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FABOLON - StaubNebelNacht

 

FABOLON

 

StaubNebelNacht

 

 

Isabella Mey

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Band III

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Kern deines Herzchakras befindet sich eine rotierende Kugel aus Yin und Yang. Der eine Teil bist du, das Gegenstück deine Zwillingsseele, mit der du auf ewig verbunden bist.

 

 

Prolog

Zu einer Zeit, bevor die Erdoni nach Fabolon kamen

 

Der Dunkelstern färbte den Himmel blutrot. Immer, wenn der Nebel aufriss und die langen, blaugrün leuchtenden Federblätter der Sumpfbäume von den Strahlen berührt wurden, schlingerten sie vor freudiger Aufregung. Ein nachtschwarzes, schuppiges Trachomena-Tier trabte durch den Sumpf. Der pantherartige, wendige Körper des Fischräubers mündete hinten in einen abgeplatteten Schwimmschwanz, vorne in einen langen Hals, welcher in einen kräftigen Echsenkopf überging. Auf dem Scheitel thronte ein kurzes, in sich gewundenes Horn, feine Linien zeichneten ein leuchtendes Adermuster hinein. Auf dem Rücken des nachtschwarzen Tieres mit Namen Torina saß ein Reiter vom Volke der Monda. Sein forschender Blick suchte sich einen Weg durch die unwirkliche Landschaft.

Plötzlich bäumte sich das Tier auf, sodass der Reiter Torinas Hals umschlingen musste, um nicht in den Sumpf zu stürzen. Ein hünenhaftes, muskulöses Wesen baute sich vor ihnen auf: Ein Duwora. Er maß gut das Doppelte der Größe des Reittiers. Der Überlieferung nach hatte ein Herrscher die Duworas vor Urzeiten in dieser Region angesiedelt, um das Portal zu schützen. Diese Wesen waren immun gegen Magie, daher versuchte der Monda erst gar nicht, den Duwora mit einem Dunkelzauber zu lähmen. Obendrein tauchten nun hinter den mächtigen Sumpfbäumen weitere Artgenossen auf. Doch an Umkehren war nicht zu denken. Ein hastiger Blick zurück zeigte dem Monda, dass ihm die Häscher dicht auf den Fersen waren. Schon schälten sie sich aus dem Dunst unweit der Kuppe. Der einzige Vorteil, der dem Monda blieb, war sein schnelles Reittier. Er flüsterte Torina etwas ins Ohr. Sie schüttelte das schuppige Haupt und gab ein unwilliges Schnauben von sich. Als der Duwora jedoch röhrend auf sie zutrat, traf Torina die einzig richtige Entscheidung: Sie senkte den Kopf und täuschte einen Schritt zur Seite an. Das monsterhafte Wesen bäumte sich auf und holte weit mit der Pranke aus, in diesem Moment preschte Torina so rasch durchs Wasser, dass der Reiter all seine Kraft und Geschicklichkeit aufwenden musste, um nicht von ihrem Rücken zu rutschen. Sie sprintete direkt unter dem erhobenen Arm des Duwora hindurch, in einem abenteuerlichen Zickzack-Kurs umrundete sie sämtliche seiner Artgenossen, tauchte samt Reiter in einen Graben ab und kam weiter vorne wieder an Land, wo sie keuchend vor einer Felswand innehielt. Vorerst waren die Verfolger abgeschüttelt, doch es würde nicht lange dauern, bis sie sie einholten. Erschöpft, wie Torina war, schritt sie nun in gemächlichem Gang an der Steilwand entlang, während sich der Monda nach einer Öffnung umschaute, doch hier war nichts Auffälliges zu entdecken.

Wo ist bloß dieser Durchgang?

Während er die Felswand verzweifelt nach Unebenheiten absucht, stiehlt sich eine unleidliche Sorge in sein Gemüt, es könnte sich dabei doch nur um eine bloße Legende handeln.

Röhrend stapften die Duworas durchs sumpfige Wasser auf ihn zu.

Ein Enthüllungszauber!

Dieser wäre ihm gewiss dienlich, doch konnte ihn der Monda nicht selbst auslösen, sondern musste etwas von seinem kostbaren Elixier dafür verwenden. Flink fischte er die Phiole aus der Satteltasche und entkorkte sie. Als eine silbrig glitzernde Wolke aus der Öffnung trat, sandte er einen starken Enthüllungszauber hinein. Die Glitzerwolke zerstob augenblicklich. Einen Wimpernschlag später entdeckte er einen hellen Bereich in der Felswand. Unterdessen hatten es die Duwora geschafft, einen Halbkreis bis zur Felswand um ihn zu ziehen und begannen nun, den Reiter in die Zange zu nehmen. Vor lauter Furcht bäumte sich Torina auf, scharrte mit den Krallen in der Luft.

Der Monda schickte seinem Reittier einen intensiven Gedanken. Torina wirbelte herum. An einer Stelle innerhalb des Kessels war der Sumpf wesentlich tiefer. Mit einem Satz tauchte sie samt ihrem Reiter in den Graben hinein. Ihr abgeplatteter Schwanz vollführte schlängelnde Bewegungen, trieb sie dem Grund entgegen, bis sie beinahe im schlammigen Untergrund versank. Ihr Horn strahlte unter Wasser ein besonderes blaues Licht aus. Dieses war über der Oberfläche nicht sichtbar, im trüb dunklen Sumpfwasser diente es jedoch der Orientierung. Torina schwamm zwischen zwei bis zum Bauch im Wasser stehenden Duworas hindurch, um dann wieder quer Richtung Felswand abzudrehen. Da es hier jedoch flacher wurde, kamen der Reiter und sein Tier wieder keuchend und prustend an die Oberfläche. Torina preschte vorwärts, auf die leuchtende Felswand zu. Direkt davor scheute sie jedoch, bäumte sich auf.

Der Monda schickte ihr das Bild eines Eingangs und jetzt wagte sie sich vorsichtig mit den Krallen voraustastend hinein. Erst als sie merkte, dass der Felsen tatsächlich nur eine Illusion war und sie widerstandslos hindurchgehen konnte, wagte sie sich hinein. Die Duworas röhrten, doch sie folgten ihnen nicht in die Höhle. Dem Monda war jedoch vollkommen klar, auch wenn er vorerst entkommen war, würden seine Häscher nicht ruhen, bis sie ihn aufgespürt hatten. Aber jetzt bestand die dringlichste Herausforderung darin, ein sicheres Versteck zu finden, in dem ihm alles lebensnotwendige Verfügung stand.

Streit und Geständnis

Fabolon, Dorf Fedo, 5 A, 1214

 

»Liebst du mich denn überhaupt?« Kollio hielt inne, ließ Valías Hand los und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch sein leuchtend rotes Haar.

Das Paar stand barfuß in den auslaufenden Wellen am Strand und die untergehende Farella malte die Szene in intensiven Orangetönen, was der sichtbaren Verletzung in Kollios Augen besonderen Ausdruck verlieh. Eigentlich war es eine romantische Stimmung gewesen, bis Valía erwähnt hatte, dass sie die Dauer-Gute-Laune von Felix vermisste.

»Natürlich. Ich habe doch auch nicht gesagt, dass ich Felix vermisse, sondern nur seine gute Laune. Das ist ein Unterschied«, rechtfertigte sie sich, die Hände in die Hüfte gestemmt.

»Wirklich? So oft wie du von diesen Erdoni sprichst, glaubt man, es gäbe kaum etwas Wichtigeres auf der Welt.«

»Wir haben eben viel Spannendes zusammen erlebt.«

»Und deshalb vermisst du die gute Laune von Felix? Reicht dir meine gute Laune denn nicht aus?«

»Welche gute Laune denn? Im Moment scheint überhaupt niemand in Fedo gute Laune zu haben. Ständig gibt es Streit im Dorf.«

»Und ist das etwa meine Schuld?« Kollio stemmte die Hände in die Hüften.

»Nein, natürlich nicht. Das habe ich ja auch gar nicht gesagt.«

»Mal ganz ehrlich, wärst du lieber mit diesem Felix zusammen?«

»Nein, wie kommst du denn darauf? Außerdem ist er Majas Freund und lebt auf einem anderen Planeten.«

»Aha, aber nehmen wir mal an, er würde in Fedo wohnen und wäre noch zu haben. Schau mir in die Augen und sage mir, was dann wäre …«

»Das ist mir jetzt echt zu blöd. Ich komme mir ja vor wie in einem Verhör!« Wütend drehte sich Valía um und stapfte unter stäubendem Sand davon, doch in ihrem Bauch wirbelte ein Strudel. Sie schluchzte und Feuchtigkeit trat aus ihren Augen. Kollio eilte hinter ihr her und griff sanft nach ihrem Arm.

»Valli, war nicht so gemeint …«, sagte er beschwichtigend. »Du bist nur manchmal so abweisend und über diese Erdoni sprichst du mit so viel Begeisterung, da kann man schon mal eifersüchtig werden.«

»Ich bin mit dir zusammen, weil ich mit dir zusammen sein will.«

»Ach so, ich dachte, weil du mich liebst.« Er verengte die Brauen und Valía verdrehte die Augen.

»Das versteht sich doch von selbst, dass ich mit dir zusammen sein will, weil ich dich liebe.«

»Wirklich? Du klingst aber nicht besonders verliebt.«

»Das ist so, weil ich gerade ziemlich genervt bin von dieser blöden Fragerei.«

»Hm. Na gut, dann will ich mal versuchen, dir zu glauben. Und mit einer Sache hast du ja Recht, im Dorf gibts derzeit wirklich dauernd Streit. Das hat wohl auf uns abgefärbt.«

»Ja, genau.« Valía nickte und atmete auf, da sich Kollio wieder etwas entspannt hatte. »Vor allem Mirek scheint durchzudrehen. Zum Glück beteiligen sich unsere beiden Väter nicht daran.«

»Meine Familie wird sich hüten, diesen selbsternannten Herrscher über Fedo zu unterstützen. Leider gibt es aber immer noch genug Leute, die Mirek hinterherlaufen. Nicht einmal Tasmo schafft es, da Ruhe reinzubringen. Ich frage mich, wozu wir dann überhaupt einen Schlichter brauchen.« Kollio schüttelte missmutig den Kopf.

»Na, wenigstens haben wir uns wieder vertragen.« Sie griff nach seinen Händen und schaute ihn versöhnlich an. Kollio wiegte ihre Arme hin und her, dann zog er sie zu sich, indem er Valías Hände hinter ihrem Rücken fixierte.

»Ja, immerhin«, flüsterte er heiser.

»Ich liebe dich, Kollio«, sagte sie und dieses Mal klang es auch danach.

Die Farella war inzwischen kaum noch zu sehen, dafür schickte der kleine blaue Mond sein Licht herab, der große blasse war noch nicht aufgegangen. Das Meeresrauschen säuselte mit den Grillzirpen um die Wette, als sich ihre Lippen berührten. Ihre beiden Herzen schlugen höher bei diesem Kuss, der die Versöhnung besiegelte.

Ein verdächtiges Plätschern ließ das Paar jedoch aufhorchen. Valía und Kollio beobachteten, wie in einiger Entfernung jemand durch die Wellen an Land stapfte.

»Wer badet denn um diese Zeit?«, wunderte sie sich.

»Ja, komisch. Komm, wir schauen nach, wer das ist.« Kollio nahm ihre Hand und zog sie mit sich fort.

Doch die Gestalt schien die beiden entdeckt zu haben, denn sie sprintete plötzlich durch die Dünen davon, wo sie zwischen Schilf und Schatten abtauchte. Das Paar stapfte eilig durch den Sand hinterher, doch gerade zogen sich ein paar Wolken vor dem kleinen blauen Mond zusammen, sodass die Dunkelheit dem Flüchtenden maximale Deckung gewährte. Immer wieder abrutschend versuchten Kollio und Valía die Sanddüne emporzusteigen, wählten dann jedoch einen flacheren Weg um die Düne herum, um auf die nächste Anhöhe zu gelangen.

Wäre Valía alleine gewesen, hätte sie jetzt wahrscheinlich vor Angst gebibbert, hier in der Finsternis und mit irgendeinem Wasserwesen, das sich womöglich in der Nähe versteckte, um ihr aufzulauern. Sie sah sich nach allen Seiten um, versuchte vergeblich, die Dunkelheit zu durchdringen, um Konturen in der Schwärze auszumachen. Halme der Dünengräser bewegten sich sanft im lauen Wind, was im Licht der Sterne gerade noch so zu erkennen war. Eine Schar Flattermäuse zog dicht über ihrem Kopf vorüber. Ansonsten blieb alles still.

»Wer auch immer das war, er ist uns entkommen«, stellte Kollio fest. Er schob einen Arm um ihre Hüfte, was sich so gut anfühlte wie schon lange nicht mehr.

Valía erwiderte die Geste und schmiegte sich an ihn. Die unheimliche Umgebung hatte etwas Aufregendes an sich, was der Nähe zu Kollio eine besondere Note verlieh.

Ach, wenn es nicht manchmal so richtig schön mit ihm wäre, 

Nein, diesen Satz wollte sie jetzt nicht zu Ende denken, sondern lieber das Gefühl der Geborgenheit genießen. Er wiegte sie in seinen Armen und küsste sie auf den Scheitel, die Stirn, die Wange, die Nase … Valía schloss genießerisch die Augen. Der Schrei eines Wickelkäuzchens ließ beide zusammenfahren. Sie kicherten gemeinsam über ihren Schreck.

»Gehen wir nach Hause«, sagte Kollio. Er nahm Valías Hand und marschierte mit ihr zurück zum Dorf.

Hinter den meisten Fenstern brannte Licht und erhellte das Pflaster, über das die beiden spazierten. Kollio brachte seine Freundin bis nach Hause. Vor der Tür verabschiedete er sich von ihr mit einem zärtlichen Kuss, der Valías Liebesgefühle schier ins Unermessliche wachsen ließ.

Ach, warum kann es nicht immer so sein mit ihm, dachte sie, wie so oft, dann befreite sie Füße und Kleidung mit der dafür vorgesehenen Bürste von den Sandresten.

Mit einem warmen Gefühl im Bauch winkte sie ihrem Freund noch zu, bevor sie die Tür öffnete und eintrat. Der Wohnraum flackerte im Schein des Feuers vom Herd, auf dem das Wasser im Topf schon blubberte. Mianma nahm es herunter und goss einen Tee auf.

»Hallo, Valía, da bist du ja«, sie drehte sich zu ihrer Tochter um, die sich beschwingt auf einem Schemel niederließ. »Wars schön mit Kollio?«, fragte sie lächelnd.

»Ja, sehr schön.« Valía versuchte, nicht ganz so verliebt zu strahlen und die verräterische Röte ihrer Wangen zu unterbinden – natürlich völlig vergeblich.

»Ach, das erinnert mich an deinen Vater und mich. Wie schrecklich verliebt wir damals waren … Die ganze Welt hätte untergehen können und wir hätten es nicht bemerkt«, schwärmte Mianma. Sie setzte sich mit der Kanne zu Valía an den Tisch und füllte etwas von dem Kräuterwasser in ihre Tasse. Da man in Fabolon keine Teebeutel kannte, ließ man die Würzkräuter einfach im Wasser schwimmen und siebte sie später entweder heraus, trank sie mit oder um sie herum.

»Aber ihr seid doch noch immer sehr verliebt, oder nicht?«

»Schon, aber am Anfang ist eben alles noch so neu und aufregend, das hat man nur einmal.«

»Wo sind denn die anderen?« wunderte sich Valía und bediente sich ebenfalls mit dem Tee.

»Tono hat ja bis in die frühen Morgenstunden gefischt, der schläft schon. Was deine Brüder auf ihrem Zimmer noch aushecken, weiß ich nicht.«

»Dann schau ich mal nach. Und müde bin ich auch schon.« Gähnend erhob sie sich.

»Gute Nacht meine Farella, und träume schön.« Mianma zwinkerte verheißungsvoll, doch auf eventuelle Liebesträume wollte Valía nicht näher eingehen.

»Du auch Mama.«

Mit der vollen Teetasse in der Hand stieg sie die Treppe hinauf. Sie stellte das Getränk auf dem Beistelltisch in ihrem Zimmer ab und lauschte. Den Geräuschen nach zu urteilen, waren die Jungs noch wach. Valía trat hinaus in den Flur und öffnete die Zimmertür ihrer Brüder. Pipp lag auf seinem Bett, vertieft in ein Buch.

»He, kannst du nicht anklopfen?«, beschwerte sich Nio, der mitten im Raum stand und sich die Haare trockenrubbelte. Valías Blick wanderte unwillkürlich zu seinen nackten Füßen, wo noch Reste von feuchtem Sand zwischen den Zehen klebten.

»Du warst das!«, stieß sie hervor. »Wieso schwimmst du um diese Zeit im Meer?«

»Das geht dich nichts an«, brummte Nio. »Ich kann doch schwimmen, wann ich will und wo ich will.« Es ärgerte ihn maßlos, dass seine Schwester ihn gesehen hatte, aber es zu leugnen würde sicher noch mehr ihr Misstrauen erregen.

»Und warum bist du vor uns weggelaufen?«

»Na, wenn zwei dunkle Gestalten nachts auf einen zu rennen, weiß man ja nicht, was sie vorhaben. Warum habt ihr mich überhaupt verfolgt?«

»Weil wir wissen wollten, wer um diese Uhrzeit noch schwimmen geht. Das ist doch verrückt und gefährlich obendrein. In der Dunkelheit findet dich niemand, wenn du ertrinkst.«

»Wenn man ertrinkt, ist es ohnehin zu spät für jede Hilfe«, stellte Pipp nüchtern fest und blätterte eine Seite um, ohne den Blick von seinem Buch zu nehmen. »Da ist es auch egal, ob die Farella scheint oder nicht.«

»Deine Sprüche waren auch schon mal besser. Aber ihr wisst doch ganz genau, was ich meine.«

»Es ist mein Leben und meine Sache. Ich will nicht, dass du dich da einmischst«, bekräftigte Nio und ließ sich auf sein Bett sinken. Das Handtuch legte er zerknüllt aufs Regal.

»Sag doch auch mal was, Pipp. Ist dir das alles egal?«

»Nio ist ein großer Junge. Er wird schon wissen, was er tut«, entgegnete Pipp.

»Und wenn ich es Mama erzähle?« Valía versuchte verzweifelt, Druck aufzubauen.

»Das ändert nur, dass sie sich auch Sorgen macht. Lass mich doch einfach in Ruhe und kümmere dich lieber um deinen Kollio«, antwortete Nio genervt. Seine Laune war ohnehin am Boden, denn die Begegnung mit Nalana war nicht besonders harmonisch verlaufen. Er war zu sehr in Gedanken bei Lisa gewesen, als er sie geküsst hatte und Nalana war ein zu sensibles Wesen, um das nicht zu bemerken. Sie hatte gekränkt gewirkt und Nio tat es von Herzen leid, dass er seine Gefühle nicht so im Griff hatte, wie er wollte. Immer wieder musste er beteuern, dass Lisa Vergangenheit war und er seine Entscheidung keineswegs bereute.

»Ich mache mir doch nur Sorgen …«, versuchte es Valía erneut. »Ich will nicht, dass dir etwas passiert. Ob du’s glaubst oder nicht, ich … du bist mir wichtig.« Feuchtigkeit brachte ihre Augen zum Glänzen.

»He, mir passiert schon nichts. Versprochen.« Nio erhob sich, trat auf seine Schwester zu und nahm sie in den Arm.

»Schwimm doch einfach tagsüber, dann muss ich nicht so viel Angst um dich haben. Kannst du mir das versprechen?«, schluchzte sie.

»Ich werde nur noch tagsüber schwimmen gehen, wenn dich das beruhigt«, lenkte Nio ein, jedoch vor allem deshalb, weil sich das Nachtschwimmen als zu auffällig erwiesen hatte und die Orientierung unter Wasser wesentlich schwieriger war.

Valía atmete sichtlich auf, dann wünschte sie den Janos – wie die männlichen Wesen Fabolons genannt wurden – eine gute Nacht und kehrte in ihr Zimmer zurück.

Kaum war sie weg, legte Pipp sein Buch beiseite und setzte sich auf. »Jetzt mal ehrlich, du warst doch bei einer Meerfrau, stimmts?«

Nio ließ sich aufs Bett fallen und bedeckte seine Augen mit der Hand. »Fang du jetzt nicht auch noch an.«

»Wusstest du eigentlich, dass diese Verbindung niemals wieder gelöst werden kann, wenn sie durch ein Geschenk besiegelt wurde?«

»Ach, ja wirklich?«, brummte Nio genervt. »Habe ich ja noch gar nicht bemerkt …«

»Also ist es schon passiert?«, rief Pipp aus. »Dann hockst du ja jetzt ordentlich in der Brühe.«

»Schlaf doch einfach!« Nio beugte sich zur Laterne auf dem Beistelltisch und pustete das Licht aus.

»Mensch, Brüderchen, jetzt rede doch endlich mit mir. Wie heißt sie überhaupt?«

Pipp würde nicht aufgeben, so viel war klar und im Grunde hatte er eh schon alles erraten. Seinem Bruder konnte man einfach nichts vormachen. Nio pustete hörbar die Luft durch seine vollen Backen. »Nalana.«

»Und welches Geschenk hat sie dir gemacht?«

»Unter Wasser atmen«, antwortete er monoton.

»Hey, das ist genial! Lass mich raten, das ist passiert, als wir auf dem Weg nach Faresia beinahe ertrunken sind.«

»So langsam wirst du mir echt unheimlich. Woher weißt du das alles?«

»Ganz einfach Brüderchen: Eine Mischung aus Beobachtung, Kombination und Intuition. Könnte jeder, wenn er wollte, aber die meisten wollen vieles gar nicht wirklich wissen.«

»Hm.« Nio atmete tief durch.

»Das Problem ist, du hast dich in Lisa verknallt und kriegst sie nicht aus dem Kopf. Jetzt hast du sogar noch die gleiche Fähigkeit wie sie, da wärt ihr doch das perfekte Paar, stimmts?«

»Hör auf damit! Wenn ich mich gegen Nalana entscheide, stirbt sie, kapierst du das?«

»Aber Farbelwesen können nicht sterben«, warf Pipp ein.

»Meerfrauen sind aber Halbwesen, sie können sehr wohl sterben.«

»Das hat sie dir erzählt, aber bist du sicher, dass das auch stimmt?«

»Sie ist nicht wie andere Meerfrauen, sie will wirklich geliebt werden, nicht nur der Magie wegen. Ich weiß, dass sie mich nicht belügt.«

»Na, dann hoffen wir mal, dass du nicht auf die bezirzende Magie der Meerfrauen hereingefallen bist.« Pipp pustete auch die Laterne auf seinem Beistelltisch aus und wälzte sich auf die andere Seite.

Stille kehrte ein im Schlafraum. Nio lag mit offenen Augen auf dem Rücken und starrte zur Decke. Sein Bruder hatte erhebliche Zweifel in ihm geschürt.

Was, wenn alles nur ein geschicktes Spiel gewesen ist? Ihre Art, sich zu zieren, ihm die Wahrheit zu erzählen, die dann doch nicht die echte Wahrheit war? Wenn sie von vorneherein geplant hatte, ihn mit diesem Geschenk an sich zu binden? Wenn ihre Verletzlichkeit ebenso zum Spiel gehörte, das ihrer Magie entsprach?

Magische Wesen konnten sehr geschickt darin sein, Menschen zu manipulieren, zu verwirren und ihre Emotionen in die gewünschten Bahnen zu lenken.

Was, wenn meine Zuneigung zu Nalana von Anfang an nur durch ihre Magie gelenkt war?

Noch lange lag Nio wach im Bett und zerbrach sich vergeblich den Kopf darüber, ob er auf dieses Wesen hereingefallen war oder ob Nalana es ehrlich mit ihm meinte.

Jakeiter

Fabolon, Dorf Fedo, 6 A, 1214

 

Mit einem frischen Seeprecht über der Schulter marschierte Tono ins Wirtshaus. Fette schlief, als er eintrat, was nicht ungewöhnlich war für den frühen Morgen, im Gegensatz zu dem um diese Zeit schon voll besetzten Stammtisch im Erker. Tono kannte alle Gesichter: Hier hockten der Jäger Mirek, der Holzfäller Ketzo, der Schmied Brauko, die Schusterin Hildred sowie Mireks Schwager Kormud beisammen und unterhielten sich. Fette lag nicht wie gewohnt im Schaukelstuhl, er war am Stammtisch sitzend eingeschlafen, seine dicken Arme ruhten auf dem Gedeck, obendrauf lag der aufgedunsene Kopf. Ein Teil seiner rosa Locken badete im Becher mit Kräuterwasser. Aus Fettes halb geöffnetem Mund rann Speichel, während er geräuschvoll schnarchte. Noch hatte niemand Tono bemerkt.

»Jede Gemeinschaft benötigt eine starke Führung, um zu bestehen«, erklärte Mirek selbstherrlich. »Wenn alle machen, was sie wollen, zerbricht das Gefüge am Ende nur im Chaos.«

»Gut gesprochen, Schwager«, lobte Kormud mit auffällig tiefer Stimme. Tono fragte sich, ob alle Menschen in Snerika so düstere Erscheinungen waren und diese schwarze Kleidung trugen, welche im krassen Gegensatz zur blassen Haut stand. Die durchdringenden Augen und das pechschwarze Haar hatten etwas Beängstigendes an sich. Da Mireks Schwester vor ihrem Tod mit Kormuds Bruder verheiratet gewesen war, bestand keine Blutsverwandtschaft, daraus erklärte sich zumindest, dass äußerlich keine Ähnlichkeit zum blonden, braungebrannten Mirek bestand. Der Fremde wohnte nun schon über zehn Tage im Gästehaus und wie es schien, hatte Mirek in ihm einen neuen Verbündeten gefunden, um seine Herrschaftspläne auszubauen.

»Stärke habe ich genug«, antwortete Brauko und präsentierte seine in der Tat beachtlichen Bizeps. »Lasst uns einen Wettbewerb austragen, wer die Führung übernehmen soll.«

»Die Führung gehört in die Hand einer Jolina«, warf Hildred ein. »Es geht ja nicht darum, sich mit den Fäusten durchzusetzen, sondern Menschen zu führen und hierfür ist weibliches Geschick erforderlich.«

Während Jano auf Fabolon der Überbegriff für alle männlichen Wesen jedes Alters war, nutzte man Jolina als weibliches Pendant. Einen jungen Menschen egal welchen Geschlechts nannte man auch Jeni.

»Ach ja? Mit deinem hervorragenden Geschick hast du deinen Mann ins Grab gebracht, Hildi«, lachte Ketzo, der Holzfäller – ein ziemlich dreckiges Lachen, wie Tono fand.

»Unerhört!« Hildred versah ihn mit mörderischen Blicken. »Reiherdo ist an einer Vergiftung gestorben.«

»Spricht nicht für deine Kochkünste, Hildi«, stichelte Ketzo weiter.

»Wie dem auch sei. Wir brauchen jemanden, der alles vereint: Geschick, Stärke, Überzeugungskraft«, erklärte Mirek und plusterte sich auf. »Wenn ihr mich unterstützt, meine Position im Dorf zu stärken, werdet ihr es nicht bereuen.«

Allmählich wurde es Tono zu bunt. Er marschierte zum Stammtisch und sagte: »Wir brauchen hier keinen Führer und keinen der uns sagt, was wir zu tun haben.«

»He, belauschst du uns etwa, Fischer?«, brauste Mirek auf, sodass Fette die Augen aufschlug und unwillig grunzte.

»Ich bin nur hier wegen des Fisches für Fette.« Er holte den stattlichen Seeprecht von der Schulter, um ihn dem blinzelnden Wirt zu präsentieren. »Dabei wurde ich zufällig Zeuge eurer Unterhaltung. Wenn ihr Geheimnisse austauschen wollt, ist ein Wirtshaus definitiv der falsche Ort.«

»Sehr schlau ausgedacht, Fischer, aber so kannst du dich nicht rausreden«, brummte Mirek grimmig. »Gerade Leute wie du benötigen eine starke Führung, sonst tanzen sie der Dorfgemeinschaft auf den Zehen herum. Das Volk meines Schwagers hatte nur dank straffer Organisation und starker Führung so lange Bestand. Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen. Ihr werdet schon noch am eigenen Leib erfahren, wie wichtig dies ist.«

»Klingt beinahe wie eine Drohung …«, meinte Tono mit zusammengekniffenen Brauen.

Alle außer Fette erhoben sich, wodurch Kormud, der Mann mit dem blau schimmernden Umhang, die anderen um einen Kopf überragte.

»Welch ein stattlicher Seeprecht!«, rief Fette freudig aus, der endlich vollständig aus seinem Wachkoma aufgetaucht war. Schweiß rann ihm über das Gesicht. Er tupfte es sich mit einer verknautschten Serviette ab, die das Gedeck, auf dem er gelegen hatte, vervollständigen sollte. Die Platten und Teller der anderen Gäste waren bereits leergegessen und alle erhoben sich nun, um das Wirtshaus zu verlassen.

»Nimm dich in Acht, Fischer«, drohte Hildred im Vorbeigehen. »Sonst werden dir deine Worte noch im Hals stecken bleiben.«

Brauko rempelte Tono von der Seite an und Mirek schickte ihm warnende Blicke, während sein Schwager Kormud es gar nicht erst für nötig hielt, dem Fischer Beachtung zu schenken.

Als die Gruppe verschwunden war, quälte sich auch Fette auf die Beine, um den Fang des Fischers zu begutachten.

»Mmm, vorzügliche Qualität, feinster Duft.« Er schnupperte.

»Warum haben die sich bei dir getroffen?«, erkundigte sich Tono.

»Gerede, nichts als Gerede zu einem delikaten Frühmahl in meinem Hause.«

Tono seufzte. Von dem Wirt war keine Information zu erwarten, daher wickelte er mit ihm rasch das Geschäft ab und verabschiedete sich von Fette.

Daraufhin wanderte er über die Dünen zum Meer, da das Netz dringend von Algen und anderem Zeug befreit werden musste. Doch als er auf der Düne ankam, hielt er erstaunt inne: Ein großes Schiff mit drei stattlichen Masten steuerte mit geblähten Segeln auf Fedo zu.

Das kann doch nur ein Schiff der Litanias sein. Vielleicht kommt Gianna zusammen mit ihren Eltern zu Besuch, dachte Tono.

Er lief hinunter zum Strand, rannte über den Steg und mit einem Satz war er auf der Jomile – die Rampe extra runterzulassen, war ihm zu umständlich. Während das fremde Schiff sich nun rasch näherte, widmete sich der Fischer lediglich mit halber Aufmerksamkeit seinem Netz. Immer wieder starrte er zum Dreimaster und versuchte, eine jemanden zu erkennen. Doch an Deck konnte er niemand Bekanntes identifizieren. In einiger Entfernung vom Land wurden nun die Segel eingezogen, das Schiff kam zum Halt und Tono sah, wie der Anker heruntergelassen wurde. Näher hätte der Dreimaster nicht an Land fahren können, sonst wäre er bei dem Tiefgang sicher im Sand aufgesessen. Die Jomile war zwar auch ein großes Boot, aber nichts im Vergleich zu diesem Riesen. Nun wurde es lebendig an Deck, ein Beiboot wurde herabgelassen. Drei Gestalten kletterten von Bord, doch Tono erkannte noch immer niemanden. Ein Kind schien jedenfalls nicht dabei zu sein.

Was zum Mugok wollen die hier?

Vor lauter Beobachten hatte Tono ganz das Netz vergessen. Er stand auf der Jomile und beschattete seine Augen, um die Herannahenden besser erkennen zu können. Langsam ruderten die Insassen auf die Küste zu. Im Boot konnte der Fischer nun zwei Janos und eine Jolina mit einem Zopf aus rosa Haar ausmachen. Auch die anderen Männer sahen ungewöhnlich aus: Sie trugen orange-gelbe Kleidung in einem Schnitt, wie Jäger sie verwendeten. Einer der Janos hatte hellblaues, langes Haar bis zur Hüfte. Die Besonderheit dieser seltenen Farbe lag darin, dass sich hellblaue Haare willkürlich bewegen ließen. Auch rosa Haare wie bei der Jolina kamen nicht allzu häufig vor, in Fedo war Fette der Einzige mit dieser Farbe, hellblaues Haar hatte Tono bisher noch nie gesehen. Einige Haarfarben der Menschen Fabolons gingen zudem einher mit spezifischen Eigenschaften, beispielsweise verfügte rotes Haar über eine besondere Feuerfestigkeit. Rosa Haare trieben regelmäßig Blüten aus, was auf dem Zopf der Jolina im Boot jedoch nicht zu erkennen war. Entweder die Zeit dafür war schon vorüber oder sie hatte, wie Fette es regelmäßig tat, die Blütenblätter einfach abgeschnitten. Bühlendendes Haar war nun Mal nicht jedermanns Geschmack.

Die kleine Gruppe erreichte den Steg, während Tono von der Jomile sprang, um den Neuankömmlingen beim Vertäuen zu helfen.

»Hab Dank« und »Sei gegrüßt«, sagten die Leute im Boot, während sie an der Leiter des Steges emporkletterten.

Der Fischer erwiderte den Gruß. Mit der Hand auf dem Herzen nickte er ihnen zu.

»Mein Name ist Tono Najan aus der Familie Tanúka. Wer seid ihr und was führt euch nach Fedo?«

»Nun, der Wind hat uns offenbar einen günstigen Zufall beschert«, antwortete der Zyanhaarige. Die straffe Muskulatur und die ebenmäßige Gesichtshaut täuschten darüber hinweg, dass er schon etwas älter war, was wiederum einige Falten an seinem Hals verrieten. »Dann bist du derjenige, bei dem die Erdoni wohnen?«

»Ähm, nicht ganz, sie waren bei unserer Familie, doch nun sind sie zurück auf ihrem Planeten. Was wollt ihr von ihnen?«

»Dann haben wir die Reise ganz umsonst gemacht?«, bedauerte die Jolina, deren blasses Gesicht an eine Porzellanpuppe erinnerte, wie es bei Rosahaarigen recht häufig vorkam.

»Das ist in der Tat sehr bedauerlich, doch wir sollten uns zunächst einmal vorstellen: Ich bin Telarus Najan, Akquisitor neuer Talente für die Jakeiter.« Sein langes Haar formte einen Pfeil, der auf den anderen Mann deutete. »Dies hier ist Uranis A, Ausbilder der Jakeiteranwärter und Tierhüter.« Uranis nickte dem Fischer zu und musterte ihn mit durchdringendem Blick. Aus dem Scheitel seines kurz geschorenen Schädels sprossen vier hellblonde Zöpfe, die von einem ledernen Band zusammengehalten wurden. »Und Simoa An, unsere Bogenmeisterin«, fuhr Telarus fort. Auch die Jolina nickte zum Gruß.

»Ihr seid Jakeiter? Die berühmten Jakeiter?«, stieß Tono hervor. Die fabenische Jakeitertruppe war legendär auf Fabolon. Sie wurde zu verschiedenen Einsätzen im Land gerufen, häufig auch bei Problemen mit Farbelwesen. Als Jakeiten bezeichnete man eine Mischung aus Jagen, Kämpfen, Klettern und Reiten. Auf dem Kontinent Romantasy kam noch das Fliegen auf den feuerfressenden Fegodons hinzu, doch hier in Fabenia lebten diese Tiere nicht, das würden die Drachen nicht dulden, auch wenn sie selten anzutreffen waren und Menschen mieden. In Romantasy gab es zum Schutz der Bevölkerung in jedem Dorf einen Jäger, auf Fabenia waren es vor allem die Jakeiter, die diese Aufgabe übernahmen.

»Uns ist zu Ohren gekommen, dass diese Erdoni über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen«, erklärte Telarus. »Wir sind gekommen, um sie für unsere Truppe anzuwerben. Doch lasst uns das in aller Ruhe besprechen.«

»Oh wirklich?«, rief Tono erstaunt. »Dann kommt mit mir. Es wäre mir eine Ehre, euch als meine Gäste in meinem Haus zu begrüßen.«

Die Jakeiter nahmen die Einladung gerne an und folgten dem Fischer zum Dorf. Menschen in orangener Kleidung verirrten sich nur selten nach Fedo, dementsprechend großes Aufsehen erregte die kleine Truppe.

»Wer sind die?«, »Was wollen die hier?«, »Warum laufen sie Tono hinterher?«, tuschelten die Leute, schauten aus ihren Fenstern und steckten die Köpfe zusammen.

Der Rest der Familie Tanúka war gerade damit beschäftigt, die reichliche Ernte an Papfelbeeren zu Kuchen, Kompott und Marmelade zu verarbeiten, als Tono zusammen mit den Jakeitern durch die Tür eintrat. Mianma rührte die Marmelade kräftig durch und hielt in der Bewegung inne, Nio und Pipp, die am Tisch das Obst kleinschnitten, öffneten erstaunt den Mund. Valía war gerade dabei, Kompott vom Topf in ein Glas zu füllen, doch beim Anblick der Fremden verpasste sie den Stopp, sodass der heiße Papfelbeersaft über den Rand quoll.

»Schmauche!«, fluchte sie, stellte den Topf geräuschvoll ab und machte sich hektisch daran, die Sauerei auf dem Tisch fortzuwischen.

»Darf ich vorstellen, das ist meine Familie: Meine Liebe Mianma und unsere Drillinge Valía, Pipp und Nio«, verkündete Tono, indem er auf die entsprechenden Personen deutete.

»Hellblaue und rosa Haare«, hauchte Valía, wobei sie und ihre Brüder die Gäste mit der Hand auf dem Herzen begrüßten. Dann stellte auch Tono die Jakeiter vor.

»Die Jakeiter?«, stieß Valía fassungslos aus. »Hier in unserem Haus?! Träume ich?« Ihre Stimme klang so heiser, dass sich ihr Gestammel zu unverständlichem Kauderwelsch vermengte. Valía brachte es kaum fertig, ihre Augen von den Gästen abzuwenden, bis ihr auffiel, dass ihr Starren nicht gerade höflich war. Verlegen wandte sie sich wieder dem Kompottglas zu, verschloss es und säuberte die Ränder von Papfelbeerresten.

»Setzt euch doch. Wir können euch etwas von dem frisch gebackenen Papfelbeerkuchen sowie Kräuterwasser anbieten«, sagte Mianma und stellte auch schon den Kuchen in der Mitte des Tisches ab, während Pipp und Nio fortfuhren, das Obst kleinzuschneiden.

»Habt Dank«, sagte Simoa und ließ sich neben Uranis gegenüber der Jungs nieder.

Bloß weil diese Fremden unangemeldet ins Haus geplatzt waren und den Tisch belagerten, dachte Pipp gar nicht daran, seine Arbeit zu unterbrechen. Außerdem ahnte er bereits, was sie im Schilde führten.

»Ich wette, ihr kommt wegen der Erdoni«, argwöhnte er.

Telarus nickte wohlwollend und lächelte, wobei sich kleine Grübchen in seinem wettergegerbten Gesicht bildeten. »Wette gewonnen, junger Mann. Die Winde sind mit dir.« Er ließ sich neben Nio nieder, wobei sich sein langes hellblaues Haar wie von Geisterhand geführt zu einem Zopf zusammenflocht, um sich daraufhin selbständig über seine Schulter zu legen.

Unwillkürlich stießen die Drillinge ein Laut des Staunens aus. Lebendige Haare hatten sie noch nie gesehen.

»Tut es weh, wenn man hellblaue Haare schneidet?«, interessierte sich Nio.

»Nein, junger Mann, sie sind nicht schmerzempfindlich, dennoch habe ich sie noch nie geschnitten.«

»Verständlich«, krächzte Valía aus rauer Kehle. »Solche Haare würde ich auch niemals schneiden.«

»Kommen wir zur Sache«, mischte sich Uranis ein. Er zog die braungebrannte Stirn in Falten und verengte die Brauen. Der blonde Jakeiter wirkte deutlich ernster und strenger als die beiden anderen. »Geschichten wie die eure verbreiten sich rasch auf dem Kontinent, allerdings werden sie dabei verfälscht. Da die Erdoni nicht hier sind, erzählt uns jetzt genau, wie sich alles zugetragen hat.«

»Und weshalb sollten wir das tun?«, erwiderte Pipp misstrauisch.

»Mein Sohn, was ist denn in dich gefahren?«, empörte sich Tono.

»Wir kennen euch nicht, wissen weder ob ihr wirklich Jakeiter seid noch was ihr tatsächlich mit uns oder den Erdoni vorhabt«, entgegnete Pipp frei heraus.

»Dein Misstrauen ist verständlich«, antwortete Simoa sanftmütig. »Zu viele gutgläubige Menschen fallen auf Schwindler herein. Davon haben wir schon so Einiges gesehen. Es ist zwar kein endgültiger Beweis, aber schaut euch unsere Kleidung an:« Sie präsentierte ihren Ärmel, auf dem ein kunstvoll bestickter Baum eingenäht war. »Dies ist die Farellichte, unser heiliger Baum. Mit ihrer vollen Krone steht sie im dritten Äon, die von Telarus und Uranis im zweiten. Nur den Jakeitern ist es erlaubt, diese Ärmelstickerei zu tragen.«

»Davon weiß ich nichts. Diese Geschichte könnte auch erfunden sein«, entgegnete Pipp. So leicht wollte er es den Fremden nicht machen, sie sollten ruhig merken, dass die Tanúkas den Jakeitern, bloß weil sie orangene Kleidung trugen, nicht gleich die Füße leckten. Auch Nio kam die ganze Geschichte seltsam vor, doch er schnitt einfach weiter das Obst. Dafür waren Tono und Valía reichlich blass um die Nasen geworden und Mianma versuchte, die Situation zu retten, indem sie den Gästen Teller mit lecker duftendem Papfelbeerkuchen vor die Nase stellte.

»Gehen wir wieder!« Verärgert erhob sich Uranis. »Versteckschrauben lasse ich mich hier nicht.«

Simoa hielt ihn am Arm fest. »Warte, Ura. Wir können nicht erwarten, dass sie uns nur wegen unserer Kleidung Vertrauen schenken.«

»Und was schlägst du vor? Wie, bitte schön, sollen wir beweisen, dass unsere Beweggründe ehrenhaft sind?«, brummte er.

»Beweisen können wir es nicht, aber wir könnten zunächst etwas über uns selbst erzählen, bevor wir nach Informationen fragen«, schlug Simoa vor.

»Dann macht ihr das. Mir ist dieses Kindertheater zu dumm. Ich warte am Strand.« Damit riss er sich von ihr los und verschwand nach draußen.

Simoa versuchte es mit einem entschuldigenden Lächeln und Telarus probierte schon mal den Kuchen.

»Mein Name ist Simoa An, ich bin also eine Orangegeborene. Meine Eltern arbeiten als Schuster, so wie ihr gehören sie daher zu den Grünen, erst durch die Jakeiter konnte ich im Rang aufsteigen. Schon als kleines Mädchen fiel ich auf, weil ich kein Ziel verfehlte. Wodurch ich dieses Talent habe, kann ich nicht erklären, es war von Anfang an da und wenn ein Ziel erreichbar ist, dann treffe ich es. Ich bin Meisterin im Bogenschießen und bilde den Nachwuchs in allen Wurf- und Schießtechniken aus.«

»Toll! Du warst wirklich auch eine Grüne?«, staunte Valía. »Ach, das muss ja ein spannendes Leben sein bei den Jakeitern.«

»Das ist wohl wahr. Die Luft der Freiheit und der Wind des Zufalls führen einen in die entlegensten Winkel unserer Welt«, stimmte Telarus zu. »Ich bin schon mein halbes Leben bei den Jakeitern, doch meine Aufgabe besteht vor allem darin, neue Talente aufzuspüren und anzuwerben. In jungen Jahren war ich immer vorne mit dabei, aber mit der Zeit hat es mich mit größerer Freude erfüllt, mich um die Anwärter zu bemühen. Die stürmischen Einsätze sind nichts mehr für mich, daher konzentriere ich mich vor allem darauf, Nachwuchstalente aufzuspüren. Meine Eltern entstammen dem Windvolk. Sie zogen als Boten durchs Land, daher bin ich das Reisen gewohnt und dieser Leidenschaft kann ich mit meiner Aufgabe auch jetzt weiter nachgehen.« Er biss ein großes Stück von seinem Kuchen ab und kaute genießerisch darauf herum. »Dies ist übrigens der beste Papfelbeerkuchen, den ich je gegessen habe«, lobte er Mianma. Sie lächelte beschämt.

»Wo liegt denn eigentlich eure Festung?«, wollte Nio wissen.

»Wir nennen sie Jakeiterburg«, antwortete Simoa. »Sie liegt im östlichen Teil Faresias in einem erloschenen Vulkankegel. Wir haben derzeit lediglich zwei Anwärter, daher benötigen wir dringend qualifizierten Nachwuchs.«

»Aber da gäbe es doch bestimmt viele, die bei euch mitmachen wollen, oder? Also, ich könnte mir das sehr gut vorstellen«, erklärte Valía mit hochrotem Kopf.

»Nun, die Anwärter sollten besondere Fähigkeiten mitbringen, sie müssen ehrlich, mutig und loyal sein«, antwortete Telarus.

»Das bin ich alles und vielleicht habe ich ja auch eine Fähigkeit, von der bisher niemand etwas bemerkt hat«, beteuerte Valía, was den beiden Jakeitern ein Lächeln entlockte.

»Wie ist es denn nun mit diesen Erdoni? Wenn sie auftauchen, dann immer bei euch dreien?«, wollte Telarus wissen.

»Ja, genau. Und übrigens war ich es, die sie gerufen hat«, erklärte Valía voller Stolz.

»Schwesterchen, du hast alles versucht, uns davon abzuhalten, erinnerst du dich?«, erwiderte Pipp. Er tippte sich an die Stirn und schnalzte dazu wie ein Wickelkäuzchen auf Brautschau.

»Ja, schon, aber jetzt ist eben alles anders. Die Erdoni haben uns gerettet und uns mit Giannas Eltern geholfen. Das war doch wunderbar.«

»Und unter welchen Umständen erscheinen sie hier?«, hakte Telarus nach.

»Ich habe um Hilfe gerufen, weil … hm, ich hatte Angst um Papa und Nio und Pipp …« An diese Situation erinnerte sich Valía nicht besonders gerne, daher senkte sie den Blick.

»Wenn du jetzt wieder um Hilfe rufen würdest, meinst du, die Erdoni erscheinen dann auch?«, fragte Simoa.

Die Drillinge tauschten fragende Blicke aus. An diese Möglichkeit hatten sie bisher noch gar nicht gedacht, außerdem war es schließlich nicht in Ordnung, Maja, Felix, Lisa und Richard einfach gegen ihren Willen aus ihrer Welt herauszureißen, um sie ganz ohne Not hierherzuholen.

»Ich weiß nicht. Ich habe es noch nicht probiert …«, antwortete sie zögerlich.

»Ich halte es nicht für redlich, vier Menschen hierherzubringen, nur um zu sehen, ob es funktioniert«, mischte sich Mianma nun ein. »Wir können sie leider nicht fragen, ob sie kommen möchten.«

Telarus und Simoa nickten verstehend, wobei sie jedoch nicht besonders glücklich über diese Nachricht wirkten.

»Nein, ich glaube nicht, dass das so funktioniert«, bemerkte Pipp nun. »Immerhin hat meine Schwester gerade das Wort Hilfe ausgesprochen. Das alleine bringt die Erdoni offenbar nicht zum Erscheinen. Hilfe. Hilfe. Hilfe!«, rief er daraufhin mit anschwellender Lautstärke und schaute sich dabei suchend im Raum um.

Nichts geschah. Keine Erdoni manifestierten sich aus dem Nichts. Telarus atmete tief durch. »Nun, so bleibt uns nichts anderes übrig, als hier im Dorf darauf zu warten, dass sie irgendwann auftauchen.«

»Das kann aber lange dauern«, meinte Tono. »Und wir wollen ja nicht hoffen, dass jemand von uns so in Not gerät, dass ihre Hilfe notwendig wäre.«

»Natürlich nicht.« Telarus nickte, doch überzeugend klang seine Zustimmung nicht.

»Im Gästehaus wohnt derzeit Mireks Schwager, aber es sind dort noch Zimmer frei.«

»Bemüht euch nicht, wir nächtigen auf dem Schiff«, antwortete Telarus. »Vielleicht wärt ihr ja nun bereit, uns die ganze Geschichte zu erzählen?«

»Ja, gerne«, antwortete Tono rasch, um einem möglichen Einwand seines Sohnes zuvorzukommen.

»Dann macht ihr mal. Ich bin fertig.« Mit diesen Worten kippte Pipp das kleingeschnittene Obst von seinem Schneidebrett in die Schüssel und erhob sich. Nio tat es ihm gleich und folgte dann seinem Bruder nach draußen.

»Was hast du gegen die Jakeiter?«, fragte er, als sie das Haus hinter sich gelassen hatten.

Pipp zuckte mit den Schultern. »Nichts. Diese Fremden sollten nur nicht denken, dass wir ihnen um die Füße kriechen, nur weil sie einen höheren Rang bekleiden.«

»Auch wahr.« Die Jungen steuerten auf den Marplatz zu, wo heute zwei Bauern, der Bäcker Wecke und der Fischer Jaro ihre Marktstände aufgebaut hatten. Es herrschte wenig Betrieb, vielleicht, weil gerade auch in den meisten Gärten reichlich Obst und Gemüse reif geworden war. Pipp kaufte bei Wecke eine Hand voll Schaumkekse.

»Na, ich bin ja gespannt, wie viel Geduld die Jakeiter aufbringen müssen, um auf die Erdoni zu warten«, sagte Pipp und reichte seinem Bruder einen Keks.

»Ja, ich auch …«, seufzte Nio, schon wieder in Gedanken bei Lisa.

Doch zumindest an diesem Tag reiste keiner der Echsenträger von der Erde nach Fabolon und es blieb völlig ungewiss, wann und aus welchem Anlass das geschehen würde.

Heiliger Abend

Erde, Frankfurt, 24. Dezember

 

Die letzten zwei Wochen waren ungewohnt harmonisch verlaufen im Haus der Bergers. Entweder hatte die Magie der Frau des Lachens so lange angehalten oder die unverwüstlich gute Laune war der gelben Magie zuzuschreiben, welche Felix auf seiner letzten Fabolonreise erhalten hatte. Die Echse war die ganze Zeit über sichtbar geblieben und das Leuchten seiner Hände wurde allmählich zum Problem, weil es vor allem in der Schule großes Aufsehen erregte und Handschuhe zog er nur draußen an. Da Felix dank der Magie ausschließlich das tat, worauf er Lust hatte, kam er ohnehin nur sporadisch seinen Pflichten nach. Sina und Julian Berger hatten vergeblich versucht, ihren Sohn zum Schulbesuch zu bewegen, doch das berührte Felix nicht im Mindesten. Um negative Konsequenzen zu vermeiden, setzte sich seine Mutter mit Herrn Meyer, dem Rektor der Regenbogenschule, in Verbindung. Zu ihrer Erleichterung zeigte sich dieser erstaunlich verständnisvoll für den Gemütszustand ihres Sohnes.

Doch ausgerechnet an Heiligabend war alles anders und die Hochgefühle, die Felix die letzten Wochen begleitet hatten, waren wie weggeblasen. Hinzu kam, dass seine Eltern an Weihnachten stets großen Wert auf Perfektion legten. Die ausgesuchte Blautanne war von edlem Wuchs und die blau-weiß bestickten Silberkugeln harmonierten perfekt mit dem Lametta sowie den blau-silbernen Schleifen. Schon den ganzen Morgen über hatten Sina und Julian diskutiert, wie viel oben entfernt werden sollte, um die Spitze draufzusetzen. Lilli und Felix saßen am Küchentisch und polierten das Besteck fürs Festmahl.

»Und? Bekomme ich von dir auch ein Geschenk?«, fragte Lilli. Sie hielt das Messer vors Gesicht und betrachtete ihr Spiegelbild darin.

Mit guter Laune wäre die Antwort sicher netter ausgefallen, aber da diese nun mal verflogen war, bekam es Felix einfach nicht hin, freundlich zu bleiben, obwohl er sich den ganzen Vormittag über bemüht hatte – zum einen, weil er an Weihnachten keinen Streit heraufbeschwören wollte, zum anderen, weil er sich in den letzten Wochen dadurch sehr viel besser mit Lilli verstanden hatte.

»Wie kommst du denn darauf? Ich kriege doch von dir auch nie eines«, antwortete er, wobei er versuchte, seinen Sarkasmus zu unterdrücken.

Dennoch schaute sie ihn plötzlich aus zusammengekniffenen Augen an, als habe sie seinen Wandel bemerkt.

»Und ich habe schon gedacht, du wärst echt nett geworden, aber da hab ich mich wohl getäuscht«, grummelte sie.

»Das musst du gerade sagen, wo du mich ständig ärgerst.«

»Blödmann!« Sie pfefferte das Messer zu den anderen in den Besteckkasten.

»Zicke!« Felix erhob sich und marschierte in den Flur hinaus, wo er beinahe mit seinem Vater zusammengestoßen wäre. Dieser hatte jedoch keine Zeit für seinen Sohn.

»Der Braten ist ja noch gar nicht im Rohr!«, rief er mit Blick zum Truthahn auf der Anrichte.

»Ich dachte, du hast das bereits erledigt!«, entgegnete Sina aus dem Wohnzimmer, während sie entnervt versuchte, die Kabel der Christbaumbeleuchtung zu entwirren. »Wer, verdammt nochmal, hat die Christbaumkerzen so ungeordnet eingeräumt?«

»An Weihnachten sollte man doch nicht fluchen«, rügte Julian, aber auch seine Laune hatte noch deutlich Luft nach oben.

Na, das wird ja ein heiteres Fest werden, dachte Felix und wollte sich gerade auf sein Zimmer zurückziehen, doch da hatte er die Rechnung ohne seine Mutter gemacht:

»Felix! Komm, jetzt hilf mir doch mal!«

Eine Stunde später saß die gesamte Familie Berger am Tisch und verspeiste das Festessen. Doch an diesem Tag schien beinahe alles schiefzugehen: Der außen verkohlte Truthahn war innen beinahe noch roh, was auch die matschigen Kartoffeln nicht wettmachen konnten. In Lillis Rotkraut hatte sich ein langes Haar verirrt, das sie unter Ekelrufen umständlich aus Mund und Zähnen zu fädeln versuchte. Zum Schluss kippte Sina versehentlich ihr Glas mit dem teuren Rotwein um, was das Desaster noch vervielfachte. Auch die Bescherung verlief alles andere als harmonisch: Eine vergessene brennende Kerze auf dem Fensterbrett hatte einen Wachs-See samt Tropfgebilde hinterlassen, das sich bis zum Teppich fortsetzte. Immerhin war es ein Glück, dass die Gardine kein Feuer gefangen hatte, aber für den positiven Aspekt dieses Sachverhalts war heute niemand zugänglich.

»O Gott! Ich werde noch wahnsinnig!«, rief Sina entsetzt. »Das bekomme ich doch nie wieder aus dem Teppich raus.«

Zum Singen hatte heute niemand Lust, sodass man gleich zum Programmteil mit den Geschenken überging. Lilli, als jüngstes Familienmitglied, war als erste dran mit auspacken. Kaum hatte sie die silberne Schachtel mit der rosa Schleife hochgehoben, da stieß sie ein markerschütterndes »Iiihhh!« aus und pfefferte das Geschenk mit solcher Wucht gegen den Kopf ihres Vaters, dass dieser, als er gerade aufstehen wollte, taumelte und gegen den Christbaum stieß, der seinerseits mit einem rauschenden Geräusch umkippte, dabei noch ein Päckchen vom Tisch mitnahm, das klirrend zu Boden knallte.

Eine fette Hauspinne, die das Chaos offensichtlich ausgelöst hatte, flüchtete quer über den Geschenkeberg, um schließlich unter der Couch Schutz vor den wild gewordenen Menschen zu suchen. Während Sina und Lilli zurückwichen und angeekelt kreischten, rappelte sich Julian benommen auf die Beine. Für Felix war das Schauspiel dagegen zum ersten Mal wirklich lustig anzusehen und er brach unter Blinken in Gelächter aus, zum Glück ging das Licht aus seinen Handflächen im allgemeinen Chaos und Entsetzen völlig unter.

Jetzt war Lilli so richtig erbost. »Das ist alles deine Schuld!« schrie sie, stürzte sich auf ihren Bruder und prügelte wutentbrannt auf ihn ein. »Das war deine Spinne! Du hast sie unter meinem Geschenk versteckt!«

»Nein, das war ich nicht. Das war eine gewöhnliche Hausspinne, wie sie überall vorkommt. Meine Violetta ist eine Vogelspinne.«

Sina interessierte sich dagegen überhaupt nicht für den Streit der Geschwister. Sie war auf den Stuhl geklettert und schaute sich suchend um. »Wo ist sie hin? Julian, Julian, so hilf mir doch! Solange wir sie nicht gefunden haben, komme ich nicht wieder herunter.«

»Du lügst!«, schrie Lilli. Felix hatte alle Mühe, sich gegen seine schlagende Schwester zur Wehr zu setzen. Allmählich wurde ihm das zu blöd. Er schupste sie zurück und flüchtete aus dem Haus. Wütend und frustriert knallte er die Tür ins Schloss.

Endlich Luft!

Er atmete tief durch und im selben Moment löste er sich auf.

 

* * *

 

Beim Schulrektor ging es deutlich beschaulicher zu an diesem Tag. Er saß in seinem Bastelkeller und übte die Kontrolle des Feuers. Richard hatte einen Stuhl vor das Waschbecken gestellt, im Wasserbad schwamm eine Schwimmkerze. Dann konzentrierte er sich auf den Zeigefinger seiner linken Hand – aus unersichtlichem Grund klappte es links besser – und schickte eine Flamme zum Docht, doch sie schoss so heftig hervor, dass sie bis zu den Fliesen züngelte und das Wasser zum Dampfen brachte. Das hatte er während der letzten zwei Wochen häufig geübt, zuweilen auch am offenen Kamin, nachdem er beinahe in der Schule einen Brand ausgelöst hatte. Aus Wut über die lärmenden Schüler vor dem Rektorat waren Flammen aus einem Fingern gezüngelt und hatten die Klausuren der 8A in Brand gesetzt, welche er gerade korrigieren wollte. Glücklicherweise hatte Helen, die sich im Sekretariat nebenan aufgehalten hatte, den Brandgeruch bemerkt und war geistesgegenwärtig mit dem Feuerlöscher hereingestürmt, um Richard samt Bürostuhl, Schreibtisch und Klausurheften mit Löschschaum einzusprühen. Dies war eine der wenigen Gelegenheiten gewesen, mit ihr in Kontakt zu treten, denn nach dem letzten Treffen beim Pavillon im Schnee, war sie ihm aus dem Weg gegangen. Auch nachdem sie dem Rektor geholfen hatte, den Schaum zu entfernen, hatte sie sich rasch wieder zurückgezogen. Seine Schüler hatten ihn zwar davor gewarnt, dass die Magie Fabolons auch auf der Erde funktionierte, dennoch war es eine kaum zu bewältigende Herausforderung, die Emotionen zu kontrollieren und somit das Feuer.

Die rote Echse züngelte und blies schwarze Rauchwolken über Richards Haut. Unwirklich und unheimlich war ihm dieses Tattoo zu Beginn erschienen, doch mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt und irgendwie mochte er seinen lebendigen Begleiter inzwischen sogar.

»Nicht so heftig!«, mahnte Richard die Echse.

Womöglich hat es einen positiven Effekt, mit diesem Wesen zu kommunizieren.

Er wiederholte seinen Versuch und tatsächlich, dieses Mal zuckte nur eine kleine Flamme hervor, allerdings viel zu mickrig, um den Docht auch nur im Ansatz zu erreichen.

»Ich will die Kerze anzünden. Also benötige ich eine Flamme, die genau bis zur weißen Schnur reicht«, wies er die Echse an.

Dieses Mal passierte jedoch etwas völlig anderes: Aus Richards Zeigefinger züngelte Feuer, das sich spiralförmig im Kreis drehte, wie ein Wirbelsturm, leider bewegte er sich auch nicht zur Kerze hin, sondern in die Höhe. Der Rektor tunkte entnervt die Finger ins Wasserbecken, wo das Feuer zischend erlosch. So konnte das nichts werden.

Er blickte auf die Armbanduhr – ein edles Erbstück seines Vaters, mit Goldrand und schwarzem Lederband: Es wurde Zeit, das Festmahl zuzubereiten. Aber dem Gedanken, an Weihnachten alleine zu speisen, konnte er gerade nicht allzu viel abgewinnen. Überhaupt fühlte er sich oft einsam in dem Haus, das er von seinen Eltern geerbt hatte. Er warf noch einen Blick auf die gigantische Miniatur-Eisenbahnlandschaft, die er in akribischer Kleinarbeit zusammengebastelt hatte, doch auch das gab ihm heute nicht das erfüllende Gefühl, welches er in den vergangenen Jahren bei diesem Anblick verspürt hatte.

So verließ Richard das Haus zu einem Spaziergang. Wogegen in Filmen der Heiligabend stets mit kaltem Wetter und reichlich Schnee gesegnet war, sah die Realität doch deutlich nüchterner aus: Bedeckter Himmel, leichter Nieselregen bei lauen vierzehn Grad Celsius.

Mit Hut und Regenmantel bekleidet stapfte er die menschenleeren Straßen entlang zum Mainufer hinunter. Der Fluss wälzte sich grau und träge durchs eingemauerte Bett. Links der Uferpromenade standen verlassene Spielgeräte, umgeben von Büschen und Bäumen. Jemand hustete. Der süßliche Duft von Marihuana schwängerte die Luft.

Immer diese Drogen, dachte der Rektor grimmig. In der Frankfurter Großstadt war es ihm schon häufig passiert, dass derartige Gerüche die Luft verpesteten, selten jedoch am Mainufer und bei diesem Wetter. Der Husten klang männlich und alles andere als gesund. Richard näherte sich dem Gebüsch, in dem er den Raucher vermutete. Als er die Zweige auseinanderschob, blickte er ins Gesicht eines Schülers, den er nur allzu gut kannte: Ricardo Turner.

Der Junge hatte sich zusammen mit seinen Freunden selbst bei Richard gemeldet, wegen Diebstahl und Zerstörung der Originaldokumente, die der Rektor für seine Doktorarbeit erworben hatte. Daraufhin hatte er sich mit der alleinerziehenden Mutter des Jungen in Verbindung gesetzt, doch die sozialen Umstände des Knaben waren alles andere als zufriedenstellend gewesen, daher hatte er seine Forderung auf sich beruhen lassen. Die letzte Woche hatte der Turner-Sohn obendrein durch unentschuldigte Abwesenheit geglänzt, sodass das Schulamt informiert werden musste, doch der Junge war auch zu Hause nicht auffindbar gewesen.

Nun hockte Ricardo zusammengekauert auf der Erde, in den zitternden Fingern hielt er das Corpus Delicti. Die Augen in seinem blassen Gesicht waren geschwollen, Kleidung und Haare glänzten feucht. Er zuckte ertappt zusammen, als ihn der Rektor erblickte.

»Ricardo! Sag mal, was treibst du hier?«

»Ich heiße Rick.«

»Solltest du nicht lieber zu Hause sein an Heiligabend?«

»Heiligabend!?«, brummte er abfällig. »Phhh, was ist das überhaupt?« Wieder hustete er heftig.

»Wenn du hierbleibst, holst du dir noch den Tod.«

»Na und? Kann nur noch besser werden …«

»Junge, komm, steh auf! Ich bringe dich nach Hause.«

Wieder hustete Rick fürchterlich. »Und wer sagt, dass ich das will?«

Die Lage stresste den Rektor und es gelang ihm kaum noch, seinen Ärger in Zaum zu halten, so geschah, was eben geschehen musste, wenn man eine magische Feuerechse auf dem Arm trug: Flammen züngelten aus Richards Augen.

Unter erneutem Husten schrie Rick auf, ließ dabei seinen Joint fallen und wich rücklings über den Boden krabbelnd vor ihm zurück, ruderte dabei ungelenk mit Armen und Beinen.

»Hölle! Was ist das?«, rief er aus.

Nur unter großer Anstrengung gelang es Richard, die Flammen schließlich einzudämmen.

»Tu einfach, was ich dir sage und komm mit!«, ordnete er an.

»Ja-ja, ich komme ja schon …«

Rick stemmte sich auf die Beine und folgte dem Rektor, wobei er ihn unablässig ängstlich beäugte.

Vom letzten Besuch her wusste Richard, wo der Junge wohnte, da es zu Fuß jedoch zu weit gewesen wäre, nahm er Rick in seinem Auto mit. Der Junge hockte auf der Rückbank und gab keinen Pieps mehr von sich. Um die Hochhäuser herum war kein freier Stellplatz zu finden, daher musste Richard ein paar Straßen entfernt parken.

Erst als sie ausstiegen, fand Rick seine Sprache wieder. »Wie … wie haben Sie das gemacht?«

»Ich weiß nicht, was du meinst«, wich der Rektor aus.

»Da-da war Feuer in Ihren Augen«, beharrte der Junge.

»Unsinn! Du hast nur zu viel geraucht. Das bekommt dir schlecht, wie man sieht. Und jetzt komm mit.«

In dieser Straße wechselten sich schmucke Einfamilienhäuser mit Mehrfamilienhäusern ab. Hinter beleuchteten Fenstern hörte man Kinderlachen und Weihnachtslieder. Aus einem geöffneten Küchenfenster drang Lebkuchenduft. Lediglich in dem älteren weißen Haus mit zwei Erkern an den Ecken wurde heftig gestritten. Fünf Minuten später hatten sie das mittlere der drei Hochhäuser erreicht. Rick schloss die Tür auf und der Rektor begleitete ihn zum Aufzug.

»Ab hier … komme ich alleine … zurecht«, meinte der Junge hustend, doch so leicht wurde er den Rektor nicht los.

Richard fuhr mit ihm in den neunten Stock, wo Rick widerwillig die Tür seines Zuhauses aufschloss. Sofort eilte eine verweinte, zerbrechlich wirkende Frau auf ihn zu und schloss ihn in die Arme.

»Ricki, wo bist du nur gewesen, mein Junge?«

Er befreite sich aus ihren Armen und riss sich los. »Ist Sergej noch da?«

»Nein, ich … ich habe ihn rausgeschmissen. Es tut mir ja so leid. Er hätte dich nicht schlagen dürfen.«

»Hm«, brummte Rick und verschwand ins Innere der Wohnung, woraufhin sich seine Mutter an den Lehrer wandte.

»Vielen Dank, dass sie ihn zurückgebracht haben.« Sie schniefte in ein Taschentuch, das dringend gewechselt werden sollte.

»Keine Ursache. Dann noch ein frohes Weihnachtsfest.« Richard verabschiedete sich, indem er seinen Hut anhob – eine Geste, die selbst in seiner Generation schon nicht mehr üblich war, doch die strenge Erziehung seiner Eltern nach der alten Schule ließ sich nicht so leicht ablegen.

»Danke, das wünsche ich Ihnen auch.«

Richard begab sich auf den Weg zurück zum Auto. Als er an dem weißen Haus mit den Erkern vorbeikam, stritt das Paar noch immer. Plötzlich flog die Tür auf und eine Frau eilte heraus. Ihr Partner folgte im Abstand von einer Sekunde. Richard stockte, als er erkannte, dass es sich dabei um Helen und Kai handelte. Aufgelöst lief die Lehrerin an Richard vorüber, ohne ihn zu erkennen. Als ihr Partner ebenfalls an dem Rektor vorbeieilen wollte, stellte sich Richard ihm in den Weg.

»Hey!«, rief Kai aufgebracht und starrte den Störenfried feindselig an. »Ach, Sie sind das!«, erkannte er plötzlich. »Jetzt ist mir ja alles klar! Dein Schulrektor hat hier also schon auf dich gewartet!«, rief er Helen nach. Er ballte die Fäuste und blitzte angriffsbereit.

Frau Kassandra war stehengeblieben und warf einen erstaunten Blick zurück. »Richard. Du hier?«

»Nun, ich brachte einen verirrten Schüler zurück nach Hause«, antwortete er gefasst, doch innerlich zitterte er vor Angst wie vor Wut gleichermaßen. Mit diesem Kai war offenbar nicht zu spaßen, lediglich das Wissen um sein magisches Feuer verlieh Richard den Mut, ihn zu konfrontieren. Bedauerlicherweise setzte in diesem Moment etwas ein, mit dem der Rektor überhaupt nicht gerechnet hatte: Während die Szene um ihn herum einfror, wurde er selbst von einem Strudel aus Leuchtpunkten verschlungen.

Weggefahren

Lisa hob die Querflöte an die Lippen, doch statt hineinzublasen, horchte sie auf, als sie ihre Mutter leise reden hörte. Sie legte das Instrument in den Koffer und schlich zur Tür.

»Ich hatte ihr versprochen, dass wir heute nur zu zweit feiern. Hm …Ja, na gut, aber nur kurz.«

Bestimmt war das wieder dieser Juan. Was hat Mama mit ihm besprochen? Kommt er etwa doch vorbei?

In den vergangenen Wochen hatte sich Lisa einigermaßen mit ihm arrangiert, richtig warm war sie aber nicht mit dem neuen Freund ihrer Mutter geworden.

Hinzu kam, dass sie von ihrem Vater noch immer nichts gehört hatte. Der Anrufbeantworter ging auch nicht an und nicht einmal heute, an Weihnachten, hatte er sich bei seiner Tochter gemeldet. Das schmerzte Lisa nicht nur höllisch, allmählich begann sie sich auch ernsthafte Sorgen um ihn zu machen. Mama meinte immer nur, dass er sicher viel um die Ohren hätte und er mal wieder auf Tournee sei. Tatsächlich hatte Lisa im Internet recherchiert, dass sein Orchester abwechselnd in London, Paris und Madrid auftrat. In der Vorweihnachtszeit beteiligte er sich außerdem an irgendeinem sozialen Projekt für Kinderheime. Dennoch hätte er sich wenigstens ab und zu bei ihr melden können. Am liebsten würde sie auf der Stelle ihre Sachen packen und zu ihm nach Mainz fahren – natürlich eine idiotische Idee, wenn man bedachte, dass er sich gerade überall in Europa aufhalten konnte. Aber an Heiligabend wäre die Wahrscheinlichkeit immerhin am größten, ihn zu Hause mit seiner neuen Partnerin Cecilie anzutreffen.

Ob sie tatsächlich bald ein Baby bekommt?

Dieser Gedanke verursachte einen heftigen Stich in Lisas Brust.

Sie ging hinunter in den Wohnraum, wo Mama gerade die Lebkuchen am Christbaum befestigte. Lisa erinnerte sich noch zu gut daran, wie sie als kleines Mädchen heimlich von diesen selbstgebackenen Leckereien genascht hatte. Damals hatte Papa am Flügel gesessen und Weihnachtslieder gespielt. Umso unerträglicher war jetzt diese schreckliche Stille im Haus.

»Magst du mir helfen?« Tatjana streckte ihrer Tochter einen Lebkuchenstern entgegen. Draußen dämmerte es, doch die elektrischen Christbaumkerzen brannten bereits und verbreiteten ein weihnachtliches Leuchten.

»Na gut«, antwortete Lisa, da fiel ihr Blick auf den Esstisch, den Mama für drei, statt für zwei Personen gedeckt hatte.

»Er feiert also doch mit uns!«, stellte sie verbittert fest. »Du hast mir versprochen, dass wir wenigstens an Weihnachten nur zu zweit bleiben.«

»Ich weiß, aber Juan war so unglücklich, dass er diesen Tag ganz alleine zu Hause verbringen muss. Er bleibt auch nur zum Essen, versprochen.«

»Versprochen hast du mir, dass er gar nicht kommt«, entgegnete Lisa erbost.

»Ja, ich weiß, es tut mir wirklich leid.«

Es läutete an der Tür und Mama lief hin um zu öffnen.

Das ging ja schnell.

»Hola, mi amor.« Kussgeräusche. »Hier, das ist für dich. Y eso es por su hija, für deine süße Tochter.« Während Lisa fortfuhr, den Christbaum mit Lebkuchen zu dekorieren, betraten Tatjana und Juan beladen mit Paketen und einer Flasche Champagner den Wohnraum.

»Schau mal, Lisa, Juan hat dir ein Geschenk mitgebracht. Ist das nicht lieb von ihm?« Sie präsentierte ein luxuriös in blaues Seidenpapier geschlungenes Päckchen.

»Ja, danke«, antwortete Lisa emotionslos.

Die Geschenke landeten neben den anderen unterm Christbaum.

Juan nahm am Esstisch Platz, während Mama die Kerzen des Adventskranzes anzündete, der in der Mitte des runden Tisches auf einer Porzellanplatte lag, wegen der Brandgefahr und um Wachsflecken auf der weißen Decke zu vermeiden.

»Was gibt es denn zu Essen, mi amor?« Juan gab Tatjana einen sanften Klaps. Lisa konnte diese womöglich typisch südländische Eigenart nicht leiden, aber ihre Mutter störte sich nicht daran.

Nio würde so was niemals tun, dachte sie. Was er wohl gerade macht? Weihnachten feiern sie auf Fabolon bestimmt nicht.

»Gefüllter Karpfen mit Ofengemüse«, antwortete Tatjana. »Das Essen müsste jeden Moment fertig sein.«

»Was ist das, Karpfen?« Juan schaute verständnislos drein.

»Ein Fisch«, antwortete Lisa.

»Fisch?! En navidad? Ihr esst an Weihnachten Fisch

»Lisa isst kein Fleisch, lediglich Fisch und Meeresfrüchte«, erklärte ihre Mutter. »Das hat sie wohl von ihrem Vater.« Tatjana seufzte unglücklich, doch Lisa argwöhnte, dass dieses traurige Gesicht weniger dem Umstand des fleischlosen Essens als vielmehr dem Schmerz um ihren Vater galt.

»Wirklich? Das könnte ich nicht. Ich bin Carnivor durch und durch. Braucht der Mensch denn nicht Fleisch zum Leben?«

»Man kann gut ohne Fleisch überleben«, erwiderte Lisa. »Sonst wäre ich schon lange tot.«

Juan sah sie schief an, als forschte er nach ernährungsbedingten Gesundheitsdefiziten im Gesicht des Mädchens. »Ein bisschen blass …«

»Ich schau schon mal in den Ofen.« Mit einem gequälten Lächeln auf den Lippen lief Tatjana in die Küche. Sie kehrte mit einer dampfenden Auflaufform zwischen zwei dicken Kochhandschuhen zurück und stellte diese auf die dafür vorgesehene Keramikplatte.

»Huele bueno.« Juan schnupperte in der Luft.

»Es schmeckt sicher genauso gut, wie es riecht. Ich fülle eure Teller, wenns recht ist.« Da kein Widerspruch erfolgte, nahm Tatjana den Karpfen vorsichtig auseinander und drapierte Stücke davon, sowie etwas Gemüse auf den Tellern. Die Gläser der Erwachsenen befüllte sie mit Weißwein, das von Lisa mit Wasser.

Auch wenn Juan genug Anstand besaß, nicht über das Festessen zu lästern, so merkte man doch, dass er den fetten Weihnachtsbraten vermisste, auf den er sich schon gefreut hatte. Das wiederum vermieste Lisa das Essen, so dass auch sie den Fisch nicht genießen konnte.

Nach der Rückkehr von Fabolon hatten Felix und Maja erzählt, dass dieses Mal die Magie der Echse auch auf der Erde wirkte. Das war bezüglich des Unterwasseratmens zwar kein Problem, jedoch befürchtete Lisa, dass sie versehentlich in fremder Gesellschaft lachen musste und dadurch ihre Haare leuchten würden. Diese Sorge hatte sich jedoch als unbegründet erwiesen, da es rein gar nichts gegeben hatte, worüber sie hätte lachen können. Allerdings traute sie sich nicht mehr ins Schwimmbad, da die blaue Echse mit den gelben Füßen dort nur allzu gut auf ihrer Haut zu sehen gewesen wäre. Auf keinen Fall wollte Lisa ihr Tattoo preisgeben – nicht auszudenken, wenn jemand bemerkte, wie es über ihren Körper krabbelte.

»Y ahora los presentes. Ich bin gespannt, was sagt ihr zu die Geschenke. Wollt ihr auspacken?«, schlug Juan vor, nachdem alle ihre Teller geleert hatten.

Lisa warf ihrer Mutter düstere Blicke zu.

»Ja, hm, du Juan, es tut mir leid, aber ich hatte Lisa versprochen, dass wir heute nur zu zweit feiern.«

»Ah so. Entiendo. Vielleicht nur die Geschenke von mir. Ich möchte so gerne sehen, ob es euch gefällt, sonst müsste ich sie umtauschen.«

Tatjana atmete tief durch und sah ihre Tochter fragend an. Lisa fühlte sich elend damit, dass ihr jetzt die Verantwortung zugeschoben wurde, den Gast hinauszubefördern.

»Na gut«, seufzte sie. »Eigentlich singen wir aber immer erst zusammen vor der Bescherung.«

»Oh, que bueno. Ich würde das sehr gerne hören. Leider kenne ich nicht die deutschen Weihnachtslieder.«

»Lisa, wie wärs, wenn du etwas auf der Querflöte vorspielst?«, schlug Tatjana vor.

Ihre Tochter lief knallrot an, vor Zorn, vor Scham und vor Frust, sich nicht so zur Wehr setzen zu können, wie sie es gerne getan hätte. Es lag ihr überhaupt nicht, jemanden unhöflich abzuweisen, daher suchte sie einen möglichst diplomatischen Weg aus dieser Misere heraus.

»Nur ein Lied«, lenkte Lisa ein, in der Hoffnung, Juan auf diese Weise endlich loszuwerden. Sie holte ihre Querflöte von oben, dann spielte sie vor dem erleuchteten Christbaum eine Strophe O du Fröhliche.

Der Spanier klatschte Applaus und wollte mehr hören, so ließ sich Lisa zu einem O Tannenbaum und Leise rieselt der Schnee überreden. Dabei schenkte Juan Tatjana und sich selbst immer wieder von dem mitgebrachten Champagner ein. Nach Ihr Kinderlein kommet legte Lisa die Flöte dann endgültig weg und sagte: »Na gut, dann können wir jetzt auspacken.«

Normalerweise lief alles viel feierlicher ab in der Familie Fischer, aber das Ziel, Juan endlich loszuwerden, verkürzte die Programmpunkte erheblich. Vorsichtig zog Lisa das Seidenpapier vom Päckchen und öffnete die Schachtel. Darin lag ein blaues Designerkleid aus feinster Seide. Lisa hob es hoch und hielt es vor ihren Körper. Es musste ein Vermögen gekostet haben und es schien wie maßgeschneidert für ihre Figur, dennoch konnte sie sich nicht darüber freuen.

»Danke«, sagte sie. »Ich denke, es passt mir.«

Tatjana, die bislang sprachlos zugesehen hatte, schlug die Hände auf ihre Wangen. »Mein Gott, Lisa, das Kleid ist ja ein Traum! Aber Juan, das wäre doch nicht nötig gewesen. Sicher hat es ein Vermögen gekostet.« Von dem vielen Alkohol lallte sie bereits ein wenig.

»Ah, für meine Princesas ist mir nichts zu teuer«, winkte er gönnerisch ab. »Nun, mi amor, mach deines auf.«

Auch in Tatjanas Geschenk lag ein edles Designerkleid und obendrein noch eine mit Diamanten besetzte Kette. Lisas Mutter geriet völlig aus dem Häuschen und wurde nicht müde zu beteuern, dass das alles gar nicht nötig gewesen wäre. Die Freude musste natürlich wieder überschwänglich mit reichlich Champagner begossen werden. Im allgemeinen Hochgefühl schwelgend, begannen die beiden miteinander zu schmusen und schienen Lisa dabei völlig zu vergessen. Ihr war zum Heulen zumute und so flüchtete sie auf ihr Zimmer.

Schrecklichstes Weihnachten aller Zeiten!

Sie wollte nur noch weg. Hastig packte sie die wichtigsten Sachen in ihren Rucksack, kippte den Inhalt ihrer Spardose ins Portemonnaie und rannte die Treppe hinunter. Mama kicherte gerade über einen Scherz, den Juan gemacht hatte. Die beiden hingen eng umschlungen auf der Couch.

»Ich geh spazieren!«, rief Lisa.

»Ja, is gut«, antwortete Tatjana, doch Lisa bezweifelte, dass sie tatsächlich etwas davon mitbekommen hatte, denn schon kicherte sie wieder, von den Küssen auf ihrem Hals.

Es nieselte leicht, als Lisa aus dem Haus trat. Eilig marschierte sie davon zur nächsten U-Bahnstation.

So leer wie an Heiligabend war die U-Bahn selten und sie fragte sich, was die wenigen Leute, die heute mitfuhren, noch zu erledigen hatten. Lisa stieg am Hauptbahnhof aus. Auch hier war nicht viel los, nur einige Bettler hockten wie immer in ihren Ecken. Wie sie es manchmal tat, kaufte Lisa ein belegtes Brötchen für eine am Boden sitzende Frau, die besonders traurig dreinblickte. Geld gab sie nie, weil in Frankfurt bekanntlich organisierte Bettlerbanden umherstreunten, die den Großteil der Einnahmen an ihren Boss weitergaben oder es

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 30.11.2021
ISBN: 978-3-7554-0149-0

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