NACHT DER LICHTER
GEWITTERMACHT
Isabella Mey
Trilogie, Band 3
Tyrannei lebt von der Angst der anderen.
Niemals trete ich in Erscheinung, daher nennen mich Eingeweihte den Schattenherrscher. Sämtliche Fäden des Weltgeschehens halte ich in meinen Händen, zahllose Erfüllungsgehilfen unterliegen meinem Befehl. Die Welt ist so wie sie ist, weil ich es so will. Kaum jemand durchschaut dieses Spiel der Macht und das ist gut so, denn wenn die Menschen verstünden, wer die Verantwortung trägt für Elend, Kriege, Verschmutzung, Zerstörung, Krankheit und die schleichende Etablierung der absoluten Kontrolle, würden sie sich gegen mich verbünden und meine Macht wäre gebrochen. Aus diesem Grunde gilt mein stetes Bestreben, der Verschleierung der wahren Machtverhältnisse. Gesunde, kreative, eigenständig denkende Menschen, denen Zeit bleibt, sich mit dem System, Sinnfragen oder der Welt zu befassen, sind mir ein Gräuel, denn sie stellen eine unkalkulierbare Gefahr für mich dar. Meine Strategien sind mannigfaltig, um diese Gruppierungen in den Griff zu bekommen: hypnotisieren, chemisch beeinflussen, manipulieren, ablenken, in oberflächlichen Vergnügungen gefangen halten, mit Krankheit oder energieraubender Arbeit beschäftigen. Durch das Verkomplizieren jeglicher Systeme werden diese so undurchsichtig, dass der einfache Mensch kaum mehr in der Lage ist, sie zu durchschauen und zu verstehen. Das gilt für Wissenschaft, Gesetzgebung, Steuer- und Finanzsystem sowie die Verstrickungen von Politik und Wirtschaft.
Meine Erfüllungsgehilfen besetzen die zentralen Machtpositionen. Damit sie mir in absoluter Loyalität ergeben sind, müssen sie durch ein dunkles Geheimnis erpressbar sein. Personen, die sadistische Verbrechen begangen haben, bieten beste Voraussetzungen hierzu. Falls erforderlich, werden Menschen in Schlüsselpositionen zu verwerflichen Taten genötigt. Die Angst vor Gesichtsverlust, gepaart mit massivem Druck, generieren aus ihnen perfekte Werkzeuge für mein Machtsystem.
Mein Ziel? Die absolute Kontrolle. Noch ist sie nicht erreicht, denn jederzeit könnte sich eine Welle der Bewusstwerdung ausbreiten, die Massen würden sich gegen mich erheben und mein Spiel wäre beendet. Doch wenn die absolute Kontrolle erst installiert ist, wird es ihnen kaum mehr möglich sein, sich gegen mich zu verbünden, denn dann werde ich jeden Ansatz eines freien, rebellischen Gedankens im Keim zu ersticken wissen. Mein System wird ihn eliminieren, bevor er sich verbreiten kann.
»Leisa, was machst du nur für Sachen!« Laura schüttelt den Kopf und zieht mich in ihre Arme.
Eine Salve an Paukenschlägen donnert durch meinen Schädel. Schmerzerfülltes Stöhnen entweicht meiner Kehle.
»Oh, sorry. Ich Dummdösel!« Vorsichtig löst sich meine Freundin von mir und mustert schuldbewusst mein schmerzverzerrtes Gesicht. »Tut es noch arg weh?«
»Nein, es geht schon«, keuche ich und sinke tiefer ins Kissen. Allmählich ebbt das Pochen wieder ab. »Nur, wenn ich mich bewege, kommt es mir manchmal so vor, als ob das Hirn zerspringt. Ansonsten scheint alles okay.«
»Wie schaffst du das nur, immer wieder im Krankenhaus zu landen?« Laura schüttelt den Kopf.
Ich zucke vorsichtig mit den Schultern. Es ist meiner Freundin anzusehen, wie sie förmlich zerspringt vor Neugier. Natürlich erwartet sie einen spannenden Bericht, wo ich die letzte Zeit abgeblieben bin und was mir die Kopfverletzung eingebracht hat. Doch ich zögere. Solange die Gefahr nicht komplett ausgeräumt ist, wäre es gefährlich, sie einzuweihen. Statt einer Antwort erntet meine Freundin ein gequältes Lächeln.
»Okay, ich verstehe schon. Dir geht’s noch nicht gut genug für einen ausführlichen Bericht. Aber bekomme ich wenigstens eine Kurzfassung?«, drängt sie gespannt.
»Naja, da war ein Einbrecher in Timons Haus. Der hat ihn gewürgt und mir eins übergezogen.«
»Ein Einbrecher!«, ruft Laura entsetzt. »Und läuft der jetzt noch immer frei herum? Oder wurde er schon gefasst? Hat er was gestohlen?«
»Keine Sorge. Ich habe ihn mit einem Stein niedergeschlagen. Soweit ich weiß, sitzt er im Gefängniskrankenhaus. Stehlen konnte er also nichts.«
»Puh, wenigstens das.«
»Wie läuft’s eigentlich mit dir und Markus?«, wechsele ich das Thema, um weitere Fragen zu vermeiden.
Ich könnte schwören, dass ihre Wangen auf einmal rot aufleuchten.
»Ach …« Laura schielt verträumt zur Decke, um dann seufzend den Blick zu senken. »Wir haben uns geküsst, aber … Irgendwie ist das nicht normal, diese Anziehung. Und das macht mir Angst und auch wieder nicht … ich weiß nicht. Das alles verwirrt mich. Ich wäre am liebsten Tag und Nacht bei ihm und dann wieder denke ich, ich spinne doch und sollte mich nicht so von ihm abhängig machen, und … verstehst du?« Ihr hilfloser Blick scheint in meinen Augen nach einer Lösung zu suchen.
»Ähm, ich weiß nicht. Was genau ist denn das Problem?«
Laura krallt die Finger in ihre Wangen und zieht die Haut nach unten, was eine ziemlich gruselige Fratze erzeugt. »Wenn ich das selbst nur wüsste …«, jammert sie. »Es ist zu schön, um wahr zu sein? Ich bin zu abhängig von diesem Gefühl und habe Angst, es wieder zu verlieren oder verletzt zu werden? Such dir was aus.«
»Hm, okay. Da weiß ich auch nicht, was ich dir raten soll. Es langsam angehen vielleicht, bis sich die Gefühle ein wenig gelegt haben?«
»Das ist, als ob du zwei starken Magneten rätst, sich langsam anzunähern. Das schaffst du nicht. Entweder hältst du sie so weit voneinander entfernt, dass sie sich gar nicht in die Quere kommen oder sie knallen so heftig aufeinander, dass es wehtut.«
»Ach so. Und wie seid ihr jetzt verblieben?«
»Wir haben uns eine Woche lang nicht gesehen und nicht miteinander gesprochen, weil ich mir über meine Gefühle klar werden wollte, aber es kam mir vor wie ein Jahr und ich konnte kaum an etwas anderes denken. Und gestern, als wir uns dann wieder trafen, war das wie eine Explosion. Wir haben uns geküsst und … na egal, das Ergebnis war jedenfalls, dass wir beschlossen haben, zusammenzuziehen.«
»Zusammenziehen?! Im Ernst? Jetzt schon?«
»Ja, ich weiß, das kommt ein wenig plötzlich. Aber zum Glück ist Timon einverstanden.«
»Timon? Was hat das denn mit ihm zu tun? Müsst ihr ihn neuerdings um Erlaubnis fragen?«
»Na, sag bloß, er hat dir noch nichts davon erzählt. Wir ziehen zu euch in die Sternwarte.«
Überrascht reiße ich die Augen auf.
»Ja, also, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll … Das ist mir völlig neu. Allerdings war Timon heute auch noch nicht hier. Nachdem er die letzten drei Tage fast ausschließlich an meinem Bett verbracht hat, habe ich ihm gesagt, dass er sich mal einen Tag um sich selbst kümmern soll.«
»Das ist auch wirklich gut so, sonst hätten wir euch noch immer für verschollen gehalten und er hätte wahrscheinlich vergessen, mir Bescheid zu geben, dass du hier im Krankenhaus liegst. Leider hat er ähnlich wenig erzählt wie du, die meiste Zeit lag er im Bett.«
»Auch für ihn waren die letzten Tage ziemlich anstrengend.«
»Das glaube ich sofort. Hat dich deine Mutter denn auch schon besucht?«
»Ja, heute Morgen. Sie war ganz schön durch den Wind. Es hat sie doch sehr geschockt, mich so schwer verletzt zu sehen, ohne dass sie etwas von dem … Unfall mitbekommen hat. Aber nochmal zu eurem Wohnungswechsel. Wie seid ihr denn darauf gekommen, zusammen bei Timon einzuziehen?«
»Bei Timon und dir, um genau zu sein. Die Vermieterin hat Markus wegen Eigenbedarfs die Wohnung gekündigt und da er ohnehin oft auf die Sternwarte aufpasst, hat Timon ihm angeboten, auf unbestimmte Zeit bei ihm zu bleiben. Wenn du wieder gesund bist, und hier rauskommst, wohnen wir da also zu viert. Na, was sagst du? Ist das nicht mega genial?«, schwärmt Laura euphorisch.
Ihre krassen Stimmungswechsel verwirren mich, aber vielleicht ist das ja normal, wenn es so heftig gefunkt hat wie bei ihr.
»Natürlich wohne ich gerne mit dir zusammen, aber hast du nicht eben noch gesagt, du hast Angst vor dieser Beziehung?«
»Hab ich ja auch, aber was soll ich denn machen? Die magnetische Kraft zwischen uns lässt mich einfach nicht auskommen.«
Mir ist nicht wohl bei der Sache und ich weiß auch noch nicht, ob es mir recht ist, mit den beiden zusammen zu wohnen. Klar mag ich Laura, aber wer weiß, welche Dramen sich zwischen den beiden noch abspielen. Außerdem könnte Timons und meine Nähe gefährlich für sie werden.
Warum hat Timon mir denn nichts erzählt? Er hätte doch wenigstens mal anrufen können.
Eine beleibte Krankenschwester platzt zur Tür herein. »Die Besuchszeit ist beendet! Die Patientin muss sich ausruhen!«, bestimmt die Pflegekraft. Laura fährt herum. Ihr Blick bleibt, genau wie meiner, an der aufgezogenen Spritze in der fleischigen Hand der Schwester hängen. Zusammen mit ihrem ausdruckslosen Blick hat die Szene etwas Bedrohliches. Mein Herzschlag nimmt ordentlich Fahrt auf.
»Was ist das?«, frage ich mit rauer Kehle.
»Ein Beruhigungsmittel.«
»Das brauche ich nicht, ich bin ganz ruhig«, beteuere ich.
»Aber haben Sie nicht eben über Schlafstörungen geklagt?« Irritiert mustert die Frau das Blatt auf dem Spannbrett, das sie in der anderen Hand hält. »Ach, das war Zimmer 233«, erkennt sie glücklicherweise. »Dennoch müssen Sie jetzt gehen«, sagt sie zu Laura, die sich widerwillig erhebt. »Wir haben hier einen frisch operierten Blinddarm.« Die Schwester deutet zum Bett gegenüber.
»Also dann. Ich schau morgen wieder nach dir, okay?«
»Ja. Ich freu mich«, krächze ich, weil mein Hals plötzlich aus unerklärlichen Gründen ganz rau ist. »Und lass dich von den Schwestern hier nicht unterkriegen.« Meine Freundin wechselt abschätzende Blicke mit der Pflegekraft, jene welche mit der Spritze gen Ausgang winkt.
»Nach Ihnen«, sagt Laura, was sie mit einer entsprechenden Geste unterstreicht. Sie verabschiedet sich von mir und folgt der Schwester auf den Flur. Seufzend schließe ich die Lider.
Ich bin dem Tod entkommen, der Einbrecher ist verhaftet und bald lebe ich mit Timon, Markus und meiner besten Freundin in einer Wohngemeinschaft. Eigentlich läuft es gut, dennoch bleibt die Euphorie aus. Ich kann förmlich fühlen, dass noch längst nicht alles ausgestanden ist und dass da noch Einiges auf mich zukommen wird.
* * *
»Wie geht’s deinem Kopf?« Ein sanfter Kuss auf meine Stirn schreckt mich aus der Versenkung. Ich war dermaßen in einen Fantasyroman vertieft, dass ich Timons Eintreten gar nicht bemerkt habe.
Nach zwei Wochen Krankenhaus, in denen ich mich erstaunlich schnell erholt habe, behandelt er mich noch immer wie eine fragile Christbaumkugel. Die viele Liegerei geht mir auf die Nerven, daher hocke ich mit gekreuzten Beinen auf dem Bett, das Kissen im Rücken, mein Buch auf dem Schoß.
»Sehr gut, die Schmerzen sind fast weg. Nur wenn ich hüpfe, poltert es noch ein bisschen im Schädel.«
»Du hüpfst hier auf den Krankenhausfluren herum?« Timon zieht die Brauen kraus, schüttelt dann aber den Kopf und lacht.
»Natürlich nicht. Ich habe nur mal ausprobiert, ob noch alles funktioniert.«
Er lässt sich auf dem Bett nieder – den Stuhl hat eine Schwester entführt, weil ihn ein anderer Besuch angeblich dringender benötigen würde. Vielleicht wollte sie mich aber nur ärgern, weil sie mich nicht leiden kann – den Eindruck hatte ich jedenfalls.
»Na, mit dem Kopf voraus aus dem Fenster zu fallen, ist ja auch keine Kleinigkeit. Wie du das nur geschafft hast …«
Mit geweiteten Augen starre ich ihn an. »Das ist ein Scherz, oder? Du weißt doch genau, wie es wirklich passiert ist.«
»Leisa, bitte reg dich nicht auf. Das ist bestimmt nicht gut für deinen Kopf. Natürlich weiß ich, wie es war.« Er umfasst meine Hände mit seinen und streichelt mit dem Daumen darüber.
»Und wie?« Ich beäuge ihn misstrauisch.
»Ist doch jetzt nicht wichtig. Hauptsache, du wirst wieder ganz gesund«, wiegelt er ab und schenkt mir ein warmes Lächeln.
Das kann das dumpfe Gefühl in meinem Bauch jedoch nicht vertreiben.
»Doch! Mir ist es aber sehr wichtig. Was ist mit mir passiert?«
»Na, du bist beim Scheibenputzen aus dem Fenster gestürzt und hast dir den Kopf an einem Stein gestoßen. Zum Glück war das im Erdgeschoss, sonst wäre es sicher schlimmer ausgegangen.«
Abrupt richte ich mich auf und entreiße ihm meine Hände.
»Nein, das stimmt nicht! Wo ist der Brief? Hast du ihn noch?«
»Was denn für einen Brief?« Timon schüttelt verständnislos den Kopf.
Ich schlage mir die Hände vors Gesicht und atme tief durch.
Die absolute Katastrophe! Was mache ich denn jetzt? Kann ich Timon überhaupt noch trauen?
»Was haben wir in den letzten Wochen zusammen erlebt? Kannst du dich an die Organisation erinnern? Und wie sie heißt?«
Timon schüttelt verständnislos den Kopf.
»Organisation? Wir haben einen Zelturlaub in der Natur gemacht, spontan und auf eigene Faust, ohne Organisation im Hintergrund. Weißt du das nicht mehr?«
Mit besorgter Mine legt er seine Hand auf meine Stirn, doch ich schüttele ihn ab. Mein Herz donnert bis zum Hals.
»Nein, nein! Wir wurden entf …«
Abrupt halte ich inne und sehe mich gehetzt im Raum um. Charlotte, die Herzinfarkt-Patientin im Bett nebenan schläft mal wieder, zumindest sieht es so aus. Christina, die gegenüber liegt, wurde erst vor zwei Stunden ins Zimmer gebracht. Nach ihrer Blinddarmoperation hatten wir nur einen einsilbigen Wortwechsel geführt und gerade scheint sie in ein Buch vertieft zu sein, dennoch kommt es mir so vor, als ob sie unsere Unterhaltung aufmerksam belauscht. Wahrscheinlich ist es nicht sinnvoll, hier mit Timon über alles zu reden.
Wann hört dieser Alptraum endlich auf?
Mein Blick wandert zurück zu Timon, auf dessen Stirn sich tiefe Sorgenfalten abzeichnen.
Wer weiß, was man mit ihm gemacht hat. Wieder so ein Chip? Und wer weiß, was man mit mir noch machen wird … Ich muss hier raus! Keine Sekunde länger bleibe ich in diesem Krankenhaus.
»Was wurden wir?«, hakt Timon nach.
Krampfhaft versuche ich, meine Emotionen zu kontrollieren, atme tief durch und schließe die Augen. Ich sehe an ihm vorbei zum weißen Einbauschrank, als ich antworte:
»Ach nichts. Wahrscheinlich war es nur ein dummer Traum. Ich schlafe hier zu viel.« Meine Stimme klingt fern, als ob eine Fremde spricht, doch Timon scheint beruhigt. Er atmet merklich auf und als ich ihn wieder ansehe, schenkt er mir ein warmes Lächeln.
»Mir geht’s so gut, dass ich es hier nicht mehr aushalte. Ich will nach Hause, zu dir, zu Laura und Markus.«
»Leisa, es tut mir leid. Ich weiß, ich hätte dich vorher fragen sollen, ob es dir recht ist, mit den beiden zusammenzuwohnen. Aber ich musste kurzfristig eine Entscheidung treffen und Markus ist nun mal mein bester Freund. Ich kann ihn nicht im Stich lassen. Zumindest vorübergehend möchte ich deshalb die beiden bei mir aufnehmen. Wir können dann ja schauen, wie es läuft mit uns vier und es muss auch nicht für die Ewigkeit so bleiben. Was sagst du dazu?«
Das ist jetzt gerade mein geringstes Problem, deshalb wedele ich abwehrend mit der Hand und schiebe die Füße auf den Boden, um aufzustehen.
»Schon okay. Laura ist auch meine beste Freundin und ich wohne gerne mit ihr zusammen. Markus mag ich auch, ich hab nur ein wenig Sorge, dass es zwischen den beiden zu Beziehungsproblemen kommen könnte.«
Mein Schädel pocht, als ich aufstehe und zum Schrank gehe, um meine Sachen zu packen. Ich muss kurz innehalten, weil mir schwarz vor Augen wird und obendrein mein Gleichgewichtssinn verrücktspielt.
Mist! Beim letzten Toilettengang war doch noch alles okay!
Plötzlich steht Timon neben mir und schiebt seinen Arm um meine Hüfte, was mein Schwanken eindämmt.
»Es sieht nicht danach aus, als ob du schon fit genug wärst, um nach Hause zu gehen.«
Ich atme tief durch, doch das Hämmern in meinem Hirn will nicht aufhören. Wenigstens kann ich wieder etwas sehen, aber die Umgebung schwankt noch immer leicht wie auf einem Schiff.
»Ach, das ist nur der Kreislauf. Ich bin einfach zu lange herumgelegen«, entgegne ich. »Hilfst du mir beim Packen?«
»Okay, aber wir sollten erst noch mit den Ärzten sprechen.«
Genervt verdrehe ich die Augen. Den Ärzten und Pflegern in diesem Krankenhaus traue ich nicht über den Weg. Bestenfalls fühle ich mich hier wie bei der Gepäckabfertigung, doch seit Timons Gedächtnisverlust kommt eine paranoide Angst hinzu, dass man hier an mir herumexperimentieren könnte.
Oder hat man das bereits getan? Diese Kopfschmerzen waren gestern doch fast verschwunden. Warum ist es heute wieder schlimmer?
Erneut wird mir schwarz vor Augen und ich klammere mich haltsuchend an Timon fest. Er bringt mich zum Bett, wo wir uns nebeneinander an den Rand setzen. Als ich mich wieder einigermaßen gefangen habe, taste ich meinen Kopf ab. Von der Verletzung ist nichts zu spüren, was mir schon fast wieder verdächtig vorkommt.
Wie konnte das so schnell heilen?
Aber wahrscheinlich sehe ich jetzt schon überall Gespenster, wo überhaupt keine sind. Bestimmt stammt der Kopfschmerz nur von der Aufregung.
»In 201 wurde der Blinddarm eingeliefert …« Begleitet von einer Pflegerin betritt Dr. Podezki den Raum. Er geht zum Bett der schlafenden Charlotte.
»Der Blinddarm liegt dort drüben«, erklärt die Krankenschwester, die ich heute zum ersten Mal hier sehe.
»Wie geht es Ihnen?«, fragt Dr. Podezki nun mit Blick auf Christina.
»Gut.«
Er stellt noch weitere Fragen, auf die sie einsilbig antwortet. Die Schwester notiert alles auf ihrem Block.
»Craniale Fraktur mit Schädel-Hirntrauma …«, murmelt er, wobei er sich zu uns umdreht.
»Frau äh …« Er sucht in seinen Akten nach meinem Namen. »… Blum. Wie geht es Ihnen?«
»Sehr gut. Ich möchte nach Hause.«
Dr. Podezki schaut mich über den Rand seiner halbierten Brillengläser an, als hätte ich ihm erzählt, ich wollte nach Andromeda fliegen.
»Für eine Entlassung ist es definitiv noch zu früh. Das Risiko schwerer Komplikationen kann ich keinesfalls verantworten.«
»Aber ich kann es verantworten. Ich gehe heute«, sage ich bestimmt, bleibe jedoch sicherheitshalber sitzen, um dem Arzt keine weiteren Schwindel- oder Schwächeanfälle zu demonstrieren.
»Leisa …« Timon schüttelt seufzend den Kopf. »Du bist noch nicht fit, das hast du doch selbst gemerkt.«
Am liebsten wäre ich Timon ins Gesicht gesprungen, dafür, dass er mir damit in den Rücken fällt. Ich weiß, er meint es nur gut, aber wie soll ich ihm auch klarmachen, dass wir in Gefahr sind, wenn er alles vergessen hat?
»Es geht mir gut. Die viele Liegerei hat mich nur schlapp und müde gemacht. Ich gehe jetzt.«
Meine Stimme bebt vor Anspannung und unterdrückter Wut.
»Das kann ich nicht unterstützen, Frau Blom.«
»Blum«, korrigiere ich. »Das ist hier kein Gefängnis, oder? Also kann ich auch gehen, wann ich will.«
Meine patzige Antwort treibt sowohl Timon als auch Dr. Podezki Falten auf die Stirn.
»Überlegen Sie es sich doch bitte noch einmal. Wir können Ihnen ein Beruhigungsmittel geben und nach einem erholsamen Schlaf sieht die Welt sicher schon ganz anders aus.«
»Auf keinen Fall!«, rufe ich viel zu heftig.
Alarmiert erhebe ich mich vom Bett und kämpfe erneut gegen Schwindel, schwarze Flecken im Gesichtsfeld und den Dampfhammer in meinem Schädel. Ich zwinge mich dazu, tief durchzuatmen, kämpfe mit aller Macht um die Beherrschung meines Körpers. Den Widernissen zum Trotz schleppe ich mich einigermaßen aufrecht bis zum Schrank. Ich öffne und ziehe meinen Koffer heraus.
»Nun gut. Dann benötige ich jedoch Ihre Unterschrift, dass Sie die Klinik auf eigene Verantwortung verlassen«, fordert Dr. Podezki. Ich kann hören, wie er mit kalter Geschäftigkeit in seinen Unterlagen blättert.
»Natürlich!«
Schwarze Flecken tropfen in mein Gesichtsfeld, während ich die Kleidung in den Koffer stopfe. Timon taucht neben mir auf.
»Leisa, bitte überlege es dir nochmal«, flüstert er mir zu.
»Auf keinen Fall. Ich gehe«, zische ich.
Im Hintergrund wendet sich der Arzt an seine Gehilfin: »Dann mach bitte schon mal die Unterlagen für die Entlassung fertig, Sonja.«
»Tanja!«, verbessert sie und stolziert aus dem Zimmer.
Ein Blick zurück zeigt mir, wie Dr. Podezki auf die schlafende Charlotte herabschaut und dann ebenfalls den Raum verlässt. Immerhin hat sich der Hammer in meinem Schädel verlangsamt und die schwarzen Tropfen behindern meine Sicht nur noch marginal.
»Ist irgendwas passiert? Du wirkst so gehetzt«, flüstert Timon, während er meinen Kulturbeutel auf den Stapel der gebrauchten Wäsche legt.
»Bin ich auch. Ich erkläre dir später, warum«, wispere ich und klappe den Koffer zu.
Ich schlüpfe in meine Schuhe. Als ich mein Gepäck anheben will, überkommt mich abermals ein Schwindelgefühl.
Ganz ruhig, Leisa, du schaffst das. Tief durchatmen!
Es fällt mir unendlich schwer, die schreckliche Anspannung loszuwerden. Aber was bleibt mir anderes übrig?
Timon nimmt mir den Koffer ab und schiebt seinen Arm um meine Hüfte, um mich zu stützen. Lieber hätte ich Stärke demonstriert und mein Gepäck selbst getragen, aber die Wahrheit ist nun mal, dass ich das nicht schaffen würde in meinem Zustand, daher lasse ich mir helfen. Doch da ist eine Distanz zwischen uns, eine, die von Misstrauen getränkt ist, weil ich die Ursache seiner Amnesie nicht erkennen kann.
»Tschüss, Christina!«, verabschiede ich mich von der Bettnachbarin gegenüber, die schon wieder hinter ihrem Buch verschwunden ist. Es ist ein Akt der Höflichkeit, denn auch ihr misstraue ich. Von Charlotte hätte ich mich gerne verabschiedet, aber sie schläft noch immer und ich möchte sie nicht wecken.
»Tschüss«, murmelt Christina, wobei sie flüchtig über den Rand ihres Stephen-King-Romans blinzelt.
Wir verlassen Zimmer Nummer 201 und stehen auf dem Flur. Ein älterer Mann schiebt seinen Gehwagen an uns vorbei. Timon geleitet mich zum Schwesternzimmer. Wir warten eine halbe Ewigkeit, bis die Entlassungspapiere fertig sind und ich kämpfe mal wieder mit mir, einfach so abzuhauen. Aber das macht Timon bestimmt nicht mit und alleine käme ich wahrscheinlich nicht weit.
Endlich kann ich die notwendige Unterschrift leisten und bekomme einen Stapel Papiere in die Hand gedrückt, dann gehen wir Richtung Ausgang. Misstrauisch beäuge ich jeden Pfleger und jeden Arzt, der uns begegnet. Niemand hält uns auf und ich drehe langsam durch, weil ich nicht weiß, ob ich paranoid überreagiere oder tatsächlich eine Gefahr droht. Timons Nähe fühlt sich gut und bedrohlich zugleich an. Dieser Zwiespalt macht mich noch wahnsinnig.
»Erklärst du mir denn jetzt, was mit dir los ist?«, fragt Timon, nachdem wir die Eingangstür hinter uns gelassen haben.
»Ich …du …« Mir fehlen die Worte.
Kann ich ihm trauen?
»Erinnerst du dich daran, was auf dem Schulhausdach passiert ist?«
»Ja, sicher. Wie könnte ich das vergessen …?«
Er drückt mich enger an sich.
»Dann weißt du noch, wie Dr. Birkenfeld mit seinem Blitzgewehr auf dich geschossen hat?«
»Natürlich weiß ich das noch. Warum fragst du?«
»Wir haben vermutet, dass eine ganze Organisation hinter der Sache steckt, eine, deren Mitglieder diesen Ring tragen.«
Ich fische in der Hosentasche danach, doch da ist kein Ring. Gut, es kann sein, dass er irgendwo zwischen meiner Wäsche steckt. In letzter Zeit habe ich mich zu sicher gefühlt und sträflich vernachlässigt, auf diesen Ring aufzupassen.
»Ja, ich weiß. Ich erinnere mich an den Ring, aber inzwischen glaube ich eher, dass Dr. Birkenfeld und seine Assistentin Einzeltäter waren. Schließlich ist nichts weiter passiert und …«
»Doch, es ist sogar sehr viel passiert. Wir wurden mit einem Hubschrauber entführt, in das Hauptquartier der Organisation gebracht, konnten fliehen und haben dann verschiedene Leute von dem Mikrochip befreit, mit dem sie gesteuert wurden.«
Timon hält abrupt inne, rückt ein Stück von mir ab und blickt mich entgeistert an.
»Leisa, da musst du etwas durcheinanderbringen. Das ist vollkommener Unsinn. So was ist nie passiert. Nachdem ich dich zu mir geholt habe, sind wir zum Zelten in der wilden Natur aufgebrochen. Ich habe die Ausrüstung doch noch zu Hause.«
»Nein! Nein! Nein!« Ich presse meine Hände aufs Gesicht und atme in die Handflächen. »Die Campingsachen haben wir unterwegs gekauft. Wir haben eine kleine Weltreise vorgetäuscht, damit man uns nicht auf die Spur kommt«, erkläre ich verzweifelt, während ich in Timons Augen nach wenigstens einem Funken der Erkenntnis forsche. Doch er schüttelt nur verständnislos den Kopf.
»Leisa, deine Verletzung hatte wohl schwerwiegendere Folgen als gedacht. Ich müsste doch etwas davon wissen, wenn das wirklich passiert wäre.«
»Müsstest du eigentlich und es macht mir große Sorgen, dass du alles vergessen hast.«
Das mit dem Chip bringe ich nicht über die Lippen. Falls er einen im Kopf hat, wird er es nicht zugeben oder nicht wissen und wenn da keiner ist, nutzt es niemandem, wenn er an sich selbst zu zweifeln beginnt.
»Tut mir leid, aber es fällt mir schwer, das zu glauben.«
Wir haben inzwischen sein Auto erreicht. Timon packt mein Gepäck in den Kofferraum. Wenigstens schaffe ich es inzwischen ohne seine Hilfe, die Beifahrertür zu erreichen, das Auto zu öffnen und einzusteigen. Wenn ich davon ausgehe, dass Timon einen Chip im Kopf hat, ist es wahrscheinlich ziemlich dumm, mit ihm mitzufahren, aber im Moment bin ich auf ihn angewiesen. Im Grunde kann ich niemandem auf dieser Welt trauen und da ich ja gesehen habe, dass die gechipten Menschen nur begrenzt gegen ihre eigenen Gefühle manipulierbar sind, bin ich bei Timon vorerst noch am sichersten aufgehoben.
Hoffentlich!
Er lässt den Motor an, dann fahren wir los.
»Ruf doch Dr. Marder vom Spital in Waldstadt an. Er hat den Leuten die Chips herausoperiert, oder die Polizei, die mehrere Personen gefangengenommen hat.«
»Gut, das mache ich. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass ich diese abenteuerlichen Dinge vergessen haben soll, aber wenn es so wäre, müsste das ja herauszufinden sein«, stimmt Timon schließlich zu. »Aber jetzt bringe ich dich erst mal nach Hause. Du wirkst alles andere als fit und solltest dich unbedingt ausruhen.«
Ich nicke zustimmend. Das lässt mich ein wenig aufatmen. Es wird sich alles klären und vielleicht kehrt dann auch Timons Erinnerung zurück. Vielleicht gibt es ja eine ganz harmlose Erklärung für den Gedächtnisverlust …
Wie sehr hatte ich mich auf diesen Tag gefreut, an dem ich mit Timon in unser gemeinsames Zuhause heimkehre. Nach dem überaus dramatischen Abenteuer wollte ich endlich das Leben mit ihm genießen. Das scheint mir jedoch nicht vergönnt zu sein.
Ich sitze schweigend auf dem Beifahrersitz und lasse die Landschaft genauso an mir vorüberziehen wie meine Gedanken. Timon versucht immer wieder, mich aufzumuntern und ein angenehmes Gespräch in Gang zu bringen. Auch ich bemühe mich, so normal wie möglich zu antworten, trotz Kopfschmerzen und Sorgen. Doch es will mir nicht so recht gelingen und so stellt Timon seine Kommunikationsversuche nach einer Weile völlig ein. Stattdessen beschallen uns Songs aus dem Radio, während meine Gedanken Loopings drehen.
Was mache ich denn jetzt?
Als wir vor Timons Sternwarte zum Stehen kommen, stürmt Laura schon aus dem Haus. Meine Freundin schließt mich in die Arme, kaum dass ich aus dem Wagen gestiegen bin.
»Hey! Ich freue mich ja so! Das ist aber eine Überraschung. Wir haben noch gar nicht mit einer Entlassung gerechnet, deshalb musst du leider auf Blumen und Willkommensschild verzichten. Vielleicht können wir stattdessen eine Einzugsparty organisieren«, schwärmt sie überschwänglich und wiegt mich hin und her, sodass mir wieder ganz schummerig zumute wird. Stöhnend halte ich mir die tuckernde Schläfe.
Laura lässt erschrocken von mir ab.
»Oh, sorry. Hast du etwa noch immer Schmerzen?«
Sie schaut fragend zwischen Timon und mir hin und her.
»Leisa wurde auf eigene Verantwortung entlassen«, erklärt Timon.
»Es geht mir gut. Wegen ein bisschen Kopfweh muss man nicht den ganzen Tag im Krankenhaus liegen«, entgegne ich.
Doch sowohl in Lauras graublauen als auch in Timons dunkelgrünen Augen flackern Zweifel.
»Okay, dann wäre eine Party wohl eh nicht das Richtige … Ich freue mich auf jeden Fall, dass du wieder da bist. Markus und ich belagern eines der Gästezimmer und Timon meinte, du kannst dafür das andere ganz für dich alleine haben, wenn du mal etwas Privatsphäre und Ruhe benötigst …«
»Laura, das sollte doch eine Überraschung werden«, beschwert sich Timon, der gerade meinen Koffer aus dem Auto hievt. »Aber naja, mir blieb ohnehin keine Zeit, das Zimmer für dich herzurichten«, fügt er traurig lächelnd hinzu.
Jetzt fühle ich mich doppelt schuldig dafür, früher als geplant hier aufzutauchen. Timon legt den Arm um meine Schulter und führt mich ins Haus. Steine rumpeln in meinem Bauch, ein leichter Schwindel lässt die Umgebung wie auf einer Schüssel im Wasser schaukeln und mir ist zum Heulen zumute.
Warum kann alles nicht einfach so schön sein, wie vor der Klinik?
Viel lieber stehe ich gemeinsam mit Timon tausend gefährliche Abenteuer durch, als diese Distanz zu fühlen, die seine fehlende Erinnerung zwischen uns geschaffen hat.
Auf dem Flur angekommen tritt Markus, mit der Zahnbürste im Mund, aus dem Badezimmer. Den Bauchnabel abwärts steckt er in schwarzen Shorts, ansonsten sieht man nur nackte, gebräunte Haut von ihm. Sein breites Grinsen bringt zwei Reihen schaumiger Zähne zum Vorschein. Er zieht die Zahnbürste aus dem Mund und nuschelt:
»Hertschlisch willkommen, Leischa!«
»Danke!«
Markus verschwindet wieder im Badezimmer, um den Schaum loszuwerden. Seine Fröhlichkeit tut mir gut, aber ich fürchte mich davor, dass er mich nachher mit unangenehmen Fragen zu meiner Entlassung löchern könnte. Schon taucht er wieder auf, mit einem weißen Handtuch über der Schulter.
»Hey, haben sie im Krankenhaus keine Lust mehr auf herumfliegendes Besteck, oder warum haben sie dich schon rausgeworfen?«, erkundigt er sich augenzwinkernd.
»Mir schmeckt dort das Essen nicht mehr …«, fällt mir spontan ein.
»Na dann! Lust auf eine Spinatlasagne? Wenn du mir das Rezept gibst, koche ich heute für euch.«
»Gerne.«
»Du schleimst dich doch nicht etwa bei meiner besten Freundin ein, oder?« Laura lacht, während sie das sagt, aber es kommt mir trotzdem so vor, als ob ich Eifersucht aus ihrer Stimme heraushöre.
»Das würde mir nicht im Traum einfallen, Prinzessin«, beteuert Markus und zieht meine Freundin in die Arme, um sie so innig zu küssen, dass ihr sichtlich die Luft wegbleibt.
Mir wird schwer ums Herz. Dabei will ich nicht länger zusehen und auch bei Timon, der mich noch immer stützend im Arm hält, merke ich, dass er ungeduldig wird. Er geleitet mich in das zweite Gästezimmer, setzt mich auf dem Bett ab und stellt meinen Koffer in den Schrank. Er fährt sich mit der Hand durchs schwarze Haar.
Es wirkt etwas länger als sonst, oder täusche ich mich?
Als sich unsere Blicke begegnen, spricht aus seinen Augen die gleiche Traurigkeit wie aus meinem Inneren. Es ist nur ein Fetzen Erinnerung, der uns trennt, und doch ist es dieser Fetzen, der alles verändert.
Timon setzt sich neben mich, legt seinen Arm um meine Hüfte und drückt mich an sich.
»Wie geht es dir, Leisa?«
»Besser. Der Kopf schmerzt nicht mehr«, lüge ich.
»Ich mache mir trotzdem Sorgen. Besser, du ruhst dich noch etwas aus.«
»Okay, aber unterdessen ruf doch bitte die Polizei an und deinen Freund Yota Marder. Es macht mich ganz verrückt, dass du dich nicht erinnern kannst.«
Timon holt sein Handy hervor und sucht nach den entsprechenden Nummern. Zuerst ruft er in der Klinik an und stellt auf laut, sodass ich mithören kann.
»Hallo, Yota! Ich bin es, Timon.«
»Timon? Welcher … Ach, Timon Trawor! Ich habe ja eine Ewigkeit nichts mehr von dir gehört!«
Mein Herz setzt schier einen Schlag aus und der besorgte Blick, mit dem mich Timon nun versieht, spricht Bände.
»Ja, wie lange ist das jetzt schon her?«, fragt er. »Bestimmt schon zwei Jahre, oder? Leider bin ich gerade ziemlich in Eile. Eine dringende OP wartet auf mich. Es hat mich aber sehr gefreut, dass du dich bei mir gemeldet hast. Lass uns heute Abend noch mal telefonieren.«
»Das verstehe ich natürlich. Dann bis heute Abend.«
Timon klickt den Anruf weg und sieht mich an. Die ersten Zweifel beginnen an mir zu nagen.
»Aber ich kann mir das doch nicht alles eingebildet haben. Bin ich jetzt vollkommen verrückt geworden?« Verzweifelt schüttele ich den Kopf.
»Soll ich die Polizei auch noch anrufen?«, fragt Timon.
Felsbrocken rumpeln in meinem Bauch, trotzdem nicke ich langsam. Ich brauche Gewissheit. Timon sucht die Nummer der Polizeiwache in Waldstadt heraus und wählt. Ein Beamter meldet sich.
»Guten Tag, mein Name ist Timon Trawor.«
»Worum geht es?«
»Ich habe eine recht ungewöhnliche Frage: Womöglich leide ich unter partiellem Gedächtnisverlust, deshalb muss ich wissen, ob ich in der letzten Zeit in Kontakt zu Ihrem Polizeirevier stand. Man sagte mir, es ginge um mehrere Vermisste, denen ein Microchip ins Hirn implantiert worden war …«
»Ein Chip!«, unterbricht ihn der Mann am Apparat ungläubig. »Falls das ein Scherz sein sollte, ist es ein ziemlich schlechter. Ich hoffe, Ihnen ist klar, dass Sie sich strafbar machen, wenn Sie die Polizei zum Narren halten.«
»Das weiß ich, aber die Frage war durchaus ernst gemeint.«
»Mir ist nichts von alledem bekannt und wenn, dann dürfte ich Ihnen darüber ohnehin keine Auskunft erteilen. Auf Wiedersehen«, entgegnet der Polizist unfreundlich und dann ist die Verbindung weg.
Jetzt ist mir richtig schlecht.
Was ist wahrscheinlicher, dass ich mir in meinem Kopf eine absolut real wirkende Geschichte zusammengesponnen habe, oder dass alle beteiligten Personen an teilweiser Amnesie zu genau diesen Begebenheiten leiden?
Beides erscheint mir dermaßen irrsinnig und beängstigend, dass ich überhaupt nicht mehr weiß, was ich noch glauben oder denken soll.
Timon drückt mich an sich. Wie gerne würde ich das genießen können, doch noch immer steckt mir die Angst in den Knochen.
Bin ich verrückt oder in Gefahr?
Beides erscheint mir beinahe gleichermaßen schrecklich. Timon merkt, dass ich mich innerlich versteife und rückt ein Stück von mir ab.
»Du hattest eine schwere Hirnverletzung, an der du beinahe gestorben wärst. Da ist es kein Wunder, dass einiges bei dir durcheinandergeraten ist. Mach dich nicht verrückt deswegen. Aber auf jeden Fall solltest du dich ausruhen.«
Timon schenkt mir ein trauriges Lächeln, dann steht er auf und schlägt die Tagesdecke des Bettes zurück – bis auf die Seite, auf der ich noch immer sitze und die Decke mit meinem Hintern blockiere.
»Okay«, antworte ich seufzend. Meinen guten Willen zeigend, reibe ich die Schuhe von den Füßen. Bücken will ich mich nicht, um weitere Schädelhämmer zu vermeiden. Timon gibt mir einen sanften Kuss auf die Wange, dann geht er zur Tür.
»Träum was Schönes«, wünscht er mir noch, bevor er hinausgeht und die Tür hinter sich schließt.
Ohne mich auszuziehen schlüpfe ich unter die Decke. Ich fühle mich nicht sicher genug, um meine Kleidung abzulegen. Wenn ich aus irgendeinem Grund unerwartet fliehen muss, will ich nicht halb nackt durch die Gegend rennen.
Was jetzt?
Ich weiß gerade überhaupt nicht weiter und liege einfach nur so da, während die Gedanken sinnlose Schleifen drehen. Das entfernte Lachen meiner Freundin gesellt sich zum Rauschen des Wassers in irgendeiner Leitung, ansonsten bleibt es ruhig. Bestimmt sind es Stunden, die vergehen. Immerhin lassen die Kopfschmerzen nach.
Eva Current!
Abrupt fahre ich hoch, was das Hämmern in meinem Schädel wieder in Gang setzt, aber das ist mir jetzt egal. Der Gedanke an Eva verleiht mir neuen Mut. Wenn jemand tatsächlich die Erinnerungen aller Beteiligten gelöscht hat, besteht immerhin eine Wahrscheinlichkeit, dass Eva unerkannt geblieben ist. Auf dem kleinen Beistelltisch liegt das Haustelefon.
Wo habe ich nochmal ihre Nummer?
Ich schäle mich aus dem Bett und schleppe mich zum Schrank. Die viele Liegerei hat mich zu sehr geschwächt. Meine Muskeln wollen einfach nicht so, wie ich es will. Der Koffer ist mir zu schwer, um ihn hinzulegen, deshalb lasse ich ihn einfach stehen, während ich die Klappen mit zittrigen Fingern löse. Wie nicht anders zu erwarten, platzt der Koffer auf und ergießt seinen Inhalt in den Schrank hinein. Die Bürste fällt aus dem Kulturbeutel und kullert über den Boden.
Wo steckt nur mein Geldbeutel?
Ich sinke auf die Knie und krame in der Wäsche herum. Die Kiste mit Bengi steckt auch zwischen meinen Sachen. Timon hatte sie mir mit ins Krankenhaus gebracht, ohne zu wissen, was drin ist.
Oder weiß er es doch? Ob er der Neugier widerstehen konnte, hineinzuschauen?
Ich ärgere mich über mein Misstrauen, doch es lässt sich leider nicht abstellen. Plötzlich halte ich mein Portemonnaie in den Händen. Mit zittrigen Fingern durchstöbere ich die Visitenkarten. Es dauert nicht lange, bis ich gefunden habe, was ich suche. Tief durchatmend schließe ich die Augen.
Jetzt wird sich herausstellen, ob ich spinne.
Unter Hämmern in meiner Brust setze ich mich aufs Bett und fixiere das Festnetztelefon. Ich nehme den Hörer ab und lausche dem Freizeichen. Meine Hände zittern so sehr, dass ich die Muskeln verkrampfen muss, um die Tasten zu treffen. Ich wähle die Nummer auf der Karte und atme hörbar ein und aus, während das gleichmäßige Tuten den Klingelton andeutet.
Bitte geh ran, Eva!
Doch ich warte vergeblich. Nach dem fünfzehnten Klingelton gebe ich auf.
Verflixt! Niemand zu Hause.
»Leisa?«
Vor Schreck zucke ich zusammen. Der Hörer, den ich gerade auf die Gabel legen wollte, fällt mir aus der Hand. Laura schaut durch die halb geöffnete Tür herein. Ich hab sie gar nicht kommen hören. Wahrscheinlich war sie extra leise, um mich nicht zu wecken. Sie hat Korkenzieherlocken in ihr braunes Haar gedreht und mit dem engen blauen Sommerkleid sieht sie aus wie ein Topmodel.
»Oh, sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Schon gut. Komm ruhig rein.«
Ich hebe den Hörer auf und lege ihn auf die Gabel.
»Hast du gut geschlafen?« Sie setzt sich neben mich aufs Bett.
Es gibt auch eine kleine Couch im Zimmer, aber von zu Hause bin ich es gewohnt, auf dem Bett zu sitzen, daher fühle ich mich hier am wohlsten.
»Nein, ich hab nur ein bisschen gedöst, aber weißt du, diese viele Liegerei hat mich so fertiggemacht, dass ich mich schrecklich schwach fühle. Was ich brauche, ist eher etwas Bewegung.«
»Bist du sicher?«, zweifelt Laura. »Du siehst ganz käsig aus.«
»Na, danke auch«, schnaube ich, doch es klingt erschreckend kraftlos.
»Wen wolltest du denn anrufen? Doch keinen Arzt, oder?«
»Nein, eine Freundin …«
… eine, mit der ich über alles reden kann, eine die mich versteht und mich nicht für verrückt hält.
Das hoffe ich zumindest in Eva zu finden, denn ich benötige gerade ziemlich dringend jemanden, der Realität in meinen Zwiespalt bringt und mit dem ich offen über alles reden kann.
Aber ob Laura da die Richtige ist? Wird sie mich für verrückt halten? War das alles wirklich nur eine Illusion, verursacht durch meinen Kopfsturz?
»Was wolltest du denn von ihr? Wenn du jemanden zum Reden brauchst, ich stelle mich gerne zur Verfügung«, bietet Laura an.
Neugier sprüht aus ihren Augen, doch ich bringe kein Wort heraus.
Wo soll ich anfangen und was kann ich ihr erzählen?
»Hast du Probleme mit Timon? Er wirkt so bedrückt, seit er dich aus dem Krankenhaus geholt hat.«
Auch dazu kann ich ihr nichts erklären, ohne zu viel zu verraten …
»Okay, du musst nicht mit mir reden. Vielleicht erreichst du ja diese andere Freundin.« Sichtlich verletzt steht Laura auf und geht zur Tür. Das wiederum versetzt mir einen Stich. Sie ist meine beste Freundin und erzählt mir alles über sich und ihre Probleme. Es ist einfach nicht fair, sie so vor den Kopf zu stoßen.
»Warte!«
Laura hält inne und wischt sich übers Gesicht, bevor sie sich umdreht und sich an einem Lächeln versucht.
»Tut mir leid, dass ich dir bisher so wenig erzählt habe. Es ist so, dass ich einerseits nicht weiß, ob ich verrückt bin und wenn das nicht der Fall ist, dann würde es dich in Gefahr bringen, wenn du zu viel von der Sache wüsstest«, umschreibe ich das Problem.
Ihre Augen weiten sich, dann setzt sie sich wieder neben mich aufs Bett.
»Wow, das klingt nach einem mega Geheimnis.«
»Kann man sagen …«
»Und diese andere Freundin hat etwas damit zu tun?«
»Ja, sie könnte aufklären, ob ich verrückt bin, aber leider habe ich sie nicht erreicht.«
»Oh, verstehe«, Laura atmet erleichtert auf. »Und ich hab schon gedacht, du vertraust ihr mehr als mir.«
»Nein, das ganz sicher nicht.«
»Jetzt will ich aber alles wissen! Jedes schmutzige Detail.« Sie setzt sich gemütlich im Schneidersitz auf dem Doppelbett nieder und schaut mich erwartungsvoll an. »Ich meine, ich bin volljährig und ich kann doch immer noch selbst entscheiden, ob ich das Risiko eingehen möchte, ein gefährliches Geheimnis mit dir zu teilen oder nicht?«
»Na ja, wenn du es so siehst …« Mir entwischt ein kleines Lächeln.
Lauras erfrischende Art tut mir gerade so gut, dass ich darüber beinahe meine Kopfschmerzen vergesse.
»Timon und ich wurden von einer mächtigen Organisation entführt. Sie nennen sich Oreun.«
»Wie, entführt? Ihr wart gar nicht beim Treckingurlaub?« staunt Laura und blickt mich mit geöffnetem Mund an.
Ich schüttele langsam den Kopf, was einen leichten Schwindel hervorruft.
Mist, wann hört das endlich auf?
»Das Problem ist, weder Timon, noch die Polizei noch der Arzt, der den Entführten die Chips entfernt hat, können sich an all das erinnern. Ich drehe schier durch, weil ich eigentlich sicher weiß, was ich erlebt habe.«
»Hm, das klingt schon eher, als ob bei dir was durcheinander geraten ist von dem Sturz«, meint Laura, was mich gerade noch tiefer in das Loch stürzt, in dem ich ohnehin schon hocke.
Sie meint es nur gut, das ist mir klar, aber bin ich wirklich so durcheinander?
»Laura, verstehst du nicht? Diese Organisation arbeitet mit Manipulation des Gehirns. Wir haben mehrere Leute aus ihrer Untergrundbasis befreit, die alle Chips im Kopf hatten, über die sie gesteuert wurden. Oreun kann Menschen damit manipulieren und natürlich können sie auch das Gedächtnis beeinflussen und verändern.«
»Ach so, und jetzt meinst du, das haben sie bei Timon, der Polizei und dem Arzt gemacht?«, fragt sie ungläubig.
»Ich gebe zu, das klingt ziemlich nach Science-Fiction, aber genau so muss es sein.«
»Und warum sollen sie ausgerechnet euch entführt haben?«
Schon die Art, wie Laura die Frage stellt, zeigt mir deutlich, dass sie das alles für Hirngespinste hält. Wenn ich noch was retten will, muss ich ihr einen stichhaltigen Beweis liefern.
»Weil wir besondere Fähigkeiten haben. Ich zum Beispiel, kann Strom erzeugen.«
Jetzt lacht sie laut los, als hätte ich den besten Scherz aller Zeiten gemacht.
»Leisa! Du hast mich echt drangekriegt. Fast hätte ich gedacht, du meinst das alles ernst.«
Der Ausdruck in meinem Gesicht lässt sie jedoch abrupt verstummen.
»Nein, oder? Du willst mir erzählen, du kannst echt Strom produzieren? So aus dir heraus?«
»Na, erinnerst du dich nicht an Silvester? Als ich die Glühbirne in meiner Hand leuchten ließ und das Besteck zum Fliegen brachte?«
»Ja, schon, aber das war doch nur ein Trick, oder?« Sie kneift die Augen zusammen und legt den Kopf schief. »So was kann doch kein Mensch.«
Wortlos stehe ich auf und schwanke zur Stehlampe in der Ecke. Dort drehe ich die Birne heraus und halte sie in der Faust. Dann schalte ich mein Kribbeln ein, aber es kribbelt nicht und die Birne bleibt dunkel.
Das gibt’s doch nicht! Warum geht das nicht mehr? Habe ich jetzt etwa auch so einen Chip im Kopf, oder ist meine Fähigkeit einfach weg?
Da ich ohnehin eine Kopfverletzung hatte, würde eine zusätzliche Operation ja nicht einmal auffallen. Ich schwanke bedenklich und meine Hand zittert so sehr, dass ich fürchte, die Birne könnte herausfallen. Ich sinke zu Boden und lasse sie über den Teppich rollen. Das ist zu viel für mich.
Mein Strom funktioniert nicht mehr! Nie mehr?
Ich habe mich inzwischen so daran gewöhnt, dass ich mir ein Leben ohne diese Fähigkeit kaum noch vorstellen kann.
Haben sie mir das etwa auch geraubt? Timons Erinnerung und meinen Strom? Warum dann nicht auch gleich meine Erinnerung?
»Leisa!«
Durch mein getrübtes Bewusstsein habe ich Lauras Rufe kaum gehört, erst als sie sich neben mich setzt und den Arm um meine Schultern legt, nehme ich meine Freundin wieder wahr. Sie muss mich jetzt ja für total irre halten. Auf den Knien hockend stütze ich mich mit den Händen vom Teppich ab.
»Es geht nicht mehr«, keuche ich kraftlos. »Ich kann es dir nicht beweisen, weil mein Strom nicht mehr funktioniert …«
»Ich glaube, du brauchst einfach nur etwas Erholung, dann ist bestimmt bald wieder alles gut«, versucht mich Laura aufzubauen. Natürlich meint sie damit nicht meinen Strom.
Die Tür fliegt auf und Timon stürmt herein.
»Leisa! Was ist passiert?«, ruft er, als er mich neben Laura auf dem Boden hocken sieht.
Er hilft mir gemeinsam mit meiner Freundin hoch und dann legen sie mich ins Bett.
»Der Strom ist weg …«, stammele ich. »Es geht nicht mehr.«
Laura legt die Hand auf meine Stirn.
»Fieber hat sie keines.«
»Timon, sag Laura doch bitte, dass ich Strom erzeugen konnte. Ich werde sonst noch ganz verrückt.« Ich mag mich so nicht, so schwach wie ich ihn anbettele.
»Sie ist im Wahn. Die Verletzung hat wohl doch noch mehr zerstört als gedacht«, sagt er zu Laura. Dann wendet er sich liebevoll an mich: »Das wird schon wieder. Markus bringt dir gleich etwas von der Lasagne, dann schläfst du dich richtig aus und morgen ist alles wieder gut.«
Da ist es wieder, dieses traurige Lächeln, das mir das Herz zerreißt. Ich nicke ergeben und schließe die Augen.
Ja, Schlaf ist etwas, das ich jetzt dringend benötige, und wenn es nur darum geht, dieser unwirklichen Realität zu entfliehen.
Am nächsten Tag holt mich eine Hand auf meiner Stirn aus dem Schlaf, aber ich bin noch zu benommen, um die Augen zu öffnen. Die Hand verschwindet, es folgen Schritte. Nun reiße ich doch die Lider auf und sehe gerade noch, wie Timon das Zimmer verlässt. Ich fühle mich schwach, aber wenigstens haben die Kopfschmerzen nachgelassen. Ein Blick auf den Radiowecker bestätigt mir, dass ich ziemlich lange geschlafen habe, doch erholsam war es nicht, denn ich wurde von wirren Träumen gequält. In der aktuellen Lage ist jedoch auch das Erwachen nichts, was mich aufatmen lässt. Ich muss daran denken, wie sich Timon gestern um mich gekümmert hat. Die Lasagne, die ich auf einem Tablett ans Bett gebracht bekommen habe, war fast so gut wie meine. Dann hat er mir aus der Kleidung geholfen, was ich widerstrebend über mich ergehen ließ, weil ich ihm ja kaum klarmachen konnte, dass ich mich im Fluchtmodus befinde und deshalb lieber angezogen schlafen möchte. Daraufhin hat er sich neben mich gelegt, gelesen und mir hin und wieder über die Wange gestreichelt, bis ich eingeschlafen bin. Mehr ist nicht passiert und mehr hätte ich auch nicht gewollt.
Beinahe wünschte ich, ich hätte ebenfalls die Erinnerung verloren, dann könnten wir jetzt einfach unbeschwert unser Leben genießen. Auf der anderen Seite möchte ich nicht in einer Illusion gefangen sein. Das wäre, als würde ich mir einen ewigen Traum wünschen, ohne aufzuwachen, aber das wäre nicht das echte Leben.
Oder ist es doch so, dass nur ich verrückt bin und alle anderen normal?
Diese Zweifel, was wahr ist und was nicht, sind das Schlimmste an der ganzen Situation. Ich stehe auf und suche nach der Glühbirne. Sie steckt wieder in der Lampe, aber ich brauche sie gar nicht erst raus drehen, denn ich spüre in meinen Händen, dass hier kein Strom fließt, kein Magnetfeld baut sich auf, egal wie viel Energie ich hineingebe, es passiert nichts. Mir ist zum Heulen zumute und doch wollen die Tränen nicht kommen. Irgendwie fühlt sich alles taub an, mein Körper genau wie meine Emotionen. Schwerfällig quäle ich mich aus dem Bett und schleppe mich zum Schrank, um meine Kleidung zu holen. Mit einem Stapel davon verlasse ich das Zimmer, um das Bad aufzusuchen. Auf dem Flur höre ich die Stimmen meiner Freunde. Offenbar sitzen sie in der Küche beisammen und frühstücken. Unwillkürlich halte ich inne, um zu lauschen.
»Schläft Leisa eigentlich noch?«
»Ja, ich habe vorhin nach ihr gesehen. Ich denke, ich werde nachher einen Arzt anrufen. Ich mache mir wirklich Sorgen um sie«, sagt Timon.
»Sie hat so wirres Zeug geredet von einer Entführung und einer Geheimgesellschaft«, bemerkt Laura.
Warum muss sie das jetzt verraten?
»Ich sorge mich, dass sie das noch immer für wahr hält«, antwortet Timon.
»Ach, ihr nehmt das alles zu ernst. Wie oft bin ich schon
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 30.08.2020
ISBN: 978-3-7487-5569-2
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