemzug fahre ich ruhiger fort: »Ich erzählte dir das, damit du mir dein Vertrauen schenkst.«
Sandros Nicken reicht mir als Zustimmung aus, da seine Körperhaltung und der direkte Blick aufrichtig wirken.
»Dann frage ich dich nun direkt:«, fahre ich fort, »sind diese Spinnen in der Lage, die Magie eines Magiers zu blockieren oder abzusaugen?«
»Mein Erzeuger hat nichts davon verlauten lassen, doch ausschließen möchte ich es nicht.«
»Gelingt es dir mit deiner Magie zu erfühlen, ob mir eine solche Spinne eingesetzt wurde?«
»Schwierig, aber ich werde es versuchen.« Sandro erhebt sich, tritt an mich heran und legt seine Hände auf meinen Kopf. Die Situation erscheint mir unwirklich, mich von diesem jungen Kerl untersuchen zu lassen. Es scheint mir, als sei die Macht des Schattenlords nun endgültig gebrochen. Unerträgliche Ohnmachtsgefühle schwappen über mich hinweg. Doch für meine Tochter, für Inea, Markus, Liliana und all die Menschen, die mir in diesem Leben etwas bedeuten, lasse ich die Prozedur über mich ergehen. Für sie bringe ich dieses Opfer in Demut. Es gilt nun, den letzten Rest an überheblichem Stolz abzulegen, während die warmen Hände des Jungen auf meinem Haar liegen, das genauso pechschwarz glänzt wie das seinige. Das Prickeln seiner Magie durchflutet mein Haupt, dann tritt er zurück und lässt sich wieder auf dem Sessel nieder.
»Die Spinne selbst konnte ich nicht aufspüren, dafür tarnt sie sich zu gut, doch ich denke, ich konnte sie anhand des Sogs im Zentrum des Hirns orten. Dort scheint sich eine Art Portal zu befinden, von dem deine Magie absorbiert wird.«
Ich kann förmlich spüren, wie alles Blut aus meinen Wangen entweicht und nichts als aschfahle, blasse Haut zurücklässt.
»Besteht eine Möglichkeit, sie zu vernichten, oder zu deaktivieren?« Das Beben meiner Stimme ist nun kaum zu überhören, doch noch während ich spreche, schüttelt Sandro den Kopf.
»Nein. Wir haben sehr viel Zeit darauf verwendet, sie gegen magische und physikalische Eingriffe zu schützen. Ich habe eben versucht, sie zu vernichten, doch alle Magie, die ich hineinschickte, wurde ebenfalls vom Portal absorbiert.«
Meine Backenzähne beginnen unwillkürlich aufeinander zu mahlen. Der Vorwurf, dass sich dieser Kerl an solch einer teuflischen Entwicklung beteiligt hat, liegt in der Luft, dennoch hüte ich mich, etwas Derartiges auszusprechen. Sandro wurde getäuscht und benutzt und hat sich nun für die richtige Seite entschieden. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es kein leichter Schritt ist, sich vollkommen von seinem Erzeuger abzuwenden.
Doch hat er das wirklich? Wie läge der Fall, wenn er lediglich als Spion eingesetzt wurde? Können wir ihm tatsächlich trauen?, durchströmen mich mit einem Mal Zweifel.
»Du misstraust mir«, antwortet er auf meine Gedanken.
»Nun, ich denke, wir beide sind von zahllosen Erlebnissen gezeichnet, die das Vertrauen in die Menschen nachhaltig erschütterte. Dennoch bleibt uns nichts anderes übrig, als zusammenzuarbeiten, damit die Welt am Ende nicht unter der Grausamkeit zweier neuer Herrscher leidet.«
Wieder nickt Sandro. »Wie bei Nehef Sorbat.«
»Damals war es meinem Erzeuger geschuldet, nun ist es der deinige.«
Zum ersten Mal zeichnet sich ein dünnes Lächeln um Sandros Mundwinkel. »Wir haben mehr gemeinsam als ich dachte …« Er deutet auf eine Narbe an meinem linken Handgelenk, die ich dem Gebiss eines Natternfisches verdanke. Schon rauscht die entsprechende Erinnerung durch meinen Geist: Mit knapp sechs Jahren wurde ich von Sorbat in ein Becken dieser gefräßigen Räuber geworfen. Noch heute fühle ich die schuppige Haut karpfengroßer Fische an meinen Beinen und die Todesangst, mit der ich verzweifelt um mich schlug. Inzwischen sind die verblassten Abdrücke der spitzen Zähne nur noch für geübte Augen zu erkennen.
Sandro demonstriert mir seinen linken Arm, wo sich ein ähnliches Muster um den Ellenbogen abzeichnet. »Natternfisch, nicht wahr?«
Nun ist es an mir, stumm zu nicken.
»Ich denke, du bist in Ordnung, Papa von Juli, wenn auch wesentlich schwächer als ich dachte.«
Diese Beleidigung trifft mich deshalb bis ins Mark, weil er recht damit hat.
»Ein hartes Urteil, wenn man dazu erzogen wurde, Stärke zu demonstrieren«, brumme ich missmutig.
»Ich kenne die andere Seite der Ohnmacht nur zu gut«, gibt der Junge zu, was ihn in meiner Sympathie deutlich steigen lässt.
»Wann ist zu erwarten, dass der Lord versuchen wird, mich über die Spinne zu kontrollieren?«, kehre ich zum eigentlichen Thema zurück.
»Schwer zu sagen. Soweit mir bekannt ist, benötigt sie mindestens eine, meistens aber mehrere Wochen, um neue neuronale Verbindungen zu knüpfen. Ich denke, mit etwas Aufmerksamkeit wirst du spüren, wenn die Fremdsteuerung zunimmt.«
»Nun, seit Markus’ Entführung vergingen über vier Wochen bis er Juli etwas antun wollte, davor war ihm nichts anzumerken, außer dieser Amnesie. Es war Anfang Juni, als ich bewusstlos im Ratssaal erwachte. Auch ich konnte mich nicht erinnern, was geschehen war. Seither sind nun etwa zehn Tage vergangen.«
»Folglich setzt etwa nach dieser Zeit der Sog ein. Hatte Markus ebenfalls derartige Probleme?«
»Darüber ist mir nichts bekannt.«
»Womöglich war die Anlage dazu zwar schon vorhanden, doch der Lord nutzte sie noch nicht, damit niemandem die Veränderung auffällt. Jetzt, da seine Machenschaften offenliegen, braucht er sie nicht mehr zu kaschieren und geht in die Offensive, damit ihm die von der Spinne besetzten Magier nicht mehr gefährlich werden können.«
»Gut gefolgert. Demnach ist die Spinne bereits zu einem früheren Zeitpunkt einsetzbar, dies wird jedoch erst dann offensichtlich, sobald der Lord auch tatsächlich die Steuerung übernimmt. Hältst du es für möglich, dass er bereits unsere Gespräche über mich mithört?«
»Gewiss nicht, während die Magie abgesaugt wird. Es muss Magie in deine Richtung fließen, um deine Steuerung zu übernehmen. Vermutlich wirst du während der Fremdkontrolle auch wieder Magie wirken können.«
»Somit mutiert jeder Magier zum perfekten Werkzeug«, antworte ich düster. Sandros Schlussfolgerungen ergeben durchaus Sinn, muss ich zugeben. Der Junge gefällt mir zunehmend besser, insbesondere, weil er mich an mich selbst erinnert. Der Inhalt seiner Aussage behagt mir dagegen weit weniger, denn als äußerst mächtiger Magier könnte mich dieser Lord dazu missbrauchen, unvorstellbaren Schaden anzurichten. Dabei würde es nicht einmal helfen, mich in einer tiefen Schlucht in Ketten zu legen, da ich diese mit Leichtigkeit pulverisieren und eine Treppe in den Felsen fräsen könnte.
Die Kommissura!
»Wie du gewiss weißt, verfügen wir über ein magisches Tattoo, das es uns lediglich erlaubt, Zauber zu wirken, die von wohlwollenden Gefühlen begleitet sind. Könnte die Kommissura nach deiner Einschätzung einen zerstörerischen Zauber, der von der Spinne angeleitet wird, verhindern?«
»Dazu habe ich keine Information, aber ich könnte mir vorstellen, dass durch die Fernsteuerung die Begrenzung des Tattoos umgangen werden könnte.«
Es kommt mir beinahe absurd vor, doch wenn dies den Tatsachen entspricht, müsste ich meine potentiellen Fähigkeiten mittels der Kommissura blockieren, um meine enormen zerstörerischen Kräfte zu bannen.
»Ich danke dir für deine Offenheit. Da ich nun nicht mehr in der Lage bin, für die Sicherheit meiner Tochter zu sorgen, möchte ich dir diese Aufgabe überlassen. Willst du das übernehmen?«
Sandro steht auf und hebt die Hand zum Schwur. »Ich schwöre bei meinem Leben, Amalia Julia von Arkantis vor allen Gefahren zu schützen.«
»Danke!« Ergriffen von dieser Geste, erhebe ich mich ebenfalls und lege ihm freundschaftlich meine Hand auf die Schulter. »Und es wäre mir sehr recht, wenn dieses Gespräch unter uns bliebe.«
Sandro nickt. Derartiges geschieht äußerst selten, doch ich habe das Gefühl, mich auf diesen Jungen absolut verlassen zu können.
Julia, Provence, Freitag, 11. Juni
In der Luft schwelt eine Spannung, die nichts Gutes verheißt. Das üppige Frühstück liegt mir schwer im Magen. Mama und ich sitzen auf der Couch in der Lodge meiner Eltern. Sichtlich nervös hockt mein Vater auf dem Stuhl gegenüber, richtet sich gerade auf und atmet tief durch.
»Nun …« Er räuspert sich, sucht nach Worten. Noch nie habe ich meinen Vater so sprachlos erlebt, eine Tatsache, die nicht gerade zu meiner Beruhigung beiträgt.
»Was ist denn, Torin?« Mama versucht, Ruhe auszustrahlen, dennoch nehme ich das sanfte Beben ihrer Stimme deutlich wahr.
»Eine dieser verruchten Spinnen sitzt in meinem Hirn«, bringt Papa schließlich zornig hervor, was nun schon eher seiner Art entspricht. »Und dieses verfluchte Vieh raubt mir meine Magie!«
»Oh, Torin, das ist ja furchtbar!« Mama will aufspringen, um ihn in den Arm zu schließen, doch mein Vater bedeutet ihr mit einer abwehrenden Geste seiner Hand, sitzenzubleiben.
Nicht auch noch Papa!, denke ich voller Entsetzen, doch er redet bereits weiter, sodass ich kaum Gelegenheit bekomme, das Gehörte sacken zulassen.
»Bei Markus hat es etwa einen Monat gedauert«, fährt er fort, »bis er ausfällig wurde, doch es erscheint mir, dass es auch früher hätte geschehen können. Der sogenannte Lord« – dieses Wort speit Papa erfüllt von Abscheu hervor – »hat wohl nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet. Da er meine magische Potenz gegen mich und andere richten könnte, sobald er mich unter seiner Kontrolle weiß, wird mein erster Schritt nun sein, mich selbst durch die Kommissura zu begrenzen. Weiterhin werde ich die verbleibende Zeit nutzen, diesen sogenannten Lord ausfindig zu machen. Sollte mir das zeitnah nicht gelingen, werde ich einen Ort aufsuchen, der so fernab liegt, dass ich für niemanden zur Gefahr werden kann. Wenn all diese Versuche fehlschlagen, muss ich über eine finale Lösung nachdenken …«
Bei jedem seiner Sätze erreicht mein Elend eine weitere Eskalationsstufe und mir ist natürlich klar, dass Papa mit der finalen Lösung darauf anspielt, sein eigenes Leben zu beenden.
Nein, nein, nein! Das darf alles einfach nicht wahr sein!
Mein Herz vollführt wahre Paukenschläge gegen meine Brust.
Gestern Abend konnte ich mich noch der Illusion hingeben, dass doch alles ein gutes Ende nehmen würde. Da schwang so eine wundervolle Harmonie zwischen Sandro und mir.
Ich schiele zu meiner Mutter hinüber, die mit zusammengepressten Lippen versucht, ihre Tränen zurückzuhalten, doch selbst im Profil kann ich das feuchte Glitzern darin erkennen. Ich selbst bin viel zu geschockt, um der Trauer Raum zu geben.
Jetzt hält Mama und mich jedoch nichts mehr auf dem Sofa, wir springen auf, um Torin in die Arme zu schließen. Er erhebt sich ebenfalls von dem Stuhl, schluchzt schmerzerfüllt. Auch das habe ich bei Papa noch nie erlebt. Im gemeinsam gefühlten Leid bricht mein Schmerz jetzt doch hervor. Eine gefühlte Ewigkeit halten wir uns gegenseitig in den Armen und bestätigen uns unsere Liebe zueinander. Selbst Papa, der es sonst nicht so damit hat, Gefühle zu zeigen und schon gar nicht, darüber zu reden, überschüttet mich förmlich mit seiner Liebe, was unaufhörlich neue Tränenbäche zutage befördert. Und ich muss feststellen, dass ich mich noch nie so verbunden mit meinen Eltern gefühlt habe wie in dieser schrecklichen Lage.
Wie solche Ausnahmesituationen einen doch zusammenschweißen können …
Ähnliches ist auch mit Sandro passiert, als wir gemeinsam die Gefahren des Unheilwaldes bestritten oder ich um sein Leben fürchten musste, als er sich vom Leuchtturm stürzen wollte. Häufig spürt man erst dann wirklich, wie sehr man einen Menschen liebt, wenn man ihn zu verlieren glaubt.
Als sich unsere Gemüter wieder etwas beruhigt haben, setzen wir uns aufs Sofa, dieses Mal hockt Papa zwischen Mama und mir und hält uns dabei in den Armen, als er sich nun mir zuwendet: »Meine Tochter, ich werde dir nun ein Geheimnis verraten: Es existiert ein Ort, an dem du Hilfe erhalten kannst, solltest du in große Not geraten. Du kannst ihn nur ein einziges Mal betreten, daher wähle den Zeitpunkt weise. Es handelt sich um einen geheimen Ort, dessen Existenz nur von einem Besucher zum nächsten weitergegeben werden darf …«
Das Glucksen, das plötzlich unter den Tränen meiner Mutter hervorbricht, deutet daraufhin, dass sie dieses Geheimnis bereits kennt.
»… der Zugang ist mit einem Rätsel verbunden, einem geheimen Wort, welches nur für dich bestimmt ist. Es lautet: Morgen.«
»Morgen? Was soll ich denn damit anfangen?« Frustriert schüttele ich den Kopf.
»Normalerweise siehst du dich jeden Morgen in der Lösung«, fügt Mama hinzu. »Damit habe ich hoffentlich nicht zu viel verraten, denn sonst löst sich der geheime Ort auf und das wäre eine Katastrophe. Aber mir wurde einst der Satz ähnlich formuliert, daher denke ich, das müsste so in Ordnung gehen.«
Wärme durchflutet mein Herz, denn bei diesem Thema funkelt wieder ein Hoffnungsschimmer in den Augen meiner Eltern.
»… dass du daran noch gedacht hast, Torin. Beinahe hätte ich diesen besonderen Ort schon vergessen«, fügt Inea kopfschüttelnd hinzu und schmiegt ihre Wange an die Schulter ihres Mannes, lediglich mich lässt dieser Satz noch immer mit gefühlten tausend Fragezeichen im Kopf zurück.
Aber immerhin, es gibt irgendwo Hoffnung und Hilfe, das ist ja schon mal was …
»Ihr solltet auch wissen, dass ich sowohl Ben als auch Beata bereits vor Markus gewarnt habe«, fügt Papa noch hinzu und ich will mir gar nicht ausmalen, wie es Ben nun damit geht.
Seit er mich mit Sandro zusammen gesehen hat, verhält er sich sowieso ziemlich merkwürdig und nachdem sein fremdgesteuerter Vater nun auch noch verschwunden ist, wendet er sich von mir ab, wann immer er mich sieht. Das schmerzt mich sehr, weil ich ihn als guten Freund vermisse. Wahrscheinlich sollte ich mich mal gründlich mit ihm aussprechen, doch im Augenblick ist mein Kopf viel zu voll von meinen eigenen Sorgen und Problemen.
Sandro, Provence, Freitag, 11. Juni
Möwen ziehen unter den schwarzgrauen Streifen hinweg, die die Wolken in den Morgenhimmel malen. Kaltes Salzwasser umspült meine Zehen. Meine Hose aus dem Leder eines selbst erlegten Fleckentigers ist bis zu den Knien hochgekrempelt. Versonnen hocke ich auf schwarzen rauen Felsen, wobei die Wellen rhythmisch meine Füße fluten. So bedrohlich schwarz wie sich das Meer noch vor kurzem hoch auftürmte, so friedfertig wogt es nun im sanften Hauch des Windes.
Analog dazu geschah Ähnliches in meinem Inneren: Die hohen Wogen haben sich mittlerweile geglättet und die Verzweiflung ist neuer Hoffnung auf ein besseres Leben gewichen. Die kurzen Momente, in denen ich davon kosten durfte, reichten zumindest aus, um diesen Hoffnungsschimmer am Leben zu erhalten, selbst wenn sich die derzeitige Lage, objektiv gesehen, alles andere als vielversprechend darstellt.
Noch immer rauscht das Gespräch mit Torin durch mein Hirn und ich muss zugeben, dass ich mir ein vollkommen verkehrtes Bild von ihm ausgemalt hatte. Statt einem tyrannischen, hasserfüllten und heimtückischen Mörder saß ich einem im Grunde gebrochenen Mann gegenüber, der ähnlich vom Leben gezeichnet wurde wie ich selbst. Nur zu gut kann ich nachempfinden, wie ihn der Verlust seiner Magie in die Ohnmacht treibt, schließlich war das widerliche Gefühl der Hilflosigkeit auch bei mir immer der größte Antrieb, Macht, Fähigkeiten und Stärke zu akkumulieren. Dieses Leid war es, das uns so mächtig werden ließ. Und doch fasse ich es kaum, dass sich mein einst so verhasstes Feindbild beinahe als Spiegel meiner selbst entpuppt, gipfelnd in der Narbe eines Natternfischgebisses.
Das leise Surren in der Hosentasche reißt mich aus der Versenkung. Nicht zum ersten Mal meldet sich der Kommunikationskristall, aber keinen der beiden Unmenschen, die mich auf diese Weise zu kontaktieren versuchen, will ich je wieder an mich heranlassen. Doch das summende Ding will nicht aufhören, meine Nerven zu martern.
Vielleicht sollte ich ihnen noch einmal klare Grenzen aufzeigen.
Kurz entschlossen ziehe ich den Kristall aus der Tasche und aktiviere die Verbindung. Das leuchtende Hologramm meines Erzeugers erscheint darüber.
»Sandro! Na endlich! Ich denke, wir sollten noch einmal miteinander reden und alles klären.«
»Wozu?«, fahre ich ihn zornig an. »Es ist alles gesagt und weitere Lügen kannst du dir sparen. Ich habe Torin kennengelernt. Er ist nicht das Monster, das du mir vorgaukeltest. Dieses Monster bist du selbst! Mein Leben lang hast du mich gequält, belogen und benutzt. Es ging dir ausschließlich um deine eigene Macht, alle anderen sind dir egal.«
Mein Erzeuger blickt mich stumm an. Ob es im Hologramm richtig dargestellt wird oder ob es sich lediglich um eine optische Täuschung handelt, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, doch zumindest scheint es so, als ließen ihn meine Worte nicht kalt. »Es tut mir leid, dass du so von mir denkst, Sandro. Aber ob du es glaubst oder nicht, du bist mir nicht egal, sonst würde ich mich doch nicht immer wieder bei dir melden. Ich wollte aus dir einen mächtigen, starken Magier machen und das ist mir doch auch gelungen.«
»Ja, aber wozu? Für DEINE Zwecke, nicht, weil es mir dient. Nie hast du mich gefragt, was ICH will, was für MICH gut wäre. Es ging dir einzig und allein um deine Macht. Du brauchtest einen Sohn ohne Kommissura und den hast du dir erzwungen. Mit wie vielen Frauen hast du so etwas versucht??? Wie viele hast du überwältigt und ihnen Leid angetan?«
»Hör auf!«, schreit mein Erzeuger, wobei ihm die Schuld ins Gesicht geschrieben steht. Immerhin scheint er doch so etwas wie ein Gewissen zu besitzen – schließlich sollen ja Wesenheiten existieren, denen dieses vollständig abhandengekommen ist.
»Ich sollte die Beschränkungen deiner Kommissura aufheben«, fahre ich unerbittlich fort, wobei sich meine Stimme beinahe überschlägt. »Dazu hast du mich trainiert, damit ich deine Macht wieder vollständig herstelle, die dir zu RECHT genommen wurde, bei all dem, was du verbrochen hast. Ich bin nicht aus Liebe entstanden, sondern aus Mittel zum Zweck! Weißt du, was das für ein Gefühl ist?«
Wieder schweigt er betroffen. »Ja, das weiß ich ganz genau.«
Eigentlich sollte es mich nicht erstaunen, dass auch mein Erzeuger aus keiner liebevollen Beziehung entsprungen ist, und doch schockiert mich in diesem Moment diese Erkenntnis, jedoch nicht so sehr, dass mich der Umstand zum Schweigen bringen könnte: »So? Und warum tust du das dann alles?«, zische ich.
»So ist nun mal das Leben, Sandro!« Seine Gesichtszüge haben sich wieder verhärtet und die gewohnte Kälte aus seiner Stimme gefriert in meinem Herzen. »Du musst lernen, dass es hart und unerbittlich ist und man nur darin bestehen kann, wenn man ebenso agiert. Komm auf meine Seite und gewinne oder bleib bei den dummen Schafen und verrotte.«
»Lieber sterbe ich, als an der Seite eines Mörders, Lügners und Verräters zu stehen. Und jetzt kontaktiere mich nie wieder!«
Der Kommunikationskristall erlischt und hinterlässt eine taube Leere in mir. Das Gespräch hat mich weit mehr aufgewühlt, als ich gewollt hatte. Taktisch wäre es sogar klüger, sich zum Schein mit ihm zu verbünden, um einen Weg zu finden, seine üblen Pläne zu durchkreuzen, doch dazu bin ich derzeit nicht in der Lage. Zu tief sitzt der Stachel, zu groß die Abneigung, um ihm in abgebrühter Weise Loyalität vorzuheucheln.
Julia, Eppstein, Sonntag, 13. Juni
Wieder zu Hause!
Deutlich verspätet hatte die französische Landesregierung die Côte d’Azur zum Sperrgebiet erklärt, weshalb alle Feriengäste angehalten waren, abzureisen. Den Einheimischen erging es nicht besser, da sie ihre Häuser während der staatlich angeordneten Untersuchung nicht verlassen durften.
Und alles wegen meiner Magie, die das Meer zeitweise in ein dunkles Schattenwesen verwandelte.
Aber nach Torins Ankündigung konnte ich den Aufenthalt ohnehin nicht mehr genießen, so war es mir nur recht, wieder nach Hause zu fahren.
Im Kopf meines Vaters sitzt eine Spinne!
Wieder und wieder hallt dieser Satz in meinen Ohren, weil ich es nicht fassen kann, dass er sich irgendwann genauso fremdgesteuert verhalten wird wie Markus. Das ist einfach grausig. Bei seiner Abreise sind Mama und ich noch einmal in Tränen ausgebrochen, seither haben wir ihn nicht mehr gesehen. Da Papa mit dem Auto zurückgefahren ist, hat meine Mutter Markus’ Platz im Schulbus eingenommen. Die Rückfahrt selbst verlief recht bedrückt, da hatte man sich schon auf viele erholsame Tage im Feriendorf gefreut, doch nun zerplatzte auch dieser Traum.
Da Mai den freien Platz neben Ben besetzte, gesellte sich Inea zu mir. Doch mir war nicht nach Gesprächen zumute, sodass ich während der gesamten Busfahrt schweigend vor mich hin döste. Die Zeit quälte sich so dahin, bis mich schließlich der Schlaf von meinen düsteren Gedanken erlöste.
Beladen mit Gepäck warten Sandro und ich jetzt im Hausflur darauf, dass Mama die Wohnungstür aufschließt.
Für mich ist er das einzige Highlight der derzeitigen Lage. Wider Erwarten hat Torin einen Narren an ihm gefressen und ihn sogar eingeladen, während seiner Abwesenheit das Arbeitszimmer in Besitz zu nehmen. Eigentlich hatte ich ja erwartet, dass Papa den unregistrierten Umbro bis aufs Mark durchleuchten würde, um ihm dann die Kommissura zu verpassen. Aber nichts dergleichen ist geschehen. Entweder hat Torin wegen der Spinne im Kopf vollkommen vergessen, dass diese Sache mit dem fehlenden Tattoo noch aussteht oder aber es war ihm einfach nicht mehr wichtig.
Wir betreten unseren Flur, welcher wegen seiner Größe gut als weiteres Zimmer gezählt werden könnte. Auf Sandros Stirn zeichnen sich leichte Falten ab, während er sich umsieht. Die Wohnung kennt er ja im Grunde, schließlich hat er mich wegen meiner Gehirnerschütterung hierhergebracht. Mama nimmt einen Schlüssel vom Brett und überreicht ihn Sandro feierlich. »Hier, damit du nicht immer läuten musst, wenn du rein möchtest.«
»Danke.« Mit unergründlicher Miene nimmt Sandro den Schlüssel entgegen und stopft ihn in die Brusttasche seines schwarzen Hemdes – analog zu seiner Magie scheint ihm diese Farbe am besten zu gefallen.
»Torin möchte, dass du sein Arbeitszimmer beziehst«, erklärt Inea. »Wir nutzen es auch als Gästezimmer, daher befindet sich ein Bett darin.« Sie wendet sich der Tür zu, die dem Eingang gegenüberliegt, und öffnet diese. Sandro betritt das Arbeitszimmer, welches sonst eigentlich nur mein Vater nutzt, und mustert mit kritischem Blick die Einrichtung: Ein schwarzer Massivholzschreibtisch samt antikem Stuhl und ein ebensolcher mehrtüriger Schrank, mit abgerundeten Ecken, die glattpoliert glänzen. Hinter der einzigen Glastür sind zwei Aktenordner sowie antike Gegenstände, wie Haifischzähne, Pfeilspitzen und Messer zu sehen, welche Sandros Aufmerksamkeit erregen. Dicke grüne Samtvorhänge hängen fast bis zum Boden des Altbauzimmers herab. Weißer Stuck verziert die Ecken der hohen Decke.
»Hier kannst du deine Sachen unterbringen«, bietet Inea an, wobei sie die hintere Tür des massiven Schrankes öffnet, doch da Sandro ohnehin kein Gepäck mit sich führt, wandert sein Blick stattdessen zum Bett, in dem sich dicke Federkissen unter der graugrünen Tagesdecke abzeichnen.
»Gefällt es dir?«, will ich nun doch wissen, als sich Missfallen in Sandros Blick abzeichnet. Mir selbst wäre es hier drin definitiv zu altbacken, aber Sandros Geschmack kenne ich ja nicht. »Wir könnten die Bettwäsche austauschen. Ich habs auch nicht so mit Federbetten.«
»Zu viel Luxus. Ich bevorzuge Einfachheit«, brummt er.
»Das könnten glatt Torins Worte sein«, bemerkt Inea, wobei sich ein dünnes Lächeln auf ihrem traurigen Gesicht abzeichnet. »Ich bringe dir eine einfache Wolldecke, die nutzt Torin auch immer am liebsten …« Nun muss Mama doch schlucken und auch mir wird ganz anders zumute, als mein Blick auf dem Paar schwarzer Schuhe hängenbleibt, das unterm Schreibtisch steht.
Während Mama die versprochene Decke holt, begegnen sich Sandros und mein Blick. Man könnte meinen, die Wirkung dieses Austausches würde mit der Zeit abflauen, doch zumindest bisher ist das noch nicht eingetreten. Dieses Mal scheint es mir, als würde sich mein Schmerz in seinen Augen spiegeln, ein Leid, das wir teilen und das uns auf eine intensive Weise miteinander verbindet. Dabei braucht es weder Worte noch Gesten, um diese Verbundenheit zu besiegeln.
Unter anderen Umständen hätte ich mich wahrscheinlich in den Himmel der Seligkeit gefreut, dass Sandro hier mit Papas Segen einzieht, aber dafür schmerzt mein Herz einfach zu sehr.
»Hier!« Mama überreicht Sandro die Wolldecke, die er dankbar nickend entgegennimmt. »Ich denke, dann lassen wir dich mal alleine, damit du dich in deinem neuen Zuhause akklimatisieren kannst. Bediene dich in der Küche mit allem, was du möchtest, ansonsten gib einfach Bescheid, wenn du etwas benötigst.«
»Danke.«
Sandro lässt sich auf dem Ohrensessel nieder, welcher aufs Fenster ausgerichtet ist. Zusammen mit meinem Koffer verharre ich reglos im Flur, erschlagen von den vielen ungewohnten Eindrücken. Die ganze Wohnung schreit förmlich nach Papas Anwesenheit: Sein geliebtes Schwert im Schirmständer, der schwarze Umhang in der Garderobe und nicht zuletzt der herbe Duft dunkler Magie, die noch immer die Luft hier drin zu schwängern scheint. Ohne sein Schwert wäre Torin früher niemals auf Reisen gegangen. Eine halb ausgetrunkene Teetasse in der Küche schafft es, Inea zu Tränen zu rühren, obwohl sie bereits Schimmel angesetzt hat.
Das darf doch alles nicht wahr sein!
Schwerfällig bringe ich das Gepäck in mein Zimmer, welches noch immer genauso aussieht wie vor der Abreise, und doch wirkt jetzt alles anders: Sowohl die Möbel als auch die Gegenstände darin strahlen plötzlich eine dumpfe, freudlose Energie ab. Ich schleife den Koffer in die Mitte des Raumes und lasse ihn dort einfach auf den Wollteppich plumpsen. Mir steht nicht der Sinn nach Auspacken.
Mein Blick schweift zum durchwühlten Bett, aber dort will ich mich jetzt nicht hineinkuscheln, denn ein beklemmendes Gefühl, keine Luft zu bekommen, treibt mich wieder aus dem Haus. Ich haste die Treppe hinunter, wobei ich den Nachbarn Leon-Friedrich auf seinem Weg zur Kanzlei im Erdgeschoss überhole. Mein monotoner Gruß verhallt im Nichts. Wahrscheinlich hat er ihn nicht mal gehört, da seine Nase in irgendwelchen Papieren steckt, welche er vor sich hinmurmelnd studiert.
Plötzlich reißt die greise Mutter des Anwalts die Wohnungstür im ersten Stock auf. »Leon-Friedrich?! Was ist mit deinem Dessert? Die Götterspeise isst du doch sonst so gerne …«
Seine Antwort höre ich nicht mehr, da die Haustür in diesem Moment ins Schloss knallt.
Alles wieder beim Alten, sollte man meinen …
Und doch schwebt ein bedrohlicher Schatten über mir, einer, der nichts mit meiner Magie zu tun hat. Immerhin bringt mich das Gackern der Hühner ein wenig auf andere Gedanken. Kaum klettere ich über den Geflügelzaun, hüpfen und stürmen mir die Vögel schon entgegen, in Erwartung einer Leckerei in Form ausgekratzter Reste vom Mittagessen. Doch damit kann ich heute leider nicht dienen. Die letzten Tage hat sich Ineas Freundin Beata um die Hühner gekümmert, das schien ihnen gut bekommen zu sein, denn sie wirken alle recht wohlgenährt. Dennoch stürzen sie sich wie immer gierig auf die Mehlwürmer, die ich für sie aus dem Schuppen hole. In diesem Moment frischt der Wind auf und trägt mir nun bereits bekannte Stimmen zu: »Die Küken sind längst flügge. Was treibst du immer noch im Nest?« »Wir waren dieses Jahr viel zu spät dran, ich mache mir einfach Sorgen und warte lieber hier, falls eines in Not gerät.«
Die Stimmen kommen eindeutig von oben und wie ich so den Hals recke und die Baumkronen durchstöbere, entdecke ich plötzlich in einer Astgabel ein Nest. Ein Rabe sitzt darin, ein anderer auf dem Ast daneben.
Also, stimmt es tatsächlich: Ich kann die Stimmen der Raben verstehen, solange der Wind weht?
»Hallo? Hört ihr mich?«, rufe ich hinauf. Doch mit dem nächsten Atemzug kneife ich erschrocken die Lider zusammen. Auf keinen Fall will ich jetzt in meinen Schatten gezogen werden. Zuvor hatte ich gerade noch beobachtet, wie die Raben mit schief gelegten Köpfen zu mir herabblickten.
»Meint sie etwa uns?«, krächzt das Weibchen.
»Unsinn. Menschen verstehen uns nicht …« Doch da trägt der abflauende Wind die Worte des Männchens davon und bringt die Stimmen zum Verstummen.
Mir scheint, dass diese beiden Raben nichts mit jenem zu tun haben, der sich eine spannende Geschichte wünscht. Aber offenbar hat dieser seltsame Vogel dahingehend die Wahrheit gesagt, dass ich die Sprache der Raben nur verstehe, solange der Wind weht.
Eine echt ungewöhnliche Magie …
Ich richte meinen Blick wieder zum Laub auf dem Boden und öffne die Lider.
Vor seiner Abreise wollte Torin unbedingt noch mit mir meine Magiefähigkeiten trainieren, doch das scheiterte vor allem daran, dass sich in Port Grimaud kein einziger Rabe blicken ließ. Während meiner Verwandlung hätte mich Papas Schatten sicher gut unterstützen können, doch ohne seine Magie wäre ich sowieso genauso auf mich alleine gestellt gewesen wie sonst auch. Daher war ich nicht traurig, dass keinerlei Training möglich war. Von Kontrolle kann zwar noch längst keine Rede sein, doch immerhin habe ich inzwischen schon ein paar Gesetzmäßigkeiten herausgefunden: Zum Beispiel, dass ich häufig woanders hin teleportiert werde, wenn ich gegen einen anderen Schatten anlaufe und dass es mich langsamer hineinzieht, wenn sich der Schatten nur blass und undeutlich abzeichnet. Als Schatten sollte ich besser auch nicht mit anderen Schatten reden, sonst entwickeln sie ein eigenes lebendiges Bewusstsein, so wie es mit der Ratte und sogar mit dem Meer passiert ist. Obwohl Letzteres durch dieses magiespeichernde Erz noch eine ganz andere Nummer war. Aber das Strontherium liegt ja jetzt zum Glück auf dem Grund des Meeres.
Sandro, Eppstein, Sonntag, 13. Juni
Fremd fühlt sich alles an in diesem Raum, der vermutlich für eine ganze Weile nun mein neues Heim sein wird. Das Mobiliar erinnert an das meines Vaters, was nicht gerade zum Wohlbehagen beiträgt. Offenbar teilen die alten Herren ihren Faible für polierte dunkle Massivholzmöbel sowie graugrüne Ohrensessel. Das hohe weiße Fenster mit dem Messinggriff wird außen von Efeu umrankt. Dieses Gewächs zieht meine Aufmerksamkeit auf sich, denn ich kann spüren, wie die Pflanze die Strahlung meiner Magie nach außen hin abschirmt.
Praktisch! So kann man von der Straße her als Magier nicht geortet werden.
Meine Gedanken wandern zur Feuermagierin. Ähnlich wie Juli erscheint sie mir von einer liebevollen Freundlichkeit erfüllt zu sein, doch nichts davon kann zu mir durchdringen. Die dumpfe Härte in meinem Inneren weigert sich, sich davon erweichen zu lassen. Das Einzige, was mir in dieser Lage Halt verleiht, ist meine neue Aufgabe: Juli um jeden Preis zu beschützen. Nicht, weil Torin es von mir erbat, sondern weil ich ohne sie ohnehin keinen Sinn mehr in diesem Leben sehe. Sie ist der Funken, der die beinahe erloschene Glut in mir wieder zum Auflodern brachte. Nie durfte ich ein solches Feuer in meinem Herzen spüren und doch sind mir diese intensiven Emotionen zuweilen suspekt. Zu beängstigend ist der Umstand, mein Gefühlsleben in Abhängigkeit von diesem einen Menschen zu wissen, auf zu fragilen Füßen steht dadurch mein inneres Konstrukt.
Doch was wäre die Alternative?
Mein Herz zu verschließen, habe ich viel zu lange vergeblich versucht. Dieser Weg scheint bei der Entsprechung nicht möglich zu sein. So bleibt mir nur, unabhängig davon Stärke in mir zu generieren, wobei mir noch schleierhaft ist, woraus ich diese ziehen sollte.
In meinem bisherigen Leben existieren kaum Lichtblicke, an denen ich mich festhalten könnte. Ein paar wenige freudvolle Momente erlebte ich mit meiner Mutter, wie sie mich in den Schlaf wiegte, oder sich über meine ersten Worte erheiterte. Und doch schwebte über dieser Beziehung stets ein dunkler Schatten der Unnahbarkeit. Inzwischen ist mir klar, dass dieser auf meinen Ursprung zurückzuführen ist.
Wie soll ein Weib einen Sohn lieben, der durch rohe Gewalt entstand?
So gesehen leistete meine Mutter wahrlich Großes, indem sie sich zumindest bemühte, über diesen dunklen Schatten hinwegzusehen und mir das zukommen zu lassen, was ein Zögling benötigt. Auch die Tatsache, dass sie mich aus freiem Willen niemals meinem Vater überlassen hätte, erfüllt mich mit Wärme.
Dabei kommen mir seine Worte wieder in den Sinn. Er deutete an, dass auch er selbst bei einer Vergewaltigung gezeugt wurde. Doch weder habe ich diese Frau je kennengelernt noch sonst jemand aus seiner Familie. Vermutlich wurde ihm dasselbe Schicksal zuteil wie mir, indem man ihn als kleines Kind der Mutter entriss, mit oder gegen ihren Willen. Dabei wird mir bewusst, wie wenig mir eigentlich von diesem Randolf Martens bekannt ist. Und mit einem Mal drängt es mich, mehr zu erfahren.
Wer sind meine Eltern?
Den Schlüssel zur Villa trage ich noch immer bei mir und mit etwas Glück kann ich die Räume meines Erzeugers während seiner Abwesenheit gründlich unter die Lupe nehmen. Etwas schwerfällig erhebe ich mich aus dem Ohrensessel – die Nacht im Bus neben dieser Ricky oder Vicky war alles andere als erholsam verlaufen. Zwar verzichtete sie auf ein ermüdendes Gespräch, doch dröhnt ihr rostiger Atem noch jetzt durch meinen Schädel. Das Geräusch behinderte sowohl einen erquickenden Schlaf als auch sinnvolle Gedankengänge.
Während die Feuerfrau in der Küche werkelt, schleiche ich mich aus der Wohnung und aus dem Haus. Im Hinterhof angekommen, erspähe ich Juli im Garten, mit einem Huhn auf dem Arm.
Diesen Faible fürs Federvieh hat sie sich behalten, denke ich mit Erinnerung an die gemeinsame Wanderung durch den Unheilwald, wo uns ihre Henne ein tägliches Ei spendierte. Seither hat sich doch so Einiges verändert und ich sehe die Schattenmagierin mit etwas anderen Augen: Nicht sie, sondern ich selbst hatte mich heillos in einem Irrweg verrannt.
Da bei ihr meine Tarnung nicht wirkt, verzichte ich auf einen Verschleierungszauber, aber auch so ist sie zu sehr mit den Hühnern beschäftigt, um mich zu bemerken. Mir ist nicht wohl dabei, sie alleine zurückzulassen, doch mitnehmen kann ich sie unmöglich und die Suche nach Antworten will mir partout keine Ruhe lassen. Lange werde ich nicht fernbleiben, daher kann ich nur hoffen, dass ihr in dieser Zeit nichts zustößt.
Raschen Schrittes marschiere ich Richtung Burg, um wenig später vor der Villa einzutreffen, die mein Erzeuger vor nicht allzu langer Zeit erworben hat. Rückblickend sind wir von Atlatica nur aus dem einzigen Grunde hierhergezogen, um Torin und seine Familie auszuspionieren und um Juli gefangen zu nehmen, mit dem Ziel, Druck auf den Schattenlord auszuüben. Damals hielt ich ihn noch für den Tyrannen, der den Wohltäter lediglich vorheuchelte.
Wie sehr ich mich irrte …
Beim Anblick der Villa mit ihren Erkern und Türmchen beschleunigt sich mein Pulsschlag. In meiner Aufregung kann ich keine fremde Magie feststellen, was nicht zwangsläufig bedeutet, dass mein Erzeuger abwesend ist, denn er vermag es vortrefflich, sich abzuschirmen. Ich erwäge, ihm vorzuheucheln, auf seine Seite wechseln zu wollen, sollte er mich überraschen.
Doch würde er meinem plötzlichen Wandel Glauben schenken? Schwer vorstellbar.
In meinem Zorn und meiner Verbitterung wäre es mir zudem kaum möglich, die erforderliche Ruhe zu bewahren.
Angespannt führe ich den Schlüssel ins Sicherheitsschloss ein. Wider Erwarten passt er noch immer.
Folglich hat mein Erzeuger bislang davon abgesehen, das Schloss auszutauschen, um mich auszusperren. Vermutlich rechnet er nicht mehr damit, dass ich noch einmal hier aufkreuzen könnte.
Die Eingangstür mit ihren geschnitzten Ornamenten aus weiß gestrichenem Holz gleitet nahezu lautlos nach innen und eröffnet mir den Blick auf den Eingangsbereich samt Portaltreppe. Kein Laut dringt an mein Ohr, bis ich die Tür, begleitet von einem sanften Klack-Geräusch, wieder schließe. Der Raum ist noch immer erfüllt von dem Bohnerwachs, welches die Putzfrau letzte Woche hier aufgetragen hat.
Derartigen Luxus einer Haushaltshilfe gönnte sich Randolf in unserer Atlatica-Behausung nie, wo lediglich seine Schergen die Drecksarbeit eher dürftig erledigen.
Angespannt lauschend steige ich die knarrenden Holzstufen empor. Für gewöhnlich zeigt sich mein Erzeuger auf der Galerie, sobald er meiner Ankunft gewahr wird. Heute jedoch bleibt alles still, was auf seine Abwesenheit hindeutet. Unwillkürlich nehme ich einen erleichterten Atemzug in der Hoffnung, dass Randolf nicht doch verfrüht zurückkehrt.
Mein Weg führt mich zu seinem Arbeitszimmer. Ein leises Knacken im Erdgeschoss lässt mich zusammenzucken. Mit angehaltenem Atem lausche ich in die Stille.
Nichts. Alles bleibt ruhig.
Vermutlich ächzt das alte Gebälk mal wieder.
Meine zitternden Finger schließen sich um die Messingklinke und drücken sie nieder, doch die Tür verharrt stur in ihrer Position.
Verschlossen!
Da ich mich in Südfrankreich bereits im Knacken von Schlössern geübt habe, versuche ich nun auch hier mein Glück, doch muss ich feststellen, dass ein magischer Schutz meinen Zauber behindert. Offenbar befindet sich in diesem Raum ein Geheimnis, das gut gehütet bleiben will. Dieser Umstand erregt nun jedoch erst recht meine Neugier, sodass mein Verlangen, dort einzudringen, mich nicht so rasch aufgeben lässt. Da mir die Tür zu gut gesichert scheint, wende ich mich dem Nachbarzimmer zu.
Mein Erzeuger hatte diese Villa voll möbliert erworben, weshalb auch dieser Raum mit antiken Möbeln ausgestattet ist. Da er bislang keine Verwendung fand, sind die beiden Schränke, der Sekretär und die Glasvitrine leer und unbenutzt. Ein leicht verstaubter, dunkelgrüner Sessel leistet dem runden Tisch Gesellschaft.
Schon einmal habe ich es in der verschütteten Mine fertiggebracht, Felswände zu verformen, da sollte es mit dieser Mauer doch ebenfalls möglich sein. Ich lege die Hände auf die Tapete über der Holzvertäfelung und konzentriere mich darauf, dieselben Gefühle zutage zu befördern, die mir damals halfen, Juli aus der Mine zu befreien. Meine Sorge, dass der Versuch mit Schwierigkeiten verbunden sein würde erweist sich als unbegründet, denn wider Erwarten entströmt sogleich ein Schwall inniger Verbundenheit meinen Händen. Nachdem ich mich meiner Entsprechung nun geöffnet habe, gelingt mir dies jetzt wohl auf Anhieb. Das Mauergestein verformt sich zu einer flexiblen Masse und weicht zur Seite, sodass ein Loch entsteht. Dahinter befindet sich ein Wandteppich, auf dessen Rückseite ich nun blicke. Geduckt trete ich hindurch, wobei ich den schweren Teppich beiseite schiebe, auf dem Napoleons Schlacht
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 10.11.2023
ISBN: 978-3-7554-6055-8
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