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FABOLON - RostRoter Rubin

 

FABOLON

 

RostRoter Rubin

 

 

Isabella Mey

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Band IV

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gegen sein Herz zu leben, kostet Energie,

ihm zu folgen erfordert Mut.

 

 

Verfolgt

Erde, Frankfurt, 25. Dezember

 

Der schwarze Stein thronte auf Majas Briefmarkenalbum, das wiederum auf einem Stapel an Büchern gipfelte, der auf dem Schreibtisch lag. Auf ihrem Drehstuhl hockend starrte sie ihn an, als sei er ein gefährliches Tier.

Mondstein hat Dario ihn genannt. Was das wohl bedeutet?

Ein eiskalter Schauer rann ihr den Rücken herunter, denn schon wieder stellte sie eine Veränderung fest. Es war so unheimlich, dass sich dieses Ding permanent verwandelte: Gerade noch hatte sich die Umgebung in der glatt polierten Oberfläche gespiegelt, dann wurde der Stein matter, wirkte allmählich poröser, bis er schließlich jegliches Licht absorbierte, was aussah wie ein schwarzes Loch im Bild. Die Veränderung vollzog sich stets so schleichend, dass Maja sie erst bemerkte, als der Unterschied zu dem Bild in ihrer Erinnerung deutlich hervortrat. Sogar die Form des Steins wandelte sich beständig, mal war er rund wie eine Murmel (zum Glück hatte sie ihre Murmelphobie überwunden) daraufhin dehnte er sich kaum merklich zu einem Ei aus, um dann wieder scharfe Ecken und Kanten auszuformen.

Maja schüttelte sich. Allein das Beobachten dieses Steins bereitete ihr ein schummrig-schlechtes Gefühl. Kein Wunder, dass Dario das Ding loswerden wollte.

Aber was soll ich jetzt damit? Vielleicht sollte ich ihn irgendwo vergraben.

Ach, wieso denn? Bist du nicht neugierig, was du damit machen kannst?, mischte sich Kiro ein.

Davon will ich nichts wissen. Mit diesem Ding kann man mit Sicherheit nur Übles anstellen.

Maja hob ihren Arm und betrachtete ihre schwarze Echse mit zusammengekniffenen Augen. Sie war zwar von den Ausmaßen her nicht größer geworden, dennoch wirkten ihre Formen weniger kindlich, die Zackenmusterung auf ihrem Rücken trat deutlicher hervor und an den Gelenken sprossen kleine Stacheln.

Warum veränderst du dich? Was hat das zu bedeuten?, fragte sie die Echse.

Nichts bleibt wie es ist, hast du das noch nicht gewusst? Und ich werde natürlich auch erwachsener und stärker und schlauer und mächtiger …

Schon wieder schüttelte sich Maja. Äußerst zwiespältige Gefühle schwappten über sie hinweg: Furcht, vor allem deshalb, weil sie nicht wusste, ob Kiro tatsächlich mächtiger und ihr damit gefährlicher wurde. Eine gewisse Sympathie für ihr Tattoo konnte sie jedoch nicht leugnen, außerdem spürte sie etwas Dunkles, Kaltes in sich, das sie nicht einordnen konnte. Zunächst hatte es sich so leise gemeldet, dass sie es kaum wahrgenommen hatte, doch in Momenten wie diesen, in denen sie alleine mit ihren Gedanken und Gefühlen war und sie sich obendrein mit einem Gegenstand irgendeiner dunklen Magie befasste, ließ es sich einfach nicht mehr ignorieren.

Ist etwa dieser Stein schuld daran? Oder liegt es an meiner dunklen Magie?

Ha, du spürst es also schon! Deine schwarze Magie wird stärker!, triumphierte Kiro. Irgendwann wirst du dich ihr nicht mehr widersetzen können.

»Sei still!«, wies Maja ihn nun hörbar zurecht. Vielleicht hatte das ja eine stärkere Wirkung.

Sie schob den Ärmel über ihre Echse und vergrub die Hand unter ihrem Schoß.

Aber was jetzt?

Maja musste diesen Stein loswerden, am besten sofort. Ihre Eltern besuchten heute Verwandte, die Großeltern waren wieder abgereist und Till und Samuel waren wegen einer Geburtstagsfeier außer Haus, daher wirkte die Stille heute beinahe erdrückend nach dem Trubel an Heiligabend. Und in die entstandene Leere drängten sich Sorgen wegen ihrer Magie und Erinnerungen an Dario und damit war sie bei diesem rätselhaften Mondstein hängengeblieben, von dem sie kaum den Blick abwenden konnte. Aber das war nicht gut. Ein dunkles Objekt durfte sie nicht derart in den Bann ziehen.

Abrupt erhob sich Maja und verließ ihr Zimmer, um in ihre gefütterte Winterjacke zu schlüpfen. Erst dann kehrte sie zurück, packte den schwarzen Stein, ohne ihn genauer zu betrachten, und versenkte ihn hastig in ihrer Manteltasche. Keinesfalls wollte sie diesem Ding mehr Aufmerksamkeit schenken als unbedingt notwendig. Aus dem Abstellraum holte sie die kleine Gartenschaufel und stopfte sie in die andere Tasche.

Hoffentlich ist der Boden nicht zu fest gefroren …

Nachdem sich Maja vollständig für den kalten, aber trockenen Wintertag eingekleidet hatte, verließ sie das Haus. Im Frankfurter Stadtteil Sossenheim gab es einen Auwald, wenn sie den Stein dort irgendwo vergrub, sollte ihn niemand finden können.

Sie traf genau in dem Moment an der Haltestelle ein, als der Bus einfuhr. Inmitten einer Menschentraube ließ sie sich hineinspülen und wählte einen leeren Platz weit hinten. Der Bus ratterte los und Maja schaute abwesend aus dem Fenster, während ihre Gedanken unablässig um Dario und diesen Stein kreisten.

Wie konnte ich mir nur einbilden, dass sich dieser dunkle Typ für mich interessiert? Das ist doch so was von idiotisch.

Sie kämpfte den schneidenden Schmerz nieder, der sich mit diesen Gedanken vermischte.

Die tiefe Stimme eines Kontrolleurs schreckte sie aus der Versenkung: »Die Fahrkarten bitte!« Drei Reihen vor ihr überflog er bereits die Tickets, welche ihm die Fahrgäste bereitwillig entgegenstreckten. Zwei weitere Männer kontrollierten vorne im Bus.

Heißes Blut schoss in Majas Wangen, während sie hastig in ihrer Manteltasche nach der Fahrkarte kramte, die sie völlig vergessen hatte zu lösen. Nicht einmal ihren Geldbeutel hatte sie eingesteckt. Alles, was sie zu fassen bekam, waren ein paar Münzen und der schwarze Stein.

Ärger wegen Schwarzfahrens konnte sie jetzt so gar nicht gebrauchen und ohne Ausweis würde man sie sicher auf die Wache mitnehmen, um die Personalien festzustellen.

Oh, bitte, übersieh mich einfach!, flehte sie inständig, wobei sie immer tiefer in ihren Sitz rutschte und sich ganz weit wegwünschte. Die Hand in der Manteltasche, spürte sie plötzlich, wie ausgehend von dem Stein ein eiskaltes Kribbeln ihre Finger hinauf zuckte. Es wanderte den Arm entlang, erfüllte den ganzen Körper und verschwand dann völlig. Wie vom Blitz getroffen ließ Maja den Stein los und schüttelte sich.

Was war denn das?

Der Kontrolleur hatte inzwischen Majas Reihe erreicht, doch statt sie nach der Fahrkarte zu fragen, wandte er sich einfach um und nahm auf einem leeren Sitz Platz.

Das gibt’s doch nicht. War ich das? Mit dem Stein? Habe ich ihn verhext?

Und wieder mischten sich Gefühle, die nicht recht zusammenpassen wollten. Einerseits war sie erleichtert, andererseits wog die Erlösung schwer in ihrer Brust und das beängstigend mächtige Erhabenheitsgefühl hinterließ einen schalen Nachgeschmack.

Einfach alles vergessen und den Stein so schnell wie möglich loswerden, sagte sie sich, während der Bus die nächste Haltestelle ansteuerte. Von hier aus war es zwar noch ein gutes Stück bis zu den Auen, aber länger hielt sie es hier drin nicht aus. Kaum kam das Gefährt zum Halt, erhob sich Maja und stürmte zum Ausgang, wo sie ungeduldig auf dem roten Knopf herumdrückte, bis die Tür endlich aufklappte.

»Da hats jemand aber eilig«, kommentierte ein älterer Herr, doch das überhörte Maja einfach. Sie stürmte hinaus in die Kälte und atmete erst einmal tief durch. Allerdings sollte die Erleichterung nicht lange anhalten, denn der einzige Fahrgast, der ebenfalls ausstieg, war der Kontrolleur. Zwar schaute er Maja nicht an, sondern eher irgendwie an ihr vorbei, aber dieser komisch in die Leere fixierte Blick war mehr als unheimlich. Sie wandte sich um und marschierte mit schnellen Schritten davon. Der Bus setzte sich wieder in Bewegung und der Kontrolleur ebenfalls – in dieselbe Richtung wie Maja.

Das kann doch nicht wahr sein! Verfolgt der mich etwa?

Sie beschleunigte ihren Schritt, woraufhin auch der Mann schneller ging. Düstere Vorahnungen drehten Schleifen ihn ihrem Kopf.

Verflixt nochmal! Wie werde ich den jetzt wieder los?

Während sie eilig weiterlief, schaute sie sich immer wieder um, wartete auf eine Lücke im regen Verkehr, die nicht kommen wollte.

Sogar am Feiertag war hier immer viel los. Als Maja an einer Kreuzung anlangte, an der die Fußgängerampel gerade auf Rot umschaltete, setzte sie zum Sprint an und rannte über die Straße. Gleich darauf brausten die Autos los, der Kontrolleur blieb auf der gegenüberliegenden Seite stehen, jedoch nicht, ohne Maja mit leerem Blick zu fixieren.

Und wenn das irgend so ein Perverser ist und die Verfolgung gar nichts mit meinem Stein zu tun hat?

Der Zufall kam ihr zu Hilfe, denn an der nächsten Haltestelle fuhr gerade wieder ein Bus ein. Sie sprintete darauf zu und hüpfte durch die offene Tür. Durch die Fenster sah sie schon den Kontrolleur eilig herannahen. Wenn sie jetzt noch eine Fahrkarte löste, würde der Bus zu lange halten und die ganze Fluchtaktion wäre umsonst gewesen. Daher warf sie sich in einen Sitz und betete, dass der Bus endlich losfuhr. Tatsächlich setzte er sich langsam in Bewegung. Maja atmete auf. Wenn ihr nicht schon wieder Kontrolleure einen Strich durch die Rechnung machten, wäre die Flucht geglückt. Dieses Mal ging tatsächlich alles gut, Maja stieg zwei Stationen später aus und begann ihren Marsch zum Ufer der Nidda.

Etwa eine halbe Stunde war sie unterwegs, bis sie den Auwald erreicht hatte. Hier lief sie quer durch den Wald bis zu einer dicken Eiche. Nur für den Fall, dass sie den Stein doch noch einmal ausgraben musste, benötigte sie einen Anhaltspunkt, um ihn wiederzufinden.

Zwischen den Wurzeln grub sie mit der kleinen Schaufel ein Loch in den Waldboden. Zum Glück war nur die Oberfläche etwas angefroren, die tieferen Schichten ließen sich locker lösen. Dort hinein legte sie den Stein und schüttete das Loch wieder zu. Die Stelle bedeckte sie mit Laub und Moos, sodass niemand erkennen konnte, dass hier jemand gegraben hatte.

Maja hätte jetzt erleichtert sein müssen, doch die Sache nagte an ihr. Die Aktion fühlte sich gar nicht gut an, ständig zweifelte sie, ob es tatsächlich richtig gewesen war, den Stein dort im Wald zu vergraben. Sie stapfte zwischen Sträuchern hindurch zurück, schaute sich immer wieder um, ob sie den Weg zu der Eiche zur Not auch wiederfinden würde. Um über die Nidda zu gelangen, passierte sie die Fußgängerbrücke zum anderen Ufer, wo sie an Feldern und Wiesen vorbeimarschierte. Ein eisiger Wind wehte ihr entgegen. Er zerriss die Wolkendecke und jagte einzelne Fetzen davon über den Himmel. Maja verschränkte die Arme und zog den Kopf ein, während sie weitermarschierte. Erst als sie die Schrebergärten erreichte, fing sich der Wind in den Hecken und Bäumen. Da entdeckte sie plötzlich in einiger Entfernung eine Gestalt, die verdächtig nach dem Kontrolleur von vorhin aussah.

Oh, nein! Nicht schon wieder! Wie hat der mich denn gefunden?

Statt ihm geradeaus entgegenzugehen, bog Maja nach links ab, in einen Pfad, der zwischen hohen Hecken hindurchführte. Sie legte einen Sprint ein, bog daraufhin wieder nach rechts ab, bis sie eine Straße erreichte, die nach Sossenheim hineinführte, so lange, bis ihr endgültig die Luft ausging. Keuchend hielt sie inne, stützte die Hände auf die Schenkel und schloss die Augen. Ein stechender Schmerz bohrte sich in ihre Hüfte.

Jetzt muss ich ihn doch abgehängt haben …

Sie suchte die Umgebung ab, konnte den Kontrolleur aber nirgends entdecken, daher setzte sie ihren Weg nun gehend fort. Doch kaum erreichte Maja die nächste Kreuzung, erblickte sie den Kontrolleur gerade mal zwei Häuser entfernt. Gemächlich schritt er mit starrem Blick auf sie zu. Maja keuchte entnervt. Abermals fing sie an zu rennen, bog um die nächste Hausecke in eine Seitenstraße. Sie musste sich gar nicht erst umsehen, um zu wissen, dass ihr der Kontrolleur folgte, da sie sein Getrappel deutlich hören konnte. Schon im Bus hatte sie unter seiner Uniform einen durchtrainierten, muskulösen Körper erahnt. Unter diesen Umständen war eine Flucht wohl aussichtslos.

Den Kontrolleur dicht auf den Fersen rannte Maja die menschenleere Querstraße entlang, bis sie zu der belebteren Hauptstraße gelangte. Einige Leute schauten sich um und hielten inne. Es musste ja so aussehen, als ob der Kontrolleur eine Schwarzfahrerin verfolgte, um sie zur Rechenschaft zu ziehen – wobei der erste Teil sogar stimmte – daher bremste Maja nun automatisch ab, um hoffentlich aus der allgemeinen Aufmerksamkeit wieder zu verschwinden. Um Hilfe zu rufen, wäre in dieser Lage wahrscheinlich auch nicht sinnvoll, vor allem dann nicht, wenn der Stein Schuld wäre an der Misere.

Immerhin fühlte sich Maja inmitten der Leute nicht mehr ganz so bedroht durch ihren Verfolger, der seine Geschwindigkeit ebenfalls gedrosselt hatte.

Da sich die Flucht nicht als sinnvoll erwiesen hatte, musste sie sich wohl oder übel mit diesem Kerl auseinandersetzen. Maja wandte sich um, woraufhin auch der Kontrolleur stehenblieb und an ihr vorbei stierte, als wäre sie gar nicht da.

»Warum verfolgen Sie mich?«, fragte Maja keuchend.

Er atmete fast gleichmäßig, als habe ihn der Sprint kaum angestrengt.

»Ich bin dir jederzeit zu Diensten«, erklärte er in monotoner Stimme, wobei er sich vor Maja verbeugte.

Sie schaute sich verlegen nach allen Seiten um.

Oh, Mann, hoffentlich hat das niemand mitbekommen.

Aber nachdem die scheinbare Verfolgung beendet schien, waren Maja und der Mann wieder aus der allgemeinen Aufmerksamkeit verschwunden und die Leute waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um das seltsame Gespräch mitanzuhören. Jedenfalls war jetzt ganz eindeutig der verfluchte Stein schuld an diesem komischen Verhalten des Kontrolleurs. Wie es aussah, konnte man damit Menschen seinen Willen aufzwingen und sie unterwerfen.

Ein schrecklich mächtiges Ding, das niemand in die Finger kriegen sollte …

»Du bist nicht mehr zu meinen Diensten. Ich entlasse dich. Du kannst gehen.«

Der Mann verbeugte sich, wandte sich ab und marschierte davon. Maja atmete erleichtert auf.

Puhhh, das ist ja noch mal gutgegangen.

Dieses Mal vergaß sie nicht, eine Fahrkarte zu lösen, bevor sie in den Bus stieg. Niemals wieder wollte sie in solch eine unangenehme Lage geraten. Es kam ja wirklich nicht oft vor, dass kontrolliert wurde, aber auf der Rückfahrt war es schon wieder soweit und obendrein stieg derselbe Kontrolleur wie vorhin ein. Er kontrollierte alle Fahrgäste wie gewohnt, bis er bei Maja anlangte. Angespannt beobachtete sie seine Reaktion.

O bitte, lass ihn nicht wieder so einen Blödsinn faseln …

Sie streckte ihm ihre Fahrkarte entgegen, die er geschäftig musterte, genau wie bei allen anderen, und dann einfach weiterging, als wäre nichts gewesen. Bei der nächsten Haltestelle stieg er aus und Maja atmete erleichtert auf. Sie glaubte, die Sache hätte sich damit erledigt, doch leider hatte sie sich getäuscht.

 

 

* * *

 

Die Weihnachtsfeiertage waren vorüber. Lisa, Benjamin und Cecilie saßen am Frühstückstisch, wobei Nora in der Wiege einschlummerte, während ihre Mutter ein Schlaflied sang. Von ihrer liebevollen zarten Stimme ging ein besonderer Zauber aus, der auch Lisa in den Bann zog. Sie konnte es ihrem Vater nicht verübeln, dass er sich zu Cecilie mehr hingezogen fühlte als zu ihrer Mutter. Lisa rutschte ein wenig unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, da ihr eine wichtige Frage auf dem Herzen lag. Sicher war es nicht der richtige Zeitpunkt, sie zu stellen, während Cecilie ihr Baby in den Schlaf sang, andererseits wartete sie nun schon länger vergeblich auf den perfekten Zeitpunkt. Jetzt war Nora eingeschlafen, doch Papa schlürfte gerade an seinem Kaffee, da wollte sie doch noch warten, bis er fertig getrunken hatte.

Doch gerade, als Lisa den Mund öffnete, um ihre Frage hervorzubringen, fragte Cecilie: »Kannst du mir mal die Butter reichen, Benni?«

Kein wirklich wichtiges Thema, doch die Unterbrechung ihres Anlaufes reichte Lisa aus, um den Mund wieder zuzuklappen. Gleichzeitig schämte sie sich für ihre Unbeholfenheit. Da hatte sie in Fabolon die gefährlichsten Abenteuer gemeistert und hier am Frühstückstisch traute sie sich nicht einmal, eine simple Frage zu stellen.

Während ihr Vater einen kräftigen Biss ins Brötchen tat, reichte er die Butter über den Tisch. Lisa schluckte und räusperte sich, doch es wollte einfach kein Ton herauskommen.

»Was liegt dir auf dem Herzen, Liebes?« Die Partnerin ihres Vaters schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, dennoch stieg Hitze in Lisas Wangen, peinlich berührt darüber, dass Cecilie ihre Unsicherheit bemerkt hatte.

»Ja, ich, äh … Ich würde viel lieber bei euch wohnen …«, brachte sie schließlich hervor.

»Und das hast du dich nicht getraut zu fragen?« Benjamin zog verwundert und auch ein wenig gekränkt die Brauen hoch. »Du weißt doch, dass du mit uns über alles reden kannst.«

»Ja schon … ich hatte halt Angst …« Lisa schluckte.

»Dass wir dich nicht bei uns haben wollen?«, ergänzte Cecilie mitfühlend.

Lisa nickte beschämt, denn weder sie noch ihr Vater hatten ihr das Gefühl gegeben, unerwünscht zu sein. Dennoch wühlte sie das Thema so auf, dass sich Feuchtigkeit in ihren Augen sammelte. Wahrscheinlich lag es jedoch eher an den Szenen, die sie bei ihrer Mutter erlebt hatte, die diese Gefühle nun zum Ausbrechen brachten.

»Ach, komm mal her.« Benjamin schob seinen Stuhl näher an den seiner Tochter heran und legte den Arm um ihre Schulter. »Ich weiß, du hattest es nicht leicht mit dem Streit zwischen deinen Eltern und ich muss gestehen, dass ich mich manchmal um einen Anruf gedrückt habe, aber das hatte nichts mit dir zu tun. Natürlich bist du jeder Zeit willkommen und wenn du lieber bei uns leben willst, werden wir dies organisieren. Du wärst doch einverstanden, Cecilie, oder?«

»Aber natürlich. Dann hätte ich im Notfall ja vielleicht auch eine liebevolle Babysitterin im Haus.« Ihre ehrliche Zuneigung berührte Lisa so sehr, dass es ihr die Tränen aus den Augen trieb. »Und wir haben ja noch einen großen Abstellraum, wenn wir den renovieren und schön herrichten, hättest du bei uns sogar auch ein eigenes Zimmer.«

»Eine hervorragende Idee«, stimmte Benjamin zu. »Ich meine aber, wir sollten das nicht überstürzen. Du bist ja bald fertig mit der Schule und vielleicht solltest du zuerst noch das Schuljahr zu Ende bringen.«

»Jaja, ich meinte auch nicht gleich sofort«, lenkte Lisa hastig ein.

Außerdem spielten auch ihre Freunde eine große Rolle bei dieser Überlegung. Es war doch oft hilfreich gewesen, wenn sie sich mit Maja und Felix nach einem Weltensprung von Fabolon auf der Erde austauschen konnte. Nach einem Umzug würde sie sie seltener treffen und höchstens übers Telefon kommunizieren können, was Lisa überhaupt nicht mochte.

»Huch, was hat sich denn da auf deiner Hand bewegt? Ist das ein Tattoo?«, stieß Cecilie plötzlich verwundert hervor.

Das schreckte Lisa augenblicklich aus ihren Gedanken. Die bunte Echse lugte tatsächlich unter ihrem Ärmel hervor und klimperte mit den Augen.

Oh, nein! Wie soll ich das jetzt erklären?

Es überkam sie der Drang, das Tattoo zu verstecken, doch das würde nur noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

»Ähm, ja, nur so ein Klebe-Tattoo.«

Sie schob den Ärmel hoch, präsentierte kurz die bunte Echse, um sie dann sofort wieder unter dem Stoff verschwinden zu lassen.

»So ein großes?«, wunderte sich Papa. An seiner Miene war abzulesen, dass er sich nicht entscheiden konnte, ob er es eher lustig oder doch seltsam finden sollte, dass seine sechzehnjährige Tochter noch Klebe-Tattoos verwendete.

»Und ich hätte schwören können, dass es sich bewegt hat.« Cecilie blinzelte sichtlich verwirrt.

»Tattoos können sich doch nicht bewegen …« Lisa bemühte sich um eine ausdruckslose Miene, was ihr sehr viel besser gelang als beim Einzugsthema.

Nora quäkte in ihrem Bettchen, sodass die gesamte Aufmerksamkeit zum Baby in der Wiege wanderte, und Lisa damit von weiteren Fragen erlöst war.


* * *


»Huch!«

Richard sandte einen Feuerstrahl in das aufgestapelte Holz seines Kamins, als ihn Helens Stimme zusammenfahren ließ. Er fuhr herum. Blinzelnd stand sie mitten im Wohnzimmer und starrte auf die lodernden Flammen. Ihm wurde heiß und kalt zugleich, denn er hatte sie gar nicht kommen gehört.

Bestimmt hat sie beobachtet, wie die Feuerstrahlen aus meinen Handflächen traten.

In Zukunft musste er unbedingt vorsichtiger sein.

»Nun haben wir ein herrliches Feuer im Kamin«, erklärte er betont unbekümmert. Er hielt es für das Beste, ihre Reaktion zu ignorieren.

»Ähm, ja. Verzeih, irgendetwas scheint nicht mit mir zu stimmen. Es sah doch tatsächlich so aus, als käme das Feuer aus deinen Händen …«

Sie schüttelte verwirrt den Kopf.

»Das ist wohl kaum möglich …«, antwortete Richard, doch das schale Gefühl, das ihn bei dieser Lüge erfüllte, färbte seine Stimme dumpf. Liebend gerne hätte er ihr die Wahrheit erzählt, doch wie würde sie darauf reagieren? Die Angst war einfach zu übermächtig, dieses Wesen zu verlieren, das ihm von allen Menschen auf der Welt am meisten bedeutete. »Ist der Tee schon fertig gezogen?«, wechselte er stattdessen rasch das Thema.

»Oh, ja, der Tee …« Sie lief in die Küche, um mit der dampfenden Kanne zurückzukehren. Richard drapierte das Teegeschirr mit dem Gebäck auf dem Wohnzimmertisch. Er ließ sich auf der Couch nieder und schaute dem Tanz der Flammen im Kamin zu, bis Helen mit der Teekanne hereinkam und sich zu ihm gesellte.

Da sie am Heiligabend bis in die frühen Morgenstunden wach geblieben waren, hatten sie bis zum Mittag durchgeschlafen.

»Wie war deine Nacht, Lieb …« Glühende Hitze stieg in Richards Kopf. Er räusperte sich laut, in dem sinnlosen Versuch, das Gesagte zu übertönen. »Ich meine, es war mein Kinder- und Jugendzimmer und ich hatte es liebgewonnen.«

Frau Kassandra nickte lächelnd.

»Ich habe herrlich geschlafen. So gut, wie schon lange nicht mehr. In diesem Zimmer sind so viele Erinnerungen, die man förmlich spüren kann. Das Gemälde von der alten Dampflock, war das dein Werk?«

»Gott bewahre, ein solches Kunstwerk bringe ich nicht zustande. Die Kinderzeichnungen, die ich selbst davon angefertigt habe, sind jedoch nicht für die Augen anderer bestimmt.«

»Allzu schade …«, antwortete sie bedauernd, wobei sie zuerst die Tasse des Rektors und daraufhin ihre eigene mit Tee befüllte. »Und weshalb nicht?« Helen schnappte sich etwas von dem Teegebäck und kaute darauf herum.

»Um mich nicht der Lächerlichkeit preis zu geben«, gestand er.

»Aber Richard, kaum jemand kann von sich behaupten, dass er Kunstwerke vollbringt, schon gar nicht als kleines Kind.«

»Mag sein, doch halte ich es für besser, nun das Thema zu wechseln. Nicht dass mich das beschämen würde …« Er nahm einen Schluck Tee, allerdings zu hastig, sodass sich ein Brennen in Mund und Rachen ausbreiteten. Doch gegen die Hitze von Flüssigkeiten war er offenbar immun, denn der Schmerz blieb aus. Diese Erkenntnis beschäftigte ihn nicht weiter, da ihm im Moment etwas anderes wesentlich wichtiger war. Richard atmete tief durch. »Was gedenkst du nun zu unternehmen?« Sein Herz flatterte so sehr, dass eine konkretere Frage nicht über seine Lippen kommen wollte.

»Wie meinst du das?«, erkundigte sich Helen mit schief gelegtem Kopf.

Abermals räusperte sich der Rektor. »Ich meine, du bist hier willkommen, wann immer du möchtest und so lange du willst. Was mich zu wissen dürstet, ist wie lange du zu bleiben gedenkst?«

Zu wissen dürstet, hallte es in Richards Kopf nach. Und zum ersten Mal regten sich gewisse Zweifel, ob seine antiquierte Ausdrucksweise womöglich doch nicht so gut bei Helen ankommen könnte.

Aber darauf ging sie zum Glück nicht ein. Sie stellte die Teetasse ab, von der sie gerade noch genippt hatte und sah ihn offen an.

»Ich fühle mich sehr wohl bei dir, doch im Moment ist alles für mich noch recht neu und anders, deswegen möchte ich mich ungern schon festlegen. Ich muss erst einmal zur Ruhe kommen, dann sehen wir weiter.«

Für Richard erschien es wie ein verliebtes Lächeln, das sie ihm nun schenkte und damit sein Herz erwärmte.

»Ja, natürlich. Verzeih meine ungestüme Frage, keinesfalls wäre mir in den Sinn gekommen, dich zu bedrängen.«

»Lass uns einfach die gemeinsame Zeit genießen und nicht an Morgen denken«, schlug sie vor.

Richard nickte, obwohl dieses planlose in-den-Tag-hinein-leben so gar nicht seinem Naturell entsprach. Gedankenversunken kaute er sein Gebäck. Die Sache mit dem Feuer ließ ihm keine Ruhe. Es fühlte sich nicht gut an, Helen immer wieder den Eindruck zu vermitteln, sie hätte sich das alles nur eingebildet. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie dieses lebendige Tattoo auf seiner Haut oder einen weiteren Ausbruch seiner Flammen bemerken würde. Selbst wenn er jetzt das Feuer besser beherrschte, es war mittlerweile so zu einem Teil von ihm geworden, dass er außerdem nicht mehr auf seine Anwendung verzichten wollte.

Ob ich es wagen kann, Helen in alles einzuweihen?

»Ich sehe es dir an, dir liegt etwas auf dem Herzen, Richard.«

Kaum merklich zuckte er zusammen. Es war ihm unangenehm, dass sie ihn so leicht durchschaut hatte.

»Nun.« Er seufzte tief. »Wie hältst du es mit Geheimnissen, Helen?«, begann er sich langsam vorzutasten.

»Geheimnisse?«, piepste sie mit hoher Stimme und wippte unruhig auf dem Sofa. »Jeder hat doch so seine Geheimnisse, oder?« Helen schielte ein wenig unsicher zur holzgetäfelten Zimmerdecke.

»Ja, mag sein«, antwortete Richard mit schiefgelegtem Kopf. Ein Winkel seines Verstandes flüsterte ihm zu, dass sich mehr hinter ihrer unerwarteten Reaktion verbarg, doch die eigene Aufregung verhinderte, dieser Ahnung weitere Aufmerksamkeit zu schenken. »Nun, und wenn es sich um ein Geheimnis handelt, das den andern womöglich, … wie soll ich es ausdrücken … erschrecken könnte … hältst du es für angebracht, es in diesem Falle eher für sich zu behalten?«

»Was meinst du? Was hast du herausgefunden?«, rief Helen aufgewühlt. Sie wirkte, als wäre sie kurz davor, aufzuspringen und davonzulaufen.

Was geht hier vor sich? Ahnt sie bereits etwas?

Richard blinzelte verwirrt, bis ihm plötzlich die Erleuchtung kam:

Ist es möglich, dass sich Helen davor fürchtet, ich könnte von IHREM Geheimnis erfahren haben?

Er legte seine Hand auf die ihre, eine Berührung, die ihn innerlich erzittern ließ, dennoch versuchte er, seiner Stimme einen gleichmäßigen Ton zu verleihen: »Beruhige dich, Helen. Gewiss werde ich keine taktlosen Fragen zu deiner Vergangenheit stellen. Was immer vorgefallen sein mag, du brauchst es mir nicht zu erzählen.«

Sie atmete hörbar aus und schenkte ihm ein unsicheres Lächeln.

»Nimm es mir nicht übel, lieber Richard, ich schätze dich sehr und ich vertraue dir. Aber ich fürchte, dass dieses Bild, das du von mir gewonnen hast, ins Wanken geraten könnte. Lassen wir es bitte noch ein wenig wie es ist. Eines Tages wirst du es erfahren, bis dahin möchte ich mein Geheimnis ruhen lassen. Kannst du das verstehen?«

Er nickte langsam. Richard begriff nur allzu gut, schließlich erging es ihm ähnlich und doch war seine Neugier entbrannt.

Welches dunkle Geheimnis könnte diese wundervolle Frau schon verbergen, das in der Lage wäre, mein Bild von ihr zu erschüttern?

Mondstein

Erde, Frankfurt, 26. Dezember

 

Ein Sonnenstrahl kitzelte Maja in der Nase. Verschlafen rekelte sie sich in ihrem Bett. Es ging doch nichts über langes Ausschlafen an einem Weihnachtsfeiertag. Wenigstens in ihren Träumen wurde sie mal nicht von Ängsten bezüglich schwarzer Magie, Mondsteinen oder gemeinen Echsen verfolgt.

Sie richtete sich auf und schaute zu ihrem schlafenden Bruder hinüber. Nachdem der Älteste ausgezogen war, hatten sie eigentlich schon lange vorgehabt, dass Maja mit Samuel das Zimmer tauschen sollte, sodass sie ein eigenes bekommt und die Jungs zusammen eines haben. Als sie kleiner waren, war es mit der Zimmeraufteilung kein Problem gewesen, aber inzwischen passten die Brüder einfach besser zusammen und sie hatte auch keine Lust, ihre rein weiblichen Themen vor Till auszubreiten. Sowohl Gewohnheit als auch Trägheit hatten bisher den Wunsch nach einer Veränderung überwogen, doch gerade heute wäre Maja gerne mal wieder für sich in ihrem Zimmer gewesen. Auch wollte sie Felix endlich einmal zu sich einladen und dabei sicher keine frechen Brüder um sich haben.

Heute werde ich darauf bestehen, dass wir die Zimmer endlich umräumen, nahm sie sich fest vor. Sie tapste zum Fenster. Der Himmel war wolkenverhangen, doch weder schneite noch regnete es.

Ihr flüchtiger Blick zum Gehweg blieb auf einer bekannten Gestalt haften: Der Kontrolleur lehnte an einem Laternenpfahl und schaute zu ihr hinauf.

Erschrocken trat Maja zurück. Ihr Herz donnerte.

Das kann doch nicht wahr sein! Wieso steht er denn vor meiner Haustür? Und woher weiß er überhaupt, wo ich wohne?

Hier noch an Zufälle zu glauben, war höchst unrealistisch. Ein Gruselschauer rann über sie hinweg.

Freu dich doch!, quäkte Kiro mal wieder in ihre Gedanken hinein. Einen Diener hat nicht jeder. Ich würde ihn ja mal Handstand machen lassen oder zu den Nachbarn schicken, um ihnen das Silber zu stehlen. Das wird bestimmt lustig.

So ein Blödsinn! Das mache ich ganz sicher nicht.

Hastig schlüpfte Maja in Jeans und Shirt. Sie musste diesen Kontrolleur wegschicken, bevor noch jemandem auffiel, dass er permanent zu ihrem Zimmer hinaufschaute.

Hoffentlich hat er nicht meinetwegen seine Arbeit vernachlässigt.

Na, du sorgst dich mal wieder über völlig unsinnige Dinge. Das kann dir doch ganz egal sein.

Ist es aber nicht, schließlich bin ich nicht so böse wie du. Mir liegen meine Mitmenschen am Herzen.

Und was bringt dir das? Du siehst doch, wie unnötig und lästig das ist. Das Leben könnte viel einfacher sein.

Du hast keine Ahnung, wie sich das anfühlt. Und deshalb kannst du das auch gar nicht beurteilen.

Kiro verfiel in Schweigen, ob es ein nachdenkliches, ein frustriertes oder ein schmollendes Schweigen war, konnte Maja nicht erkennen. Sie war zwischenzeitlich an der Haustür angelangt und trat hinaus. Der Fahrkartenkontrolleur fixierte sie unablässig, während sie auf ihn zuging. Sie schaute sich hastig um, doch an diesem zweiten Weihnachtsfeiertag war zum Glück noch nichts los auf der Straße.

»Äh, was machen Sie hier vor meiner Wohnung?«, erkundigte sich Maja kleinlaut.

»Immer zu deinen Diensten, Herrin!«, antwortete er monoton und verbeugte sich vor ihr.

»Nein, nein, ich will das nicht. Sie sind aus meinen Diensten entlassen. Gehen Sie, wohin Sie wollen, aber kommen Sie nicht mehr wieder.«

»Bis die ersten Sternenstrahlen über den Horizont scheinen, Herrin.« Er verbeugte sich abermals und wollte davongehen.

»Nein!«, rief sie frustriert, woraufhin er innehielt und sich zu ihr umdrehte. »Nicht bis irgendwelche Strahlen über den Horizont scheinen. Gar nicht mehr, verstehst du? Komm nie wieder! Du bist aus meinem Dienst entlassen. Ich bin nicht deine Herrin.«

Aber der Kontrolleur reagierte wie ein Roboter, der immer dasselbe Programm abspult und wiederholte: »Bis die ersten Sternenstrahlen über den Horizont scheinen, Herrin.« Wieder verbeugte er sich vor ihr. Dieses Mal ließ ihn Maja davongehen. So wurde das nichts. Wahrscheinlich kann der Zauber nur mithilfe dieses blöden Steins wieder gelöst werden.

Mist, jetzt muss ich ihn doch wieder ausgraben, dachte sie entnervt.

So hatte sie sich die Festtage nicht vorgestellt. Da räumte sie schon lieber ihr Zimmer um.

 

»Muss das ausgerechnet am Weihnachtsfeiertag sein?«, beschwerte sich Till über Majas unerbittliche Ankündigung, dass sie jetzt endlich in die Tat umsetzen wollte, was sie so lange rausgeschoben hatten.

»Warum denn nicht? Heute ist der perfekte Tag dafür, so könnt ihr euch wenigstens nicht rausreden, ihr hättet so viel zu tun für die Schule oder sonst irgendeine Verabredung.«

»Haben wir die heute nicht?«, überlegte Samuel laut. An den Türrahmen gelehnt, zog er die Stirn in Falten.

»Lass mich scharf nachdenken …«, Till schielte zur Zimmerdecke. Aber auch diese Geste erbrachte offenbar nicht das gewünschte Ergebnis.

»Ach, was soll’s«, lenkte Samuel schließlich ein. »Es wird eh Zeit, das mal in Angriff zu nehmen und ich freu mich schon darauf, wenn wir beide uns ein Zimmer teilen. Hol du die Umzugskisten aus dem Keller, Tilli Billi.«

»Wieso ich? Ihr zieht doch um, nicht ich«, protestierte er.

»Hm, wo du das so sagst, das könnten wir eigentlich auch ändern, indem du zu mir ins Zimmer ziehst. Das würde uns eine Menge Arbeit ersparen, wenn nur deine Sachen umzuräumen wären. Von Jannis steht ja nur noch sein Bett drin, das könntest du direkt übernehmen.«

»Gute Idee«, pflichtete Maja bei. »Dann brauche ich ja gar nichts umzuräumen.« Sie hockte sich demonstrativ im Schneidersitz auf ihr Bett.

»So war das aber nicht geplant …« Till verschränkte missmutig die Arme.

»Es spricht aber einiges dafür, auch, dass Samuels Zimmer größer ist«, führte Maja ein weiteres Argument an.

»Der eine Quadratmeter … Ich mochte es, zur Straße hinausschauen zu können. Zum Garten hin zwitschern jeden Morgen die Vögel so laut«, beschwerte sich Till.

»Daran wirst du dich schon gewöhnen. Ist doch besser als Verkehrslärm«, meinte Samuel.

»Alles eine Sache des Geschmacks. Aber da ihr beide euch ja schon einig seid, bleibt mir nur noch der Streik.«

»Das bedeutet jetzt was?«, erkundigte sich Samuel. »Dass du dich weigerst, umzuziehen?«

»Nein, dass ihr meine Sachen rüberbringt, wenn ich schon derjenige sein soll, der das Zimmer wechselt.«

»Na gut, abgemacht«, stimmte sein Bruder zu.

»Kein Problem«, meinte auch Maja. »Aber mir persönlich würde es nicht passen, wenn jemand anderes meine Sachen aus und wo anders wieder einräumt.«

»Ach, da ist nichts, was ihr nicht kennt oder kaputtmachen könntet«, entgegnete Till schulterzuckend.

Den weiteren Tag verbrachten Maja und Samuel damit, die Hälfte ihres Zimmers leerzuräumen, während sich Till einen Spaß daraus machte, die beiden herumzukommandieren. Dafür musste er dann seinerseits einige Kabbeleien einstecken, was zur allgemeinen Belustigung beitrug.

Immerhin half die Aktion Maja dabei, sich von düsteren Gedanken um die schwarzen Themen (Magie, Echse und Monda) abzulenken.

Am Ende der Aktion wurde ihr Zimmer geputzt und danach stellten sie gemeinsam Majas Möbel um. Doch das änderte nur wenig daran, dass das Zimmer nun ziemlich leer wirkte. Maja hatte sich mehr Privatsphäre gewünscht, doch mit einem Mal begann sie, die ganze Aktion schon wieder zu bereuen. Sie konnte sich nicht erinnern, schon einmal ganz alleine in einem Raum geschlafen zu haben, immer war jemand in ihrer Nähe gewesen, aber heute Nacht wäre da niemand mehr, keine beruhigenden Atemgeräusche, einfach ein menschenleeres Zimmer, dessen Wände merklich mehr Hall zurückwarfen als zuvor.

Ob ich heute Nacht überhaupt schlafen kann?


Tatsächlich fiel es Maja äußerst schwer, an diesem Abend einzuschlafen. So viele Gedanken kreisten in ihrem Kopf, die einfach keine Ruhe geben wollten – so viele Fragen, auf die sie keine Antwort fand:

Werde ich wirklich böse? Wird diese schwarze Magie stärker? Wann werden wir nach Fabolon zurückkehren? Was ist dieser Dario überhaupt für ein Mensch? Ist er nicht doch eine Art Farbelwesen, oder etwa ein Halbwesen? Habe ich den Mondstein gut genug versteckt? Ob dieser Kontrolleur morgen früh nochmal vor dem Haus auftaucht? Wie kann ich diesen Zauber von ihm lösen? Wahrscheinlich brauche ich dazu den Mondstein. Wenn der Kontrolleur noch immer kommt, sollte ich den Stein doch wieder ausgraben.

Ja, das meine ich auch, mischte sich mal wieder Kiro in ihre Gedanken.

Dich hat keiner gefragt.

Mir doch egal, ich antworte gerne auch ungefragt.

So konnte das nichts werden mit dem Einschlafen. Sie musste irgendwie zur Ruhe kommen. Maja legte eine Musik-CD in ihren Player. Vielleicht konnte sie sich damit ein bisschen ablenken. Aber auch das funktionierte nicht besonders gut, sodass Mitternacht schon fast vorüber war, bis sie endlich einschlief.

 

Wie befürchtet wartete am nächsten Morgen der Kontrolleur schon wieder vor dem Haus. Eilig lief Maja zu ihm hinab, um ihn fortzuschicken.

Verflixt. Bestimmt muss ich den Mondstein berühren, um ihn aus meinen Diensten zu entlassen.

Es half nichts, wenn sie den Kerl nicht ein Leben lang täglich vor ihrem Haus antreffen wollte, musste sie diesen Stein wieder ausgraben. So verbrachte Maja den Vormittag damit, zum Auwald zu fahren und die Eiche zu suchen, unter der sie ihn verbuddelt hatte. Ihr war beim letzten Besuch gar nicht aufgefallen, wie viele dieser großen Bäume im Auwald wuchsen und mittlerweile war sie am Verzweifeln, weil sie alle irgendwie anders aussahen, als der gesuchte. Immer frustrierter stapfte sie durchs Unterholz, bis sie dann doch endlich die Stelle entdeckte, wo der Mondstein vergraben sein musste. Blöderweise hatte Maja dieses Mal die Schaufel vergessen, sodass sie mit den Händen in der Walderde buddeln musste. Durch die Auen war der Boden leicht moorig schwarz, was auf ihre Haut abfärbte und auch die Suche nach dem ebenfalls schwarzen Stein erschwerte. Schon glaubte sie, ihn gefunden zu haben, doch nachdem der Brocken unverändert kantig in ihrer Handfläche ruhte und keine besondere Magie von ihm auszugehen schien, musste es sich doch um einen ganz gewöhnlichen Stein handeln.

Ich hätte ihn in ein Behältnis stecken sollen, zwischen all dem Morast erkennt man das Ding doch kaum wieder, rügte sie sich.

Aber plötzlich berührten ihre Finger etwas, das ein seltsames Kribbeln in ihr erzeugte. Maja folgte tastend diesem Gefühl, schloss ihre Finger um ein hartes Etwas und zog es aus der Erde. Kein Krümelchen blieb an dem Stein haften, als sie ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hochhob und betrachtete. Ein dunkles Leuchten schien von ihm auszugehen. Maja versenkte den Mondstein in ihrer Tasche und rieb sich die Erde von den Händen, ein schwarzer Schleier blieb dennoch haften.

Jetzt endlich zurück nach Hause.

Wenigstens hatte sie nun ihr Zimmer für sich alleine, was bedeutete, dass sich die Wahrscheinlichkeit verringerte, dass ihre Brüder den Stein dort entdecken könnten.

Gedankenversunken stieg Maja aus dem Bus und tat zwei Schritte, da wedelte plötzlich jemand mit den Händen vor ihrem Gesicht herum. Sie zuckte erschrocken zusammen, in der Befürchtung, schon wieder von diesem Kontrolleur verfolgt zu werden.

»Huhu! Kennen wir uns nicht irgendwoher?« Unter Blinzeln erkannte Maja ihren Freund. Die anderen Fahrgäste strömten an ihnen vorüber und zerstreuten sich in alle Richtungen.

»Ach, Felix!« Erleichtert fiel sie ihm um den Hals, was jedoch unweigerlich ein Schütteln zur Folge hatte.

Felix wich zurück und musterte sie mit schief gelegtem Kopf. »Schon komisch, dass dieses Schütteln nicht weggeht.«

»Ja, mich nervt es auch, aber was soll ich machen?«, antwortete sie unglücklich und präsentierte ihm dabei abwehrend die noch immer mit einem erdigen Film überzogenen Handflächen.

»Und in welcher Erde hast du herumgebuddelt?«, erkundigte er sich stirnrunzelnd, woraufhin sie die Arme hastig senkte.

»Äh, das ist eine lange Geschichte …«

»Echt? Hat es was mit Fabolon zu tun? Was war denn eigentlich los die letzten Tage? Ich habe drei Mal bei euch auf den Anrufbeantworter gesprochen, nachdem du dich aber nicht gemeldet hast, habe ich gerade eben selbst nachsehen wollen, ob alles in Ordnung ist bei dir. Aber zu Hause warst du auch nicht …«

Ja, doch, am Rande ihres Bewusstseins hatte Maja mitbekommen, dass Felix angerufen hatte und sie erinnerte sich auch daran, dass sie sich vorgenommen hatte, zurückzurufen, was dann aber in all dem Chaos in ihrem Kopf völlig untergegangen war.

»Ach, ja. Tut mir leid, ich wollte zurückrufen, aber bei mir war einiges los.«

Felix legte den Arm um ihre Schulter und sie setzten sich gemeinsam in Bewegung. Offenbar hatte er vor, sie bis nach Hause zu begleiten, doch Maja war sich nicht sicher, ob sie das wirklich wollte. Sie wusste einfach nicht, wie sie ihm die vielen Fragen, die ihn beschäftigten, beantworten sollte, ohne über den Stein und Dario zu sprechen. Andererseits war Dario unerreichbar weit weg und vielleicht würde es sie ja entlasten, all diese Geheimnisse endlich mit jemandem teilen zu können.

»Wirklich? Bei mir verlief das restliche Fest dann doch nicht mehr so übel. Und was war bei dir los?«

»Mein Bruder ist aus meinem Zimmer ausgezogen, zu Samuel rüber. Wir haben den ganzen Tag lang umgeräumt.«

»Oh, toll, dann hast du jetzt ein Zimmer für dich alleine?« Er klang ein wenig enttäuscht.

»Ja, genau.«

»Ich dachte schon, es hätte irgendwas mit Fabolon zu tun … Und was ist mit deinen Händen passiert?«

Maja seufzte.

»Ich darf dir eigentlich nichts darüber erzählen …«

»Wieso denn? Du hast also Geheimnisse, und womit haben die zu tun?«, bohrte er neugierig weiter.

Soll ich ihm alles erzählen? Was kann schon passieren, wenn Felix von dem Stein erfährt?

Na ja, dieser Dario könnte dich einen Kopf kürzer machen, zum Beispiel, quäkte Kiro dazwischen.

Hier kommt er nicht her und außerdem muss er ja nichts davon wissen.

Unterschätze niemals den Herrscher der Dunkelheit.

So sehr sich Maja vor dieser dunklen Magie fürchtete, die Anziehung zu Dario verhinderte, dass sie sich bei ihm ernsthaft um ihr Leben sorgte. Dagegen wogen die ganzen Probleme so schwer, dass sie endlich jemandem davon erzählen musste, und wer sonst würde sie besser verstehen können als Felix?

»Er hat mir gedroht, mich umzubringen, wenn ich jemandem davon erzähle …«, flüsterte Maja.

»Wer?« Abrupt blieb Felix stehen und musterte sie eindringlich. Tiefe Sorgenfalten zeichneten sich auf seiner Stirn ab.

»Dario.«

»Welcher Dario?«

»Na, der Mann aus Fabolon, den du nicht sehen kannst.«

Der zweifelnde Ausdruck in seinem Gesicht verletzte sie.

»Glaubst du mir etwa nicht?«

Felix schüttelte den Kopf und atmete tief durch. »Ich weiß nicht so recht … Ich bin ein bisschen hin- und hergerissen, weil auf Fabolon ja wirklich viele unfassbare magische Dinge existieren, aber könnte es nicht auch sein, dass du … ich meine …«

»Du hältst mich für verrückt, ja?«, rief sie gekränkt und trat einen Schritt zurück.

»Nein, nicht wirklich … ich … es tut mir leid.« Felix griff nach ihrer Erde-Hand und zog sie zu sich heran, was schon wieder einen nervigen Widerstand in ihr erzeugte.

»Komm mit mir nach Hause, dann zeige ich dir etwas«, sagte Maja entschlossen und marschierte voraus.

 

Felix ließ sich ins Sitzkissen sinken und Maja nahm auf dem Bürostuhl Platz. Ihr ausgezogener Mantel lag auf dem Schreibtisch. Tief durchatmend fischte sie den Mondstein aus ihrer Tasche und reichte ihn Felix. »Schau ihn dir genau an.«

Er nahm den Stein entgegen und betrachtete ihn von allen Seiten. »Und was soll an diesem Stein besonders sein?«, fragte er nach einer Weile schulterzuckend.

»Ja, siehst du das denn nicht? Er verändert permanent die Form und die Oberflächenbeschaffenheit.«

Felix schaute genauer hin, dann schüttelte er jedoch den Kopf. »Tut mir leid, für mich ist das ein simpler grauer Stein, wie jeder andere auch.«

»Grau?! Wieso denn grau? Er ist doch tiefschwarz«, stieß Maja hervor.

»Ne, sorry, entweder einer von uns leidet an Halluzinationen oder das ist mal wieder so eine Sache, die nur du sehen kannst.«

Maja fühlte sich schlecht. So sehr hatte sie gehofft, mit Felix ihre Geheimnisse teilen zu können, mit ihm gemeinsam diesen unergründlichen Rätseln etwas näherzukommen, aber wenn er überhaupt nichts von dem wahrnahm, was sie sah, wie sollte das möglich sein?

»Hey, komm, mach dir nix draus«, versuchte er sie zu trösten. »Wahrscheinlich hat es was mit deiner schwarzen Magie zu tun, für die andere halt einfach blind sind.« Felix gab ihr den Stein zurück und Maja verstaute ihn in ihrer Schreibtischschublade.

»Ja, wahrscheinlich«, brummte sie trübsinnig.

»Wo hast du ihn denn her? Hat er etwas mit diesem Dario zu tun?«

Maja nickte stumm.

»Aber du darfst mir nichts darüber erzählen. Das hast du ihm versprochen?«

Wieder nickte sie.

»Weißt du was, dann schreib es doch auf. Das Blatt nehme ich dir dann einfach gegen deinen Willen weg, dann hast du dein Versprechen nicht gebrochen und ich weiß endlich, was Sache ist.«

Ein dünnes Lächeln flackerte in ihren Augen.

»Ganz schön hinterlistig, Herr Berger«, entgegnete sie grinsend. Felix angelte nach dem Bürostuhl, auf dem sie saß, zog ihn zu sich heran und griff nach ihren Händen. Maja beugte sich zu Felix herab, worauf er sie zu sich zog und sie unter Rascheln auf seinem Schoß im Sitzkissen landete. Das abwehrende Schütteln ließ sich einigermaßen unter Kontrolle halten, als sich ihre Lippen sanft berührten. Maja schloss die Augen und schmiegte sich an ihren Freund. Wie sehr wünschte sie sich in unbeschwerte Zeit zurück, als dieser Dario noch nicht in ihr Leben getreten war. Dabei waren sie noch nicht lange als Paar zusammen gewesen, als die Begegnung mit diesem Monda alles verändert hatte.

Verflixt, schon wieder küsse ich Felix und muss dabei an Dario denken, ärgerte sich Maja.

»Und was ist? Möchtest du die ganze Geschichte aufschreiben?«, hakte Felix nach.

»Na gut, vielleicht hilft das ja«, stimmte sie zu. »Und was machst du so lange?«

»Ich schau dir heimlich über die Schulter«, entgegnete er grinsend.

So setzte sich Maja wieder an ihren Schreibtisch und begann, die ganze Geschichte seit der Begegnung mit Dario aufzuschreiben, einzig die mit ihm verbundenen Gefühle ließ sie weg. Diese wollte sie selbst nicht haben und daher brauchte auch Felix nichts davon zu wissen. Er tapste leise im Zimmer umher, schaute immer wieder seitlich an ihr vorbei auf ihr Blatt, welches sich mehr und mehr füllte. Als sie zu der Sache mit dem Kontrolleur kam, zuckte sie erschrocken zusammen, da Felix einen Laut des Erstaunens von sich gab. Bislang hatte er sich so leise verhalten, dass sie beinahe vergessen hatte, dass er sich noch im Zimmer befand.

Ihr vorwurfsvoller Blick ließ ihn jedoch wieder verstummen, schließlich wollte er sie nicht aus ihrem Schreibfluss herausreißen. Maja fügte als letzten Satz hinzu, dass die Geschichte nun zu Ende sei. Erst als Felix das gelesen hatte, stibitzte er das Blatt, fläzte sich damit ins Sitzkissen und überflog nochmal alles. Hin und wieder brummte er oder schüttelte den Kopf, dann schaute er zu Maja auf, die noch immer auf dem Bürostuhl hockte.

»Krasse Sache, vor allem das mit diesem Kontrolleur. Und er steht immer noch jeden Morgen da unten?«

»Heute war er jedenfalls da. Ich habe gehofft, den Zauber mit dem Stein wieder rückgängig machen zu können.«

Maja holte ihn aus der Schreibtischschublade, schloss ihre Finger darum und verkündete feierlich: »Ich will, dass dieser Kontrolleur wieder frei ist. Alle Zauber sollen von ihm genommen werden und er soll mir nicht mehr zu Diensten sein.«

»Und? Hat es geklappt?«, erkundigte sich Felix mit schief gelegtem Kopf.

Maja hob die Schultern. »Ich weiß nicht. Beim letzten Mal habe ich eine Energie gespürt, die vom Stein aus durch meinen Körper wanderte, dieses Mal war da gar nichts.«

»Na, spätestens morgen wirst du es wissen.«


* * *


Gerne wäre Lisa noch länger geblieben, da sie aber nur das Nötigste mitgenommen hatte und in der Wohnung ihres Vaters auf der Wohnzimmercouch übernachten musste, konnte kein wirkliches Zuhausegefühl aufkommen. Obendrein tendierte ihre Mutter dazu, das Gießen der Zimmerpflanzen zu vergessen. Das betraf nicht nur Lisas Orchideen, sondern auch die Küchenkräuter und die Birnenfeige im Wohnzimmer. Schon allein das war ein Grund für Lisa, am zweiten Weihnachtsfeiertag wieder zurückzufahren.

Hoffentlich ist Julio nicht mehr da.

Nach einem liebevollen Abschied von Cecilie und der kleinen Nora brachte Papa Lisa zum Bahnhof. Sie schluckte die Tränen runter, die ihr auf dem Herzen lagen und stieg in den Zug.

Die letzte Fahrt von Frankfurt nach Mainz hatte mehrere Tage gedauert, wenn man den Aufenthalt in Fabolon mit einrechnete, und sie wünschte sich, dass es dieses Mal ebenso lange dauern würde. Niemand hier auf der Erde würde etwas von ihrer Abwesenheit bemerken und das generierte doch im Grunde erheblich mehr Lebenszeit, oder?

Altern wir eigentlich auch, während wir uns auf Fabolon befinden?

Um dabei einen Altersunterschied festzustellen, dazu war die Zeit dort nicht lange genug, so etwas würde sich erst bemerkbar machen, wenn sie einmal mehrere Jahre fortbleiben sollten.

Ob das überhaupt möglich wäre? Genau genommen ist es ja noch nicht einmal sicher, ob wir überhaupt wieder nach Fabolon reisen werden.

Dieser Gedanke stimmte Lisa noch trauriger, als sie ohnehin schon war. Nicht nur die Vorstellung, Nio niemals wiederzusehen, schmerzte, auch diese ganze fantastische Welt dort hatte es ihr angetan. Fabolon war wie ein lebendig gewordener Abenteuertraum und genauso fühlte sie sich dort.

Auf ihrem Platz sitzend schaute sie auf die vorüberziehende Landschaft. Ihr Blick schweifte zur Echse, die unter ihrem Ärmel hervorlugte. Das Tier legte das Köpfchen schief und schaute mit seinen orangen Kulleraugen zu Lisa auf.

Ob ich jetzt tatsächlich noch eine weitere Fähigkeit dazubekommen habe? Aber was könnte das nur sein? Irgendetwas, um Steine zu verzieren, so wie dieses Farbelwesen Ora?

Alleine durch Nachdenken würde sie wohl kaum dahinterkommen. Bisher hatten sich die neuen Gaben ganz von alleine gezeigt, sie musste nur Geduld haben.

»Hi Lisa!«, riss sie eine bekannte Stimme aus den Gedanken. Im Gang des Großraumwagens stand Tim, einer der beiden Klassenkameraden, für den sie seit Urzeiten geschwärmt hatte.

»H-hi«, stammelte sie. Die Erinnerung an Fantasien romantischer Küsse stiegen plötzlich in ihr hoch und färbten ihre Wangen intensiv rot, beim Blick in diese funkelnd braunen Augen. Die schwarzen Locken fielen ihm bis über die Ohren, reichten jedoch nicht bis zum blauen Kapuzenshirt. Den leicht bräunlichen Hautton verdankte er der brasilianischen Herkunft seines Vaters.

»Ist neben dir noch frei?«

»Äh, ja.« Lisa nickte.

Tim ließ sich neben ihr nieder und stopfte seinen Rucksack zwischen Füße und Vordersitz.

»Und wo warst du so über Weihnachten?«, erkundigte er sich neugierig.

»Ich habe meinen Vater in Mainz besucht. Und du?«

»Dann sind deine Eltern auch geschieden?«

»Ja, deine etwa auch? Das wusste ich ja gar nicht.«

»Ach, das ist so ewig her, dass ich schon gar nicht mehr drüber rede. Aber bei mir ist es umgekehrt. Ich wohne bei meinem Dad in Frankfurt und besuche ab und zu meine Mum in Mainz. Da wohnt sie mit ihrer neuen Familie.«

»Kinder haben sie auch? Wie verstehst du dich mit ihnen und dem Vater?«, erkundigte sich Lisa interessiert.

Tim verzog das Gesicht. »Ach, geht so. Es sind zwei kleine Mädchen, sie gehen noch in den Kindergarten. Alle bemühen sich dort, nett zu mir zu sein, aber ich habe jedes Mal den Eindruck, als ob sie froh wären, wenn ich wieder fahre.«

»Echt? Auch deine Mutter?«, rief Lisa entsetzt.

»Mum freut sich schon auf mich, aber nach einer Weile … Ich gehöre einfach nicht zum Alltag, auch bei ihr nicht.«

»Verstehe.«

»Und wie ist es bei dir?«, erkundigte sich Tim interessiert.

Lisa vergaß alle Schüchternheit und Zurückhaltung. Endlich war da mal jemand, mit dem sie ein ähnliches Leid teilte und der sie verstand. Das öffnete ihr Herz und sie erzählte Tim von dem verpatzten Weihnachten und der neuen Familie ihres Vaters. Zwischen beiden entwickelte sich ein lebhaftes Gespräch, sodass sie gar nicht merkten, wie sich der Zug mehr und mehr leerte. Erst als völlige Stille um sie herum herrschte, registrierten die beiden, dass sie angekommen waren.

»Mann, gut, dass am Frankfurter Hauptbahnhof Endstation ist, sonst wären wir noch zu weit gefahren«, lachte Tim.

»Ja, stimmt. Man kann sich gut mit dir unterhalten«, pflichtete Lisa bei und schulterte ihren Rucksack.

»Warum redest du denn eigentlich kaum was in der Schule?«, wunderte sich Tim.

Sie zuckte mit den Schultern. »Soziale Phobie?«, schlug sie vor.

»Aber wovor hast du da Angst? Es passiert doch nichts.«

Sie trabten nacheinander den Mittelgang entlang.

»Das ist schwer zu erklären«, wich Lisa aus, da sie Tim nicht noch tiefer in ihre Psyche blicken lassen wollte. Es reichte schon, dass er heute so viele persönliche Dinge von ihr erfahren hatte.

Ja, aber warum traue ich mich nicht, mich mehr zu zeigen?

Zur selben Zeit ploppte die Antwort in ihrem Inneren auf:
Bei allem, was man von sich preisgibt, bietet man eine Angriffsfläche, eine Möglichkeit, verletzt zu werden. Und Lisa fühlte sich sehr verletzlich.


Umzug und Silvester

Erde, Frankfurt, 26. Dezember

 

Zu Hause wartete eine böse Überraschung auf Lisa: Schon im Vorraum stapelten sich Umzugskisten. Sie schlüpfte aus Stiefeln und Jacke, die sie über die Kisten in der Garderobe legte, und marschierte nichts Gutes ahnend, ins Wohnzimmer. Auch hier lehnten noch nicht gefaltete Kisten am Schrank. Sowohl der Christbaum als auch der gesamte Weihnachtsschmuck war bereits verschwunden, entgegen der Gewohnheit der Familie Fischer, die Weihnachtsdekoration erst Ende Januar abzuhängen.

Was soll das? Wir ziehen doch nicht etwa um?

»Mama?«

Es war still im Haus, kein Radio, kein Geraschel deutete auf die Anwesenheit ihrer Mutter hin.

Lisa lief in ihr Zimmer hinauf. Auch hier lehnten Umzugskartons an der Wand.

Ich will nicht wegziehen! Wenn überhaupt, dann nur zu Papa.

Gerade als Lisa wieder nach unten stieg, hörte sie, wie jemand zur Haustür hereinkam. Es brodelte bereits in ihr. Die Erinnerungen an das verpatzte Weihnachtsfest vermengten sich mit dem Frust über die Umzugskartons. Kaum schlüpfte Tatjana im Vorraum aus ihren Stiefeln, trat ihr Lisa aufgewühlt entgegen: »Warum ist hier alles voller Kartons?«

Die erstaunte Miene ihrer Mutter verblasste so rasch wie sie gekommen war. Schuldbewusst presste Tatjana die Lippen zusammen.

»Schön, dass du wieder da bist, mein Schatz. Es tut mir so leid mit dem Weihnachtsfest. Ich weiß, ich habe mich völlig danebenbenommen.«

Doch daran wollte Lisa schon gar nicht mehr denken. Nach dem Aufenthalt in Fabolon lag das für sie immerhin schon mehrere Wochen zurück, sodass sich Frust und Empörung längst verflüchtigt hatten. »Jaja, aber was soll das mit den Kartons?«

»Also, ich wollte es dir nicht vor Weihnachten erzählen, um dir das Fest nicht zu verderben, aber es ist so, dass ich mir die Miete für das Haus nicht mehr leisten kann, nachdem uns dein Vater verlassen hat. Ich habe eine preisgünstigere Wohnung gefunden. Ende des Monats ziehen wir ein.«

Jedes ihrer Worte fühlte sich an wie eine Ohrfeige für Lisa. Sie stand da wie begossen, während Tatjana ihren Mantel auszog und zu dem von Lisa auf die Kartons legte. Dann trat sie auf ihre Tochter zu, um sie in die Arme zu schließen, was diese teilnahmslos mit sich geschehen ließ.

»Ich will in keine andere Wohnung«, flüsterte Lisa erstickt.

»Glaube mir, das wollen wir beide nicht, aber für eine alleinerziehende Mutter ist die Miete einfach nicht bezahlbar. Es tut mir leid, aber es bleibt uns nichts anderes übrig.«

Lisa seufzte. »Na ja, ich werde ja sowieso bald zu Papa ziehen …«

Augenblicklich wich Tatjana zurück und starrte ihre Tochter mit großen Augen an.

»So, du willst mich also auch verlassen? Ist es schöner bei ihm und seiner kleinen Schla …«

»Mama!«, schimpfte Lisa. Sie ertrug es weder, wenn Tatjana über ihren Vater noch über Cecilie herzog. Das hatten die beiden einfach nicht verdient. »Ich bin fast erwachsen. Irgendwann ziehe ich sowieso aus und ja, es tut mir leid, aber es gefällt mir bei Papa. Vor allem auch deshalb, weil er nicht über dich schimpft. So was kann ich nämlich überhaupt nicht leiden, wenn Eltern übereinander herziehen«, platzte es aus ihr heraus. Dieses emotionale Thema ließ Feuchtigkeit aus ihren Augen quellen.

Ihre Worte brachten Tatjana zum Verstummen. Traurig senkte sie den Blick.

»Vielleicht hast du Recht. Ich bin keine gute Mutter für dich …«

Sie wandte sich ab und lief leise schniefend die Treppe hinauf. Das war absolut nicht die Reaktion, die sich Lisa von ihrer Mutter gewünscht hatte. Frustriert ließ sie sich auf die Couch fallen und atmete tief durch.

In was für einem Alptraum bin ich hier gelandet?

 

Doch es sollte noch schlimmer kommen: Gegen Nachmittag hatte Lisa all ihre Bücher und einen Teil der Kleidung in den Umzugskartons verstaut. Sie stellte gerade ihre Orchideen in eine Schale, damit sie das Wasser von unten aufsaugen konnten, als es an der Tür klingelte. Durch die geöffnete Zimmertür vernahm Lisa das freudige Hallo ihrer Mutter und eine männliche Stimme, die sie Julio zuordnete.

Nicht DER schon wieder …

Lisa hörte etwas, das nach schmatzenden Kussgeräuschen klang und schüttelte sich unwillkürlich. Unter einem romantischen Kuss stellte sie sich etwas anderes vor.

»¿Qué pasa aquí?«, erkundigte sich der Spanier nach dem Begrüßungskuss mit Überlänge.

Vermutlich will er wissen, was es mit den Kartons auf sich hat.

Im Gegensatz zu Julio sprach Tatjana so leise, dass Lisa nur Fetzen davon verstehen konnte: »Miete«, »Wohnung«, »bezahlen«, »alleinerziehend« – vermutlich erzählte sie genau dasselbe, was sie auch Lisa mitgeteilt hatte.

Irgendetwas besprachen die beiden daraufhin. Die Stimmen klangen nun etwas entfernter, wahrscheinlich waren sie zusammen in die Küche gegangen. Das Gespräch verlief zunehmend fröhlicher und verlagerte sich ins Wohnzimmer, woraufhin sich Lisa fragte, woher Tatjana in dieser Situation auf einmal die gute Laune nahm.

Hoffentlich hat Julio nicht wieder irgendwelchen Alkohol mitgebracht, den er ihr einflößt. Vielleicht sollte ich doch besser mal nach unten schauen.

Lisa schlich so leise wie möglich ins Erdgeschoss hinab, wo Tatjana eng umschlungen mit Julio auf der Couch hockte, allerdings entdeckte er die Spionin sofort auf der Treppe.

»¡Hola chica!«, grüßte er.

»Hallo«, antwortete Lisa düster.

»Komm doch mal her mein Schatz. Wir haben gute Neuigkeiten für dich«, rief ihre Mutter übertrieben fröhlich.

Nichts Gutes ahnend trabte Lisa ins Wohnzimmer, ließ sich lediglich auf der Lehne des Polsterstuhls nieder, um im Notfall schnell flüchten zu können.

»Stell dir vor, Liebes, wir müssen nicht ausziehen. Wir können hierbleiben«, begann Tatjana, doch die erwartete Erleichterung blieb aus bei ihrer Tochter, die ahnte, dass diese Wendung in direktem Zusammenhang mit dem Spanier stand, in dessen Arme sich ihre Mutter noch immer schmiegte.

Schweigend musterte Lisa Tatjana, die ihrer Tochter ein verzweifeltes Lächeln schickte, welches jedoch abermals ohne Reflektion in Lisas dunklen Augen versank.

»Was ist, freust du dich nicht?«

»Wieso müssen wir jetzt doch nicht umziehen?«

Tatjana wand sich ein bisschen hin und her, als sie antwortete: »Julio ist ein wahrer Held!« Offenbar versuchte sie, die Neuigkeit ihrer Tochter so schmackhaft wie möglich zu machen. »Er hat versprochen, die Miete für unser Haus zu übernehmen, dafür … ja, dafür wird er bei uns einziehen.«

Jetzt war es heraus, was Lisa zwar geahnt, aber nicht hatte wahrhaben wollen – ein weiterer Schlag mitten in ihr zartes Gesicht.

»Wir werden uns sicher gut mögen, mis princesas.«

»Und, was sagst du, mein Schatz? Ist das nicht wundervoll? Dank Julio können wir hier wohnen bleiben.«

Am liebsten hätte Lisa ihrer Mutter und diesem selbstgefällig grinsenden Spanier ins Gesicht geschrien, dass sie lieber in einer Ein-Zimmer-Wohnung gelebt hätte als mit Julio zusammen. Außerdem ärgerte sie sich darüber, dass Tatjana sie in keine der Entscheidungen mit einbezogen hatte, weder auf die Wohnungssuche hatte sie sie mitgenommen noch hatte irgendjemand danach gefragt, ob sie mit der Gesellschaft dieses fremden Mannes einverstanden war. Aber vor ihm einen derartigen Gefühlsausbruch freizusetzen, das traute sie sich auch wieder nicht, stattdessen drohten die Emotionen in Form von Tränen hervorzubrechen.

»Ich muss mal …« Der Rest des Satzes erstarb mit dem Salzwasser, das sich anbahnte. Eilig rannte Lisa die Treppe hinauf. Mal wieder wollte sie nur noch weg – weit weg, am besten auf einen fernen Planeten mit dem Namen Fabolon.

Warum passiert das manchmal und dann auch wieder lange Zeit überhaupt nicht?

Lisa drehte den Schlüssel in ihrer Zimmertür um und schmiss sich aufs Bett. Sie schlug mit der Faust auf ihr Kissen ein, während sich Tränen der Wut und des Frustes über ihre Wangen ergossen.

Vielleicht sollte ich doch schon eher bei Papa einziehen, nicht erst nach meinem Abschluss.


* * *


Der Silvesterabend brachte ungewöhnlich viel Schnee nach Frankfurt am Main. Die Schneepflüge kamen kaum mit dem Räumen der Straßen nach, sodass diejenigen, die ihre Einkäufe für den Festtag erst heute erledigen wollten oder konnten, sowohl mit dem Verkehrschaos, der schlechten Sicht durch den Vorhang aus dicken Flocken und durchdrehenden Autoreifen, zu kämpfen hatten.

Richard und Helen kümmerte das jedoch wenig. Sie hatten schon an den Tagen zuvor ihre Einkäufe für das Festmahl erledigt, das sie gemeinsam zusammengestellt hatten. Die letzten Jahre hatte Helen Silvester mit Kai immer auf einer berauschenden Party gefeiert, doch dazu hatte sie dieses Mal keine Lust, viel lieber wollte sie den Abend gemütlich zu zweit mit Richard verbringen.

Da sich Helen bislang nicht getraut hatte, ihre Sachen bei Kai abzuholen, hatte sie sich stattdessen ein paar neue Kleidungsstücke gekauft. Auch einen neuen Kamm und eine Zahnbürste durfte sie nun ihr Eigen nennen.

In der Woche seit Helens Einzug hatten sie und Richard sich prächtig verstanden und doch lagen in dieser einträchtigen Harmonie unausgesprochene Themen verborgen, die zunehmend auf ihnen lasteten. Keiner von beiden wagte es, das gute Verhältnis durch das Ansprechen von Problemen zu stören, so lebten sie zusammen in ihrer Wohngemeinschaft und gleichzeitig blieb jeder ein Stück für sich in seiner eigenen Welt, ohne dem anderen einen Einblick zu gewähren.

Nach einem ausgiebigen gemeinsamen Spaziergang am Mainufer kehrte das Wohngemeinschaftspaar zurück, um mit dem Kochen des Festtagsmenüs zu beginnen. Die Vorspeise bildete der Eisberg-Krabbensalat, gefolgt von einer Fischsuppe mit Dill. Die Spinatlasagne mit Lachs bildete den Hauptgang und zum Dessert gab es Eis mit heißen Himbeeren und Sahne. In der Küche hatten sich die beiden mittlerweile zu einem eingespielten Team entwickelt, sodass das Essen selbst in einem Sternerestaurant kaum besser schmecken könnte.

Während Helen gerade die Sahne für den Nachtisch schlug, tauschte Richard die heruntergebrannten Kerzen aus. Die weißen unberührten Dochte lachten ihn förmlich an. Ob er es wagen konnte, sie durch eine kleine Flamme aus dem Zeigefinger zu entzünden? Seit Helen bei ihm wohnte, war seine Feuergabe leider ins Hintertreffen geraten, was sich in einem vermehrten Drang äußerte, die Flammen endlich wieder freizusetzen.

Solange das Quirl-Geräusch darauf hindeutete, dass Helen in der Küche gut beschäftigt war, konnte er sich in Sicherheit wiegen. Richard berührte den Docht mit dem Zeigefinger und ließ eine kleine Flamme frei – so war es zumindest geplant, doch die lange Abstinenz entfachte eine wahre Stichflamme, die bis zur Zimmerdecke schoss.

Aber dessen nicht genug, im selben Atemzug stieß Hellen einen Schreckensschrei aus. Richard fuhr herum und sah, wie die Schalen mit dem Vanilleeis aus ihren Händen glitten und klirrend zu Boden rutschten, während der Quirl mit unverminderter Lautstärke ratterte. Helen musste ihn irgendwie in der Schüssel fixiert haben. Richards Feuer hatte sich schon längst wieder zurückgezogen, als er schuldbewusst ihr kalkweißes Gesicht musterte.

Endlich kam wieder Leben in ihren erstarrten Körper. Sie bückte sich, um die Scherben aufzuklauben. »Oh, Richard. Es tut mir so leid. Ich muss zu viel von dem Weißwein getrunken haben. Offenbar leide ich schon an Halluzinationen.«

»Lass nur. Mit dem Kehrblech geht es besser.« Er eilte in die Abstellkammer, um das entsprechende Utensil zu holen und half Helen,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 10.09.2022
ISBN: 978-3-7554-2039-2

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