FLAMMENTANZ
Band III – Feuer
Isabella Mey
Impressum
© 2016 LikeBook Verlag,
Postfach 800147, 65901 Frankfurt
E-Mail-Adresse: Verlag.LikeBook@gmail.com
2. Auflage
Buchdesign und Coverillustration: Isabella Mey
Icons im Buch: © Isabella Mey
Coverfoto: © Fotalia.com
Fotolia_13283590_Konstantin Yuganov
Korrektorat: Ilse Schmidt, Astrid Nadler, Steffi Löchner, Anne Paulsen
Lektorat: Tanja Balg
Schlusskorrektorat: Anne Paulsen
E-Mail-Adresse der Autorin: flammen@isabella-mey.de
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.
Die Verwendung in anderen Medien ist verboten.
Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung
ISBN der Printausgabe 978-3-946782-02-5
Angst klammert eifersüchtig,
Liebe schenkt Raum zur Entfaltung.
Inea
Freitagmittag
O Himmel, rette mich! Wovor? Na, vor mir selbst, meiner Liebe zur Unmöglichkeit, vor der Welt des Chaos im Allgemeinen und finsteren Magiern im Besonderen!
Markus hat die Tür meiner geliebten Wohngemeinschaft hinter sich geschlossen und mich darin zurückgelassen – mit einem Alltag, der diese Bezeichnung schon seit geraumer Zeit nicht mehr verdient. Okay, so lange ist es auch wieder nicht her, dass sich mein gemächlich vor sich hinplätscherndes Leben in einen Wildwasserbach mit Stromschnellen und Wasserfällen verwandelt hat, aber es kommt mir zumindest so vor.
Entgegen meines ursprünglichen Entschlusses, mich mit Beata in Frauengespräche zu vertiefen, verkrieche ich mich in mein Zimmer. Ich verspüre das Bedürfnis, eine Weile alleine zu sein, um meine Gedanken und Gefühle zu sortieren und mich zu regenerieren. So lege mich auf meine Couch und lasse den Blick versonnen durch das große Fenster in die Ferne schweifen.
Die vergangen zwei Wochen waren dichter mit Abenteuern gespickt als das komplette Leben eines jeden Max Mustermann. Ich habe meine Feuermagie entdeckt und kontrollieren gelernt, habe zweimal mit einem Lichtmagier gekämpft und wurde von dieser liebeskranken Leyla entführt, vor der ich durch eine fremde Welt voller Untiere fliehen musste. Und dann ist da auch noch Torin, der Lord der Schatten, zu dem die magische Körper- und Liebesverbindung aufgelöst wurde – zumindest angeblich. Ich kann letztere trotzdem noch immer fühlen. Aber wenn ich so darüber nachdenke, hat mich dieser Mann schon vom ersten Blick in seine Augen an in den Bann gezogen – damals am Main-Kai. Es war wie ein enormer Sog, der mich bis tief in seine Seele hat blicken lassen – unheimlich, rätselhaft, aber auch irgendwie magisch. Zu diesem Zeitpunkt kann die Schattenmagierin ihre Finger noch gar nicht im Spiel gehabt haben, denn nach dem Gespräch mit Torin wurde klar, dass die gemeinsamen Träume auf dem Turm ein Symbol für Leylas magische Liebesverbindung waren, und das wiederum müsste bedeuten, dass aber schon von Beginn an etwas anderes zwischen uns sein musste, etwas, das nichts mit dem Zauber zu tun hat, etwas Tiefes, unheimlich Intensives. Der Ausdruck Liebe auf den ersten Blick kann dieses Gefühl nicht annähernd beschreiben und dennoch frage ich mich, wie ein kurzer Augenkontakt ausreichen konnte, um ein solches Feuer zwischen uns zu entfachen. Ich muss über die Doppeldeutigkeit dieses Satzes ein wenig grinsen.
Ach Torin …
Es fällt mir ungeheuer schwer zu akzeptieren, dass er mich nicht an seiner Seite haben will. Mein Herz fühlt sich schwer an wie ein Mühlstein, wenn ich nur an ihn denke.
Jemand klopft an meine Zimmertür.
»Ja?«
Beata öffnet sie und streckt ihren Kopf durch den entstehenden Spalt.
»Ist er weg?«, fragt sie, während ihr Blick forschend durch den Raum schweift.
»Wer? Ach so … Ja, Markus ist schon gegangen. Ich habe mich nur zurückgezogen, um alles in Ruhe zu verdauen, aber komm doch rein.«
Sie tritt ein und lässt sich neben mir auf der Couch nieder.
»Was hast du eigentlich gegen Markus?«, frage ich neugierig und auch ein wenig scheinheilig, weil mir der Schattenmagier ja bereits verraten hat, dass er ihrem Ex-Freund ähnelt.
Doch Beata weicht mir mal wieder aus, indem sie den Blick senkt und etwas murmelt wie: »Gar nichts …«
Erfahrungsgemäß geht es nach hinten los, wenn ich nun weiterbohre. Außerdem hebt sie gerade den Blick und wechselt abrupt das Thema.
»Aber jetzt erzähl doch mal! Dass du mit einem fingerlutschenden Leo durchgebrannt bist, war doch reine Erfindung, stimmt’s?«
Neugier sprüht aus ihren Augen und ich muss bei der Erinnerung an die entsprechende Szene grinsen, obwohl ich gleichzeitig ein wenig frustriert darüber bin, dass meine Freundin noch immer nicht bereit ist, sich zu öffnen.
»Na ja, wie man’s nimmt. Ein Körnchen Wahrheit steckt schon in der Geschichte«, antworte ich und hole tief Luft, um mit einer ausführlichen Erzählung zu beginnen. Da unterbricht mich jedoch die Türglocke. Ich lasse meinen vor Schreck angehaltenen Atem hörbar entweichen. Dann springe ich auf, um zu öffnen, denn ich ahne bereits, wer das sein könnte. Wenn Liliana mich jetzt besucht, wäre das äußerst praktisch, denn dann muss ich die Geschichte nicht doppelt erzählen.
Doch mit der Person, die mir nach dem Öffnen der Wohnungstür gegenübersteht, habe ich im Leben nicht gerechnet. Ich muss ein paar Mal blinzeln, weil ich sie im ersten Moment gar nicht erkenne und im zweiten Moment nicht glauben kann, was ich da sehe: Es handelt sich eindeutig um Tina Besset, zumindest was Gesicht und Figur angeht. Und dennoch blickt mir ein anderer Mensch in die Augen – nicht nur, weil sie mir ihre Fassade zum allerersten Mal völlig ungeschminkt präsentiert und die langen roten Haare durch einen schlichten Pferdeschwanz gebändigt werden, sondern auch, weil sich der gewohnt arrogante Ausdruck völlig aus ihren Gesichtszügen verabschiedet hat. Stattdessen wirkt sie weich und ein wenig unsicher. Mein verwunderter Blick bringt Tina Besset jetzt sogar zum Lächeln. Allein das wäre schon ein Eintrag in meinem Tagebuch wert – wenn ich denn eines führen würde.
»Hallo Frau D’Orayla! Ähm, ich kann mir denken, dass Sie sich ein wenig wundern über meine Erscheinung. Ich, ähm … ich wollte mich bei Ihnen für mein überhebliches Auftreten in der Vergangenheit entschuldigen. Wir hatten kein besonders gutes Verhältnis und ich bedaure das.«
Nun bleibt mir vor Verwunderung auch noch der Mund offen stehen.
Wurde sie einer Gehirnwäsche unterzogen? Oder ist das ihre geklonte Zwillingsschwester?
»Äh … ja.« Mehr bringe ich nicht heraus.
Natürlich lassen auch die neugierigen Zwillinge nicht lange auf sich warten, weil sie ja immer wissen müssen, was in dieser WG so vor sich geht. Selbst Beata tritt kurz darauf dazu, wohl um zu sehen, wer mich an der Tür aufhält.
»Ach, wen haben wir denn da?! Eine Schwester von Tina Besset?«, platzt Moritz prompt heraus.
»Hallo, die Herren Sitake!«, grüßt meine neue alte Nachbarin höflich.
Tatsächlich verschlägt es den Zwillingen für fünf komplette Sekunden die Sprache – ebenfalls ein denkwürdiges Ereignis, das eine Notiz in dem Tagebuch, das ich nicht besitze, wert wäre.
»Sie könnte ein auf freundlich programmierter Android sein – möglicherweise ersetzen Außerirdische gerade alle rothaarigen Frauen durch derartige Attrappen«, flüstert Moritz seinem Bruder so laut zu, dass wir es alle hören können.
Tina Besset hält sich die Hand vor den Mund und kichert ein wenig kindisch über den Kommentar meines Mitbewohners. Mit dieser Geste bringt sie jetzt die versammelte Mannschaft unserer WG dazu, sie mit offenem Mund anzustarren.
Das kann doch gar nicht wahr sein! Was ist mit ihr geschehen? Nie und nimmer hätte sich Tina Besset früher so verhalten!
Genau wie ich, bringt Beata vor lauter Staunen kein Wort über ihre Lippen.
»Sie fragen sich sicherlich, weshalb ich mich so verändert habe …«
Die Zwillinge nicken heftig mit den Köpfen und ich platze fast vor Spannung, als sie fortfährt:
»Die Wahrheit ist: Ich kann mich weder daran erinnern, wo ich war, noch was passiert ist. Ich weiß nur, dass ich in der Vergangenheit nicht besonders nett zu Ihnen war, aber ich kann mir überhaupt nicht erklären, was da in mich gefahren ist. Eigentlich finde ich Sie alle sehr nett und ich möchte Ihnen deshalb jetzt auch gerne das Du anbieten.« Sie streckt mir versöhnlich ihre Hand hin. »Tina.«
In meinen Augen muss sich eine ganze Herde von Fragezeichen tummeln. Die ganze Sache ist mir nicht geheuer, aber ich überwinde mich trotzdem dazu, ihre Hand zu ergreifen und zögerlich zu schütteln.
»Inea«, sage ich tonlos.
Beata folgt meinem Beispiel, wobei ihr Gesichtsausdruck den meinen in Verwirrung noch übertrifft.
»Moment! Das geht aber anders! Komm doch rein, Tinchen! Dann trinken wir Schwester-Bruderschaft«, erklärt Max bestimmt und ergreift sogleich Tina Bessets Hand.
Sie lässt sich tatsächlich kichernd von ihm in die Wohnung ziehen. Ich kann nicht anders, als ungläubig den Kopf zu schütteln. Da Moritz natürlich nicht außen vor bleiben kann, schnappt er sich Tinas andere Hand, sodass sie nun händchenhaltend von den Zwillingen in unser Wohnzimmer geleitet wird. Dabei kann meine geläuterte Nachbarin gar nicht aufhören zu kichern. Eigentlich sollte ich ja mittlerweile daran gewöhnt sein, dass Dinge passieren, die ich bislang für unmöglich hielt, aber im Augenblick kommt mir Tina Bessets Wandlung um gut 180 Grad wie das größte aller Wunder vor.
Beata zuckt ebenso ratlos mit den Schultern wie ich selbst, dann begeben wir uns zu den anderen ins Wohnzimmer. Ich muss diese fast schon ganz neue Nachbarin noch ein wenig begutachten, bevor ich das alles glauben kann. Die Zwillinge haben Tina bereits zwischen sich auf dem Sofa platziert, Max öffnet mit einem lauten Plopp! eine Flasche Sekt, während Moritz ihm ein Glas entgegenstreckt, um den herausquellenden Schaum aufzufangen. Ursprünglich hatte ich ja vor, Beata von meinem Abenteuer zu erzählen, aber weil ich noch immer nicht fasse, was mit Tina geschehen ist, kann ich mich von ihrem Anblick partout nicht losreißen. Beata und ich lassen uns in den Ohrensesseln nieder, während Max den Sekt erstaunlich gekonnte auf die Gläser verteilt.
»Für mich nicht«, lehnen Beata und ich gleichzeitig ab, als er beim vierten der fünf Gläser ankommt.
»Aber die Wiedergeburt unserer lieben Nachbarin muss doch gefeiert werden!«, verkündet Max.
Ungeachtet unseres Widerspruchs fährt er mit dem Befüllen fort, dann hebt das Trio auf der Couch fast synchron die Sektgläser.
»Wer zuerst?«, fragt Tina.
»Ich natürlich!«, antworten die Zwillinge synchron.
»Dann knobeln wir!«, entscheidet Max unter Tinas Gekicher.
»Nein, lass Tinchen entscheiden!«, schlägt Moritz vor.
»Oh, das ist schwer …«, sagt diese lächelnd. »Vielleicht ist Knobeln doch keine schlechte Idee.«
Tatsächlich stellt Tina ihr Glas wieder ab und fischt unter animalischen Windungen ein Geldstück aus der Hosentasche ihrer hautengen Jeans.
»Zahl steht für Max, Kopf für Moritz«, erklärt sie geschäftig.
»Und wenn ich Einspruch erhebe, weil ich der Kopf sein will?«, wirft Max übertrieben beleidigt ein.
Tina bedenkt ihn lediglich mit einem milden Lächeln und wirft die Münze in die Höhe. Sie landet unter Spritzern in ihrem eigenen Sektglas, wo sie im verjüngten Ende stecken bleibt.
»Oh …«, macht Tina und kichert, dann rücken die Augen der drei Beteiligten dicht an das Glas heran, um das Ergebnis zwischen den perlenden Bläschen abzulesen.
»Zahl! Ich habe gewonnen!«, verkündet Max triumphierend.
Er und Tina heben ihre Gläser, überkreuzen die Arme und nippen jeweils an ihrem Sekt. Moritz zieht unterdessen einen Schmollmund und ich wundere mich darüber, dass es Tina nicht mal etwas ausmacht, dass sich das Geldstück noch immer in ihrem Glas befindet, während sie trinkt. Nachdem der Teil des Trinkens erledigt ist, wackelt Max erwartungsvoll mit den Augenbrauen und formt dabei einen Kussmund. Ich traue meinen Augen kaum, als Tina Max tatsächlich ein Küsschen auf die Lippen drückt – zwar nur kurz, aber doch so, dass der Zwilling selbst ganz perplex dreinschaut. Wir alle hatten erwartet, dass es maximal ein flüchtiges Wangenküsschen werden würde. Max’ Kopf nimmt augenblicklich die Farbe einer überreifen Erdbeere an. Ich schätze mal, das war der allererste Kuss, den er überhaupt jemals in seinem Leben von einer weiblichen, nicht-verwandten Person auf diese Körperpartie bekommen hat.
»Hey, ich will auch! Jetzt ich!«, ruft Moritz nun, wobei er die permanent kichernde Tina in seine Richtung zieht. Dann beginnt dieselbe Prozedur von vorn, nur dieses Mal mit dem anderen Zwilling. Er läuft nicht weniger rot an, obwohl er schon vorher ahnen konnte, was ihm bevorsteht.
Beata und ich sitzen in unseren Sesseln, als ob wir uns ein Stück im Theater ansehen würden, und genauso real erscheint es mir auch. Das Trio auf der Couch trinkt, lacht und schwatzt vergnüglich, während die Zwillinge nicht müde werden, immer neuen Alkohol nachzuschenken.
Da kommt mir plötzlich ein Verdacht, was diese Veränderung ausgelöst haben könnte. Ich lehne mich zu meiner Freundin hinüber und flüstere: »Du, Beata, meinst du, sie steht vielleicht unter Drogen? Marihuana oder so etwas? Ich kenne mich damit ja nicht aus, aber …«
»Hm, wäre schon möglich. Das würde einiges erklären. Dann sollte sie aber keinesfalls auch noch Alkohol dazukippen!«
Es klingelt schon wieder an der Tür.
Ob das jetzt endlich Liliana ist?
Aber ich werde erneut enttäuscht, denn dieses Mal blickt ein erboster Leon Friedrich auf mich herab – er überragt mich um gut einen Kopf.
»Wissen Sie eventuell, wo meine Partnerin steckt?«, fragt er, ohne einen höflichen Gruß überhaupt in Erwägung zu ziehen.
Tsss, hält sich immer für was Besseres, benimmt sich mir gegenüber aber ohne jegliche Manieren! Das muss mal gesagt werden – na ja … oder zumindest gedacht.
Eine Antwort brauche ich ihm nicht zu geben, denn das Gelächter meiner Nachbarin dringt vom Wohnzimmer durchs Esszimmer in den Flur, daraufhin durch die Eingangstür bis zu Leon Friedrich Steinbergs Ohren und von dort auf direkter Nervenleitung bis in sein Gehirn.
Oh, oh, er sieht alles andere als amüsiert aus …
»Tina! Komm sofort hierher!«, ruft er mit der Strenge eines grimmigen Hundeführers.
Augenblicklich herrscht in der Wohnung eisige Stille. Kurz darauf schwankt die Gerufene auf uns zu.
»Tina! Sag mal, was ist denn in dich gefahren?! Du hast doch nicht etwa gemeinsam mit diesen Leuten getrunken?!«, ruft Leon Friedrich fassungslos. »Ich erkenne dich gar nicht wieder!«
Damit ist er zumindest nicht allein.
Tina zuckt ein wenig unsicher mit den Schultern und will ihren Partner in die Arme schließen, doch der schiebt sie angewidert von sich.
»Ach, Schatz! Du duftest ja wie eine Alkoholleiche! Außerdem benötigst du dringend eine Dusche und ein frisches Styling! Was, wenn dich die Kunden so sehen?«
»Die Kunden? Ssssonst interessiert dich nichtsss?«, erwidert Tina gleichermaßen gekränkt wie beduselt.
Gerade als ich die Tür hinter den beiden schließen will, bimmelt die Klingel erneut.
Aber das muss jetzt endlich Liliana sein!
Ich drücke den Summer und warte. Dabei bekomme ich noch immer den Streit meiner Nachbarn mit.
»Wenn der Drogentest bei der Polizei positiv ausgefallen wäre, dann würde dies dein seltsames Verhalten ja wenigstens erklären, aber was, bitte schön, ist vorgefallen, dass du dich dermaßen verändert hast, Tina?!«
»Ich hab dir doch sch-schon gesagt, ich weiß es nnn-nicht! Aber was ssstört dich eigentlich daran, dass ich jetzt netter bin? Die k-kooomische Zzzicke von früher kannst du doch nicht wirggglich gemocht haben!«, lallt seine Partnerin beschwipst.
Dann verschwinden die beiden in ihrer Wohnung und geraten damit außer Hörweite. Dafür taucht nun endlich meine Tante im Treppenhaus auf. Ihre silbrigen, langen Haare flattern fast ebenso durch ihre stürmische Bewegung wie das weite weiße Kleid mit dem grün glitzernden Motiv einer Schlingpflanze. Liliana nimmt eilig die letzten Stufen. Kaum, dass sie meinen Flur betritt, zieht sie mich in ihre Arme.
»Inea! Kind, bin ich froh, dass dir nichts passiert ist! Obwohl … so kann man das nun wirklich nicht ausdrücken, bei dem, was du durchmachen musstest! Ach, herrje!«
Sie drückt mich an sich und streichelt dabei immer wieder über mein Haar. »Geht es dir auch gut, mein Schatz?«
»Ja, alles okay, Liliana. Mir geht’s prima.«
In Wirklichkeit ist das übertrieben – näher an die Realität käme ich mit der Aussage, dass es mir den Umständen entsprechend gut geht. Beata nickt Liliana freundlich zu und steuert dann ihr Zimmer an.
»Beata, hast du noch Zeit für ein Gespräch?«, frage ich, weil ich den beiden Frauen endlich berichten will, was ich alles erlebt habe.
Meine Freundin nickt und dann versammeln wir uns – wie vor gar nicht allzu langer Zeit schon einmal – zu einem geheimen Gespräch auf meiner Couch. Jetzt kann ich endlich meine Abenteuergeschichte loswerden. Nachdem ich Torin schon alles davon erzählt habe, fällt es mir nun viel leichter, über die Stunden des Schreckens und der Angst zu sprechen. Ich muss zugeben, dass ich die Ereignisse ein Stück weit verdrängt hatte, doch die schockgeweiteten Augen der beiden Frauen machen mir noch einmal bewusst, was für ein Horrortrip das war. Neben der Schauergeschichte gibt es jedoch auch etwas Lustiges zu erzählen, denn die Vorstellung, wie der kleine Steinbock dem Lord der Schatten auf Schritt und Tritt folgt, bringt uns alle zum Lachen.
»Dann ist die Körperverbindung tatsächlich aufgelöst?«, hakt Liliana sichtlich erleichtert nach, als ich meine Geschichte beendet habe.
»Ja, Torin hat es getestet«, erkläre ich.
Um meine Tante nicht weiter zu beunruhigen, verschweige ich jedoch, dass mich noch immer Liebesgefühle plagen. Im Grunde ist das aber sowieso unwichtig, da Torin mich ja eh nicht haben will, denke ich traurig.
»Dann wirst du ihn jetzt auch nicht wiedersehen?«, fragt Beata, was meinen locker zugeschütteten Schmerz erneut an die Oberfläche bringt. Und damit beginnt wieder der leidige Kampf gegen die Ansammlung von Salzwasser in meinen Augen.
Brennt Liebeskummer eigentlich immer so schrecklich in der Brust? Fühlt sich der Bauch jedes Mal so an, als ob die Waschmaschinentrommel darin nasse Wäsche hin- und herdreht und – in üblen Phasen – sogar schleudert?
Als Sven mich verlassen hat, spürte ich Ansätze davon, aber so schlimm wie bei Torin war es nie. Ich fürchte schon, Liliana könnte meinen Kummer bemerken, aber zum Glück rettet mich in diesem Augenblick die Türklingel.
Wer ist denn das nun wieder?! Wenn das so weitergeht, kann ich die Tür heute auch offen lassen!
Ich springe rasch auf, um meinen Emotionen zu entkommen, eile in den Flur und reiße die Wohnungstür auf. Im Hausflur steht niemand, daher nehme ich den Hörer der Gegensprechanlage ab. Keine Sekunde zu früh, denn auch die Zwillinge sind mal wieder sofort zur Stelle, um den Neuankömmling zu begutachten.
»Hallo, wer ist da?«, quäke ich nicht besonders eloquent in den Hörer.
»Inea? Hier ist Benedikt«, höre ich unter dem sphärischen Knistern der Leitung.
»Oh, Bene!«, rufe ich überrascht aus und drücke sogleich den Summer.
»Bene?«, fragen die Zwillinge synchron.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich hierbei um dein Date von vor etwa zwei Wochen handelt?«, fragt Max neugierig.
»Äh, ja«, gestehe ich verlegen und hoffe, dass sie sich nicht weiter darüber auslassen, denn ich kann Benedikt bereits auf der Treppe hören.
Aber wer die Zwillinge kennt, weiß nur zu gut, dass diese Hoffnung vergebens ist.
»Das wären dann jetzt bereits vier … Wie war das noch? Bene, Markus, Leo … und wie hieß eigentlich dieser mürrische Kerl? Hat Beata das nicht mal erwähnt?«, zählt Moritz zu meinem Leidwesen auf, als Bene gerade die letzten Stufen zu unserem Stockwerk erklimmt.
»Torin!«, ruft Max viel zu laut als Antwort auf Mortizʼ Frage.
Bene mustert uns sichtlich irritiert, wie wir zu dritt im Türrahmen auf ihn warten, um dann von Max auch noch scheinbar mit dem Namen eines anderen Mannes angesprochen zu werden.
»Torin?«, fragt er in die Runde. »Wer soll das sein?«
»Uhhh, eine von Ineas Flammen! Ein ziemlich düsterer Typ, wenn du mich fragst!«, plappert Moritz drauf los, und ich muss meinem Ellenbogen ziemlich gut zureden, damit er dem Zwilling nicht kräftig in die Rippen stößt.
Sicher hätte er diese Aktion umgesetzt, wenn ich sie vor Bene hätte verbergen können. Stattdessen wippe ich verlegen von einem Bein auf das andere.
Oje, Bene sieht aus, als wollte er am liebsten gleich wieder gehen!
»Ach, nimm die beiden Quatschköpfe bloß nicht so ernst! Aber hallo erst mal!«
Ich versuche ein heiteres Lächeln, was mir nur halbwegs gelingt. Um meine Unsicherheit zu überspielen, gebe ich Bene in französischer Manier jeweils ein Küsschen auf die stoppeligen Wangen. Das versöhnt ihn offenbar, denn nun lächelt er mich an.
»Hallo Inea! Schön, dich zu sehen – ich hab dich die Tage schon vermisst.«
Jetzt muss ich schnell etwas sagen, das ihn ablenkt, bevor er fragt, wo ich war, und die Zwillinge schlimmstenfalls damit beginnen, die Leo-Anekdoten zum Besten zu geben. Aber was?
Ich grinse dämlich, während es in meinem Hirn aufgeregt rattert.
»Äh, ja, ich war leider verhindert. Aber komm doch rein, Bene. Wie läuft’s im Kindergarten?«
Vielleicht reicht das ja schon aus, ihn vom Thema abzubringen … Außerdem sollte ich schnell die neugierigen Zwillinge loswerden.
»Und ihr beiden geht mal wieder. Husch, husch, in euer Körbchen!«
Ich wedle mit den Händen, als wollte ich zwei Hunde verscheuchen, doch die einzige Reaktion der Brüder besteht in verzerrten Schmollgesichtern und widerspenstig im Duett gekläfftem »Wau! Wau!«. Obendrein kommen jetzt auch noch Liliana und Beata in den Flur. Wahrscheinlich wurde ihnen das Warten in meinem Zimmer zu lang.
»Oh, Liliana! Hallo!«, grüßt Bene meine Tante, als er sie erblickt, und reicht ihr höflich die Hand.
»Hallo Benedikt! Schön, dich zu sehen«, erwidert Liliana wohlwollend.
Dass wir jetzt alle im Flur versammelt sind, nutzen die Zwillinge, um sich selbst sowie sämtliche Anwesende einander vorzustellen – inklusive all derjenigen, die sich bereits kennen.
»… und, Inea Chulia D’Orayla, darf ich dir vorstellen: deine Tante Liliana Frenchizca. Sie arbeitet als Leiterin des Kindergartens, in dem du die Pinguin-Gruppe betreust«, erläutert Max gewichtig.
Beata verdreht die Augen, Bene schmunzelt, Liliana lächelt milde und ich seufze extrageräuschvoll. Irgendwie scheint alles beim Alten zu sein – zumindest mit den Scherzen der Zwillinge hat mich der Alltag schon wieder voll im Griff.
»Ach, nee?!«, bringe ich vor Ironie tiefend hervor. »Da das jetzt ausführlich geklärt wurde, könnt ihr euch gerne in eure Zimmer zurückziehen. Ich komme mit meinem Besuch ganz gut alleine klar!«, erkläre ich nachdrücklich.
Ganz langsam tippeln Max und Moritz nun rückwärts, während sie sich permanent leicht vor uns verbeugen.
»Möchtest du einen Kaffee? Wir könnten uns alle gemütlich ins Wohnzimmer setzen«, schlage ich Bene vor.
»Nein, nein, mach dir keine Umstände, Inea! Ich habe auch nicht viel Zeit. Du warst in den letzten Tagen nur nicht im Kindergarten, sonst hätte ich dir die Einladung schon viel früher gegeben.«
»Eine Einladung?«
Meine Augenbrauen zucken überrascht in die Höhe.
»Eine Einladung?«, ertönt ein männliches Echo durch zwei halbgeöffnete Zimmertüren und gleich darauf lugen die dazugehörigen Blondschöpfe jeweils neugierig hervor.
»Mein Schatz, ich möchte nicht länger stören …«, hebt Liliana nun an, sich zu verabschieden, und auch Beata wendet sich Richtung Küche.
Die Zwillinge stürmen euphorisch auf Benedikt zu, was die beiden Frauen kurz innehalten lässt.
»Das ist aber nett, dass du uns alle einladen willst! Ich freu mich ja schon so!«, jauchzt Max.
»Beata und die Inea-Tante sind doch auch eingeladen, oder? Aber wozu eigentlich? Eine Eltern-Kind-Party mit Mehrstocktorte und Sackhüpfen vielleicht?«, plappert Moritz aufgeregt drauf los.
»Ihr jungen Männer!«, fährt Liliana jetzt tadelnd dazwischen. »Das geht nun wirklich zu weit! Das Angebot galt ausschließlich Inea! Es ist äußerst unhöflich, sich selbst einzuladen!«
Bene, der zwar ein wenig überrumpelt wirkt, lächelt dennoch milde.
»Ähm, ist schon gut, Liliana, ich würde mich sehr freuen, dich ebenfalls auf meiner Geburtstagsfeier begrüßen zu dürfen – ebenso alle anderen Bewohner der WG«, fährt mein Praktikant fort.
Dies bewirkt, dass sich die blonden Brüder bei den Händen fassen und freudig singend im Kreis tanzen.
»Wir sind eingeladen! Wir sind eingeladen!«
Beata nickt Bene kurz zu und verschwindet schlussendlich doch in der Küche.
»Das ist lieb von dir Benedikt, aber du musst dich nicht verpflichtet fühlen, das zu tun«, bekräftigt Liliana.
»Nein, ich meine es ehrlich! Ich freue mich, wenn Sie dabei sind!«, beteuert er noch einmal und es klingt aufrichtig.
»Gut, dann bedanke ich mich recht herzlich. Wann und wo findet das Fest denn statt?«, will Liliana wissen und auch ich bin gespannt, endlich mehr über diese Feier zu erfahren.
»Die Party beginnt am Sonntag um elf Uhr auf dem Grillplatz am Weiherbach. Wisst ihr, wo das ist?«
Liliana und ich nicken, wobei die Zwillinge anfangen, vor lauter Übermut abwechselnd zu reimen.
»Weiherbach!« – »Eierbach!« – »Schleierbach!« – »Reiherbach!« – »Rathausdach!« – »Kinderkrach!« – »Ich-bin-wach!« – »Du-bist-schwach!« – »Ich-mach-gleich-Krach!« – »Matt-im-Schach!« – »Dass-ich-nicht-lach!«
»Ja, also, ich muss dann mal wieder los«, unterbricht Bene den Reimwettkampf der Blondschöpfe. »Ich freue mich schon auf euch alle!«
»Herzlichen Dank, ich komme gern«, antworte ich reichlich verspätet, aber bei dem Trubel hier kommt man ja kaum zu Wort.
Liliana verabschiedet sich jetzt ebenfalls, wobei die Zwillinge mal wieder ihre Scherze treiben müssen, indem sie sich voller Ehrerbietung mehrfach vor meiner Tante und Bene verbeugen.
Als mein Besuch verschwunden ist, gehe ich zu Beata in die Küche – im Gleichschritt mit zwei Ulknudeln, die mir folgen. Draußen dämmert es bereits und es wird Zeit für das Abendessen. Meine Freundin kurbelt an der handbetriebenen Brotschneidemaschine, als wir eintreten. Die Zwillinge und ich beginnen Teller, Besteck und Aufschnitt auf dem Servierwagen zu stapeln. Nachdem alles fertig ist, nehmen wir unser abendliches Mahl im Esszimmer ein. Während Beata und ich unseren Gedanken nachhängen, registriert mein Bewusstsein im Hintergrund die gewohnten Scherze von Max und Moritz. Ich kaue gerade auf meinem Käsebrot und beobachte dabei Max beim Durchforsten einer dieser kostenlosen Zeitungen.
»›Edler Bullterrier im Forst von Eppstein entlaufen. Hört auf den Namen Walter von der Heide‹«, liest er vor. »Haha, den Hund möchte ich sehen, der auf Walter von der Heide hört! … Walter von der Heide, komm, Gassi gehen!«, spottet Max und blättert dann weiter. »Hey, da verkauft jemand eine Grüne Mamba!«
»Kommt nicht in Frage!«, rufe ich sofort alarmiert.
Der Ärger mit den Riesenfauchschaben hat mir gereicht, und eine Giftschlange kommt mir schon gar nicht in die Wohnung. Außerdem weiß ich ja nicht, wie lange die Persönlichkeitsumkehr meiner Nachbarin noch anhält. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie sie hysterisch durchs Treppenhaus stürmt, sollte ihr dort eine Schlange begegnen, und in diesem Fall läge der Unterschied zu meiner eigenen Reaktion lediglich in den Nuancen der Schrei-Tonhöhe.
»Oooch …«, machen die Zwillinge im Chor und ziehen synchron eine Schnute.
Max vertilgt den letzten Bissen seines Brots, ohne den Blick von der Taunus Zeitung zu nehmen.
»Hey, da ist ein Artikel über mich! Schau mal, Brüderchen. ›Wer ist der Mann, der Hessens Frauen reihenweise das Herz bricht? Seit gut zwei Wochen gehen wiederholt Suchanzeigen nach einem dunkelhaarigen Mann mit braunen Augen ein. Allesamt stammen von Frauen, die eine außergewöhnliche Nacht mit diesem Unbekannten verbrachten, woraufhin dieser allerdings kurze Zeit später spurlos wieder verschwand.
Passanten behaupten zudem, Anfang letzter Woche auf offener Straße eine ganze Traube von Frauen beobachtet zu haben, die einem Mann folgten, gleich dem Rattenfänger von Hameln.‹«
»Haha, zeig mal!«, ruft Moritz, reißt seinem Bruder die Zeitung aus der Hand und überfliegt den Artikel mit großen Augen. »Den Typen möchte ich auch mal kennenlernen. Aber du kannst das wohl kaum gewesen sein, schließlich haben wir keine Sekunde getrennt voneinander verbracht und eine Traube von Frauen wäre mir mit Sicherheit aufgefallen.«
»Das ist bestimmt nur eine Zeitungsente«, wendet Beata ein, nachdem sie nun ebenfalls aus der Versenkung ihrer Gedanken aufgetaucht ist.
»Soweit ich weiß, ist der 1. April aber schon lange vorbei«, widerspricht Max.
»Seltsame Sache … Vor allem aber finde ich es komisch, dass die Zeitung über so etwas berichtet. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Heiratsschwindler, der so viel Charme versprüht, dass ihn die Frauen wiederhaben wollen, statt ihn anzuzeigen«, mutmaße ich.
»Hoffentlich kommt er nicht nach Eppstein und schnappt uns alle unsere Groupies vor der Nase weg«, mimt Moritz den Besorgten.
»Dieser Typ erhält in jedem Fall Hausverbot für unsere Vorstellung! Nur zu dumm, dass kein Foto dabei ist. Ansonsten sollten wir den Zutritt allen schwarzhaarigen Männern mit braunen Augen ausschließlich mit Keuschheitsgürtel gewähren«, pflichtet Max bei.
»Stimmt! Dieser Gürtel wäre im Übrigen auch eine gute Idee für unseren Assistenten Markus.«
Ich bemerke, wie sich über Beatas Gesicht ein Schatten legt, als Moritz Torins Freund erwähnt.
»Du, Bruder, glaubst du, Markus könnte dieser Mann sein, hinter dem alle Frauen her sind?«, argwöhnt Max.
»Möglich wäre es … aber da sollten wir besser Inea fragen«, antwortet Moritz, wobei er mich mit wippenden Brauen anschaut.
»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Außerdem war er meistens entweder mit mir oder mit Torin zusammen.«
»Eigentlich schade, sonst hätten wir uns bei ihm Tipps holen können.«
Beata erhebt sich so abrupt von ihrem Stuhl, dass dieser beinahe umkippt. Ohne ein weiteres Wort marschiert sie in ihr Zimmer. Die verstummten Zwillinge schauen sich ratlos an und zucken mit den Schultern.
Ich seufze, weil mir nichts Besseres einfällt. Dann räume ich gemeinsam mit Max und Moritz den Tisch ab und spüle das Geschirr.
Torin
Freitagmorgen
Eine seltsame Stimmung herrscht auf Sko’Falkum, seit ich wieder zurück bin. Selbst wenn Inea nicht mehr auf meiner Burg weilt, lauert ihr Geist in jedem Winkel und lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Ich kann ihre Gegenwart förmlich spüren, obwohl sie im Augenblick in einer anderen Welt weilt. Ich befinde mich gerade auf dem Weg in den Burghof, als der tiefe Klang der großen Glocke am Eingangstor das Gemäuer in Schwingung versetzt. Ich ahne bereits, wer dort wartet, und kurz darauf steht fest, dass ich mich nicht geirrt habe.
Vor dem Burgtor steht ein alter Mistarianer. In seinem vom Wetter gegerbten Gesicht erkenne ich den Karrenbesitzer aus Mistad wieder. An einem Seil führt er den jungen Steinbock. Der Alte blickt aus seinen graubraunen Augen mit einer Mischung aus Angst und Ehrfurcht zu mir auf. Seine Anspannung lockert sich jedoch, als mir das Tier entgegenspringt und seinen Kopf an meinem Umhang reibt.
»Danke«, sage ich kurz angebunden, drücke dem Mistarianer ein zweites Goldstück in die Hand und führe den Steinbock dann an seinem Strick in die Burg. Ich kann das Tier nicht ansehen, ohne dass Bilder vor meinem inneren Auge aufflackern, die unweigerlich mit der Feuermagierin verknüpft sind.
»Leo hat sie dich genannt? Ach, diese Frau …«, seufze ich.
Das Jungtier folgt mir durchs Gemäuer bis in den Burghof. Hier nehme ich ihm den Strick ab. Aber statt seine neue Umgebung zu erkunden, schmiegt sich der Steinbock an meine Beine. Unwillkürlich bücke ich mich zu ihm hinunter und kraule Leo zwischen den winzigen Hörnern. Er sieht mich mit seinen großen dunklen Augen zutraulich an und legt den Kopf schief.
Genug jetzt!
In letzter Zeit ertappe ich mich viel zu oft bei unnützer Gefühlsduselei. Ich richte mich abrupt auf und marschiere mit großen Schritten davon. Der Steinbock will mir folgen, aber ich verschließe die Tür hinter mir. Im Hof gibt es genug Kräuter und Gras, woran sich das Tier gütlich tun kann.
Auf dem Weg zur Burg hatte mich Smirnow kontaktiert, um mir mitzuteilen, dass es Neuigkeiten in der Sache der unregistrierten Umbro gibt. Zudem hat einer meiner eigenen Wächter jemanden beobachtet, der sich auffällig bewegte – nicht weit entfernt von Majas Quartier. Diese Angelegenheit hat allerhöchste Dringlichkeitsstufe, daher war es notwendig, für heute Nachmittag eine weitere Sitzung einzuberufen, selbst wenn die hohe Frequenz der Zusammenkünfte die Ratsmitglieder langsam mürbe macht. Doch wer Verantwortung trägt, muss dafür auch etwas leisten. Macht und Privilegien, welche der Berechtigungsstatus eins mit sich bringt, erhält man nicht zu seinem privaten Vergnügen.
Markus und ich betreten den Sitzungssaal zeitgleich durch das Tor. Wir sind heute die Ersten und haben auch Maja etwas früher herbestellt, um sie bei der Befragung nicht der gesamten Meute auszusetzen. Zögerlich betritt die Femia-Tia den Raum. Ihre ehemals langen, gewellten Haare sind zwischenzeitlich einem Kurzhaarschnitt gewichen. Der gefrorene Blick ihrer eisblauen Augen wandert flüchtig in meine Richtung, während sie an mir vorüber auf ihren Platz am Ratstisch zusteuert.
Ich möchte den Saal dieses Mal nicht verlassen, da ich selbst noch einige Fragen zu stellen gedenke, aber wie abgesprochen überlasse ich meinem Freund die Gesprächsführung. Etwas abseits setze ich mich auf einen aus dem Fels gehauenen Vorsprung.
»Maja, wie geht es dir?«, beginnt Markus die Unterhaltung.
»Es geht. Ich fühle mich fortwährend beobachtet«, antwortet sie leise.
»Ein weiterer Umbro hat dich aber seither nicht besucht, oder?«
Sie schüttelt langsam den Kopf.
»Nein, aber ich spüre, dass er hinter mir her ist.«
»Hast du denn eine Idee, warum es diese Schattenmagier ausgerechnet auf dich abgesehen haben könnten?«
»Nein, ich habe keine Ahnung«, flüstert die junge Femia-Tia und ihre Augen beginnen feucht zu glänzen.
Frag sie doch noch einmal, wann und wo genau sie den drei Umbro jeweils begegnet ist, sende ich meinem Freund in Gedanken zu, um das Gespräch nicht zu unterbrechen.
»Maja, du sagtest, der erste Umbro ist dir vor drei Wochen begegnet und er hat dich auf der Straße verfolgt. Wo genau ist das passiert?«
Maja schluckt heftig, bevor sie antwortet.
»Das war auf dem Markt von Olyntha, auf … auf dem Heimweg.«
»Ach, auf Atlatica?! Diesem Detail hätten wir schon viel früher Beachtung schenken müssen!«, ruft Markus erstaunt. »In Olyntha steht dein Haus, nicht wahr?«
»Ja«, antwortet Maja unter sanftem Nicken. »Das Haus gehörte meiner Großmutter. Nach ihrem Verschwinden erbte es meine Mutter – aber sie starb bei meiner Geburt. Mein Vater zog mit meiner Schwester und mir nach Niedernhausen im Taunus, wo ich dann aufgewachsen bin. Später kehrte ich aber in das Haus meiner Mutter nach Olyntha zurück, meine Schwester hingegen blieb in Niedernhausen.«
»Aber die anderen beiden Umbro haben dir in Niedernhausen aufgelauert, richtig?«
»Ja, ich … ich wollte fort aus meinem Haus in Olyntha, weil ich mich dort nicht mehr sicher fühlte. Ich dachte, in der Wohnung meiner Schwester würde es mir besser gehen. Sie ist auf Weltreise und da wir uns die Wohnung auch früher schon geteilt haben, kann ich jederzeit darin wohnen.«
»Doch auch dort lauerte dir wieder ein unregistrierter Umbro auf?«
»Nicht erst in Niedernhausen. Ich habe seine Gegenwart schon in der S-Bahn gefühlt. An meinem Körper, verstehst du? … Ich bin an der nächsten Haltestelle ausgestiegen und weggerannt, so schnell ich konnte, aber … die Gefühle wurden so übermächtig, dass meine Beine richtig … zitterten. Da war ein Park in der Nähe und da … im Gebüsch …«
Ihre Stimme bricht und Tränen bahnen sich ihren Weg über Majas Wangen.
»Ist gut, Maja, das musst du nicht erzählen. Dieser Umbro war aber ein anderer als der erste, da bist du dir sicher?«
Sie schluchzt und holt dann tief Luft.
»Ja, das war der, den ihr vor zwei Wochen erwischt und registriert habt. Ganz sicher ist es ein anderer gewesen. Seine Wangenknochen traten stärker hervor und er hatte eine kleine Narbe an der Wange. Der in Olyntha war widerlich dick um den Bauch.«
»Ja, den hattest du ja auch schon identifiziert. Ihn haben wir als erstes gefasst. Den zweiten festgenommenen Umbro kanntest du aber nicht, oder?«
Maja schüttelt den Kopf.
»Dann fasse ich mal zusammen: Zuerst konnten wir einen unregistrierten Umbro in Offenbach festnehmen, dieser hatte dich bereits auf Atlatica überfallen. Ich nenne ihn mal Primus – er weigerte sich, uns seinen Namen zu nennen. Das war derjenige mit dem dicken Bauch. Dann folgte die zweite Festnahme – die von Secundus. Er wurde in Rodgau verhaftet, du bist ihm aber vor der Registrierung niemals begegnet. Die dritte Festnahme war die von Tertius, einem recht jungen Umbro von etwa 19 Jahren, der dir in der S-Bahn nach Niedernhausen auflauerte. Tertius ist nachweislich in Frankfurt am Main geboren und trägt den Namen José Maria Vargas. Seine Mutter erklärte, dass er bei einem One-Night-Stand gezeugt wurde und sie den Vater danach nie wieder gesehen hat. Logischerweise beschrieb sie ihn mit den äußeren Merkmalen eines typischen Umbro, aber ohne irgendwelche Besonderheiten, die uns weiterbringen könnten. Das ist der Kerl mit der Narbe und den hervortretenden Wangenknochen. Diesen haben wir in Niedernhausen festnehmen können.
Kommen wir zu Quartus: Er hat zwar mit dir geschlafen, wir konnten ihn aber bislang nicht ausfindig machen. Quartus lauerte dir ebenfalls in Niedernhausen auf, richtig?«
»Ja, ich … ich wollte gerade die Haustür aufschließen, da ist eine Einkaufstasche gerissen. Der Umbro eilte wie aus dem Nichts herbei und half mir, die Sachen in die andere umzupacken. Ich muss gestehen, er war mir im ersten Moment sogar sympathisch und ich habe zugelassen, dass er mir hilft, die Einkäufe die Treppen bis zur Wohnung meiner Schwester hochzutragen. Dann aber … ich spürte seine Magie und mich überkam Panik, dass schon wieder … Aber ich konnte mich nicht dagegen wehren, seine Energie war viel zu mächtig.«
Maja senkt den Blick und wischt sich eine Träne von der Wange. Markus wendet sich mir zu.
»Was hältst du davon, Torin? Vor allem, dass Primus offensichtlich von Atlatica nach Offenbach gelangen konnte? Das bedeutet ja zwangsläufig, er kann die Tore passieren.«
»Eine erschütternde Erkenntnis …«, muss ich zugeben. Und in Gedanken sende ich Markus: Insbesondere, weil wir bei keinem der unregistrierten Umbro Amulettsplitter gefunden haben. Das weist erneut darauf hin, dass wir es mit mindestens einem Verräter in unseren Reihen zu tun haben. Und ob diese Sache in irgendeiner Weise mit dem Namenlosen zusammenhängt, ist auch vollkommen unklar.
»Ich traue mich kaum noch aus dem Haus! Und der Wächter kann ja auch nicht Tag und Nacht vor meiner Wohnung stehen!«, schluchzt Maja verzweifelt.
»Wir werden sehen, ob wir weitere Kapazitäten aufbringen können, um die Bewachung zu verstärken«, versichere ich ihr, während ich aufstehe und zum Ratstisch zurückkehre.
Ich höre entfernte Stimmen. Von meinem Platz aus habe ich einen direkten Blick auf den Eingang und kann auf diese Weise den Gesichtsausdruck der eintreffenden Ratsmitglieder noch in den Sekundenbruchteilen erhaschen, bevor sie mich wahrnehmen und ihre Masken aufsetzen.
Als erstes betritt Curlhair den Saal, begleitet von Danae Karadima. Es scheint, als wären sie ein Paar, so vertraut, wie sie miteinander scherzen. Beim besten Willen kann ich mir nicht vorstellen, dass die beiden hinter alldem stecken. Andererseits ist unser Verräter äußerst intelligent, und da wir bislang kaum einen Anhaltspunkt zu seiner Identität haben, könnte er zudem ein guter Blender sein, jemand, der sich geschickt verstellen kann. Im Schlepptau der beiden befindet sich noch eine weitere Person, die ich überhaupt nicht kenne. Ich mustere sie in einer Mischung aus Erstaunen und Missfallen, denn sie passt so gar nicht in unsere Runde: Ihre schwarzen, langen Haare sind durchsetzt von grellen roten und grünen Strähnen. Tiefschwarzer Lidschatten umrahmt ein wild funkelndes Augenpaar. Ihr Kiefer führt permanente Kaubewegungen durch, was der Ehrerbietung dem Vorsitzenden gegenüber vollkommen zuwiderläuft.
»Was hat diese Person hier zu suchen?!«, frage ich an Benjamin Curlhair und Danae Karadima gewandt.
»Das ist Saskia Schätzig. Sie ist die Nächste auf der Liste«, erklärt Danae. »Ich dachte, nachdem Leyla Aydin ihre Strafe jetzt auf Inferior verbüßt, bringe ich heute gleich ihre Nachfolgerin mit.«
Verflucht! Noch mehr Kindergarten kann ich in diesen Reihen nun wirklich nicht gebrauchen!
»Wie alt ist sie?«, will ich wissen.
»Ich bin siebzehn! Was dagegen?«, quakt Saskia respektlos dazwischen.
»Hier hast du nur dann das Wort zu ergreifen, wenn du die Erlaubnis erhältst!«, entgegne ich kalt und blitze Leylas Nachfolgerin böse an.
»Uuuh, bist du etwa Torin, der berüchtigte finstere Lord?«, bringt die kleine Hexe übertrieben betont hervor, wobei sie ein verängstigtes Mädchen mimt.
So etwas ist mir ja noch nie untergekommen! Selbst der eifersüchtigen Leyla würde ich dieser kindischen Schattenmagierin den Vorzug geben.
»Bevor du diesen Raum betrittst, hast du deinen Mund zu entleeren. Während einer Ratssitzung wird weder gekaut noch gegessen. Der Lord der Schatten wird mit ›Ihr‹ und ›Euch‹ angesprochen und derartig pubertäres Betragen ist in diesen Hallen fehl am Platz. Solltest du das nicht ändern, wirst du die gesamte Sitzung in der Zelle dort drüben verbringen!«, entgegne ich mit einer Kälte in der Stimme, die Saskia nun doch heftig zum Schlucken bringt. Immerhin lässt sie sich nun wortlos von Danae zu ihrem Platz am Ratstisch geleiten.
Inzwischen haben auch Ilios D’Ardano, Ava Riordan und Alan Nowak den Raum betreten und sich auf ihre Stühle gesetzt. Aber davon habe ich, entgegen meines Vorhabens, herzlich wenig bemerkt.
»Wie kommt es, dass eine so junge Femia-Soa Leylas Nachfolgerin werden kann?«, frage ich Danae über den Ratstisch hinweg.
»Mylord, das liegt schlichtweg daran, dass nur noch vierzehn Femia-Soa überhaupt existieren. Fünf davon wurden nach Inferior verbannt oder haben den Status vier, sind also für den Posten im Rat ungeeignet. Von den verbleibenden neun haben sich nur Saskia, Sebeb Semura und ich selbst zur Wahl aufgestellt, während drei weitere als Wächter arbeiten und sich nicht auf den Posten beworben haben. Es blieb uns nichts anders übrig, als Saskia in unsere Runde aufzunehmen, um das Gleichgewicht der Geschlechter und der Magierichtungen aufrechtzuerhalten.«
»Nun gut … Aber ich warne dich: Auch Respektlosigkeit steht unter Strafe und ich werde nicht zögern, dich nach Inferior zu verbannen, solltest du hier aus der Reihe tanzen!«, drohe ich Saskia mit zusammengekniffenen Augen.
In Angriffshaltung beuge ich meinen Oberkörper über den Ratstisch, während ich meine Arme gegen das Holz stemme und das jüngste Ratsmitglied mit Blicken erdolche.
»Jawohl, Mylord«, antwortet Saskia übertrieben gehorsam und funkelt mich dabei zynisch an.
Es geht mir nicht darum, einen Machtkampf gegen sie zu gewinnen – das Problem liegt darin, dass mich diese kleine Hexe den notwendigen Respekt im Rat kosten kann, sollte sie sich nicht fügen. Wenn es mir nicht gelingt, Macht zu demonstrieren, herrscht hier bald ein fatales Chaos, und das dulde ich nicht. Es gibt wichtige Aufgaben zu erledigen, die keinen Raum für interne Querelen lassen.
Auch Nikolay Lew Smirnow, Sebeb Semura und Olga Tarassow haben sich inzwischen in unserer Runde eingefunden. Die anderen Zauberer mustern Saskia mit ähnlichem Missfallen wie ich selbst.
»Da nun alle Mitglieder des Rates anwesend sind, eröffne ich hiermit die Sitzung!«, verkünde ich feierlich.
»Warum eigentlich schon wieder? Wenn das so weitergeht, können wir gleich hier in der Festung übernachten!«, wirft Alan Nowak voller Unmut ein.
Ich seufze innerlich. Wenn mir jetzt gleich noch weitere Magier in den Rücken fallen, wird es schwer, befriedigende Ergebnisse zu erzielen. Diesem Verfall an Respektlosigkeit muss unbedingt Einhalt geboten werden. Jedoch erhalte ich unerwartet Rückendeckung von einem anderen Schattenmagier.
»Niemand zwingt Euch, Ratsmitglied zu sein, Alan Nowak! Ihr könnt jederzeit zurücktreten, um für einen fähigen Magier den Platz zu räumen!«, wirft Nikolaj Smirnow unwirsch ein.
Seine Feindseligkeit wundert mich nicht. Wenn es nach dem Umbro Smirnow ginge, würden ausschließlich Magier des Schattens die Herrschaft übernehmen. Markus hält sich zurück, was gut ist, denn fast jeder hier weiß, dass wir privat befreundet sind. Es könnte mir als Schwäche ausgelegt werden, würde der Eindruck entstehen, ich benötigte seine Unterstützung.
»Wir fechten in dieser Runde weder interne Kämpfe aus noch wird man Mitglied im Rat, um seine Zeit und Privilegien für private Vergnügen zu vergeuden! Wir tragen eine hohe Verantwortung über viele Menschen, deren sollte sich jeder hier bewusst sein! Wer nachweislich gegen das Wohl aller arbeitet, kann vom Plenum der Gemeinschaft seines Amtes auch wieder enthoben werden!», sage ich streng und fixiere dabei insbesondere unser jüngstes Mitglied.
Statt eingeschüchtert den Blick zu senken, begegnet sie mir mit dreistem Grinsen. Davon lasse ich mich zwar nicht provozieren, aber sollte sich diese Saskia nicht in unsere Ordnung einfügen, werde ich nicht zögern, sie des Saales zu verweisen.
»Die nächste Femia-Soa auf der Wahlliste nach Leyla Aydin ist Saskia Schätzig. Aufgrund ihres geringen Alters, der mangelnden Erfahrung und ihrer offenbar instabilen Persönlichkeit schlage ich vor, ihr die Splitter für die Tore erst nach einer Bewährungsprobe von einem Jahr auszuhändigen. Weiterhin werden die Wächter, die Leyla Aydin unterstellt waren, bis zu diesem Zeitpunkt von mir ihre Befehle erhalten. Auch Saskia Schätzings Kommissura behält bis dahin den Status drei. Sollte sie sich in den nächsten zwölf Monaten als würdiges Mitglied erweisen, erhält sie die üblichen Privilegien und kann ihre eigenen Wächter wählen. Gegenstimmen?«
Keines der Ratsmitglieder hebt die Hand, dafür aber protestiert die Betroffene lautstark: »Ey … Mann, ey! Instabile was? Das kannste knicken, ey! Wozu bin ich denn jetzt in diesem Spießerclub gelandet?!«
Lediglich das süffisante Grinsen von Alan Nowak zeugt davon, dass er unserem Neuzugang in gewissem Maße Sympathie entgegenbringt – alle anderen Gesichter sind ausdrucks-, fassungs- oder empathielos.
»Ja, wozu denn? Erzähle es uns doch!«, fordert Danae Karadima sie auf.
Saskia zuckt mit den Schultern.
»Pfff, um was Cooles zu erleben?«, schlägt sie schulterzuckend vor.
»In diesem Fall bist du hier völlig fehl am Platz. Aber es steht dir jederzeit frei, von deinem Posten zurückzutreten«, fordere ich sie kalt auf.
»Pfff, das könnte euch Spießern so passen! Wie ich das sehe, benötigt ihr dringend jemanden, der den Laden mal so richtig aufmischt!«
Mir ist klar, dass weitere Diskussionen zu nichts führen und nur unnötig Zeit vergeuden, daher beschließe ich, jegliche Kommentare dieser aufmüpfigen Femia-Soa zu ignorieren und sie kurzerhand des Saales zu verweisen, sollte sie die kritische Grenze überschreiten – und auf dieser tänzelt sie im Augenblick permanent mit einem Bein über dem Abgrund.
»Mindestens ein unregistrierter Umbro treibt noch immer sein Unwesen. Ich schlage vor, die Bewachung von Maja Andersson zu verstärken, da sie aus bislang unbekannten Gründen häufig zum Ziel der Abtrünnigen geworden ist und sich noch immer beobachtet fühlt. Gegenstimmen?«
Niemand meldet sich.
»Wer könnte einen seiner Wächter zur Verfügung stellen?«
Wieder bleiben alle Hände unten, doch gleich darauf bricht eine wilde Diskussion aus, welche Aufgabe welches Wächters eventuell entbehrt werden könnte.
»Ruhe! Es wird nur gesprochen, wenn ich jemanden dazu auffordere!«, rufe ich die Magier zur Ordnung. »Da offenbar keiner Kapazitäten zur Verfügung stellen will, werde ich selbst einen meiner Wächter dazu abkommandieren, denn diese Aufgabe ist von höchster Priorität!«
»Wieso denn überhaupt? Lasst sie doch einfach in Ruhe! Was können diese Abtrünnigen schon groß anrichten?«, plappert Saskia dazwischen, wobei sie dem Wort ›Abtrünnigen‹ eine ironische Betonung zukommen lässt. Doch ich habe jetzt keine Nerven dazu, ihr essenzielles Hintergrundwissen zu vermitteln.
»Gibt es Neuigkeiten zu diesem Fall?«, frage ich in die Runde.
Sebeb Semura und Nikolaj Smirnow heben synchron die Hände. Die dunkelhäutige Magierin beteiligt sich eher selten an Gesprächen und es überrascht mich, dass sie sich nun meldet.
»Sebeb! Was habt Ihr zu berichten?«
Sie holt eine Zeitung aus ihrer Ledertasche und schiebt mir eine Seite davon über den Tisch. Mein Blick fällt sofort auf einen Artikel mit dem Titel: »WER IST DER MANN, DER HESSENS FRAUEN REIHENWEISE DAS HERZ BRICHT?«
Ich lese für alle laut vor, was dort geschrieben steht.
»Dabei könnte es sich in der Tat um das Werk eines der gesuchten Umbro handeln. Wobei wir nicht wissen, welche der Vorkommnisse den Umbro zuzuordnen sind, die sich bereits auf Inferior befinden, und welche dem noch flüchtigen. Weiterhin bleibt zu hoffen, dass das Problem lediglich in Hessen besteht.«
Jetzt schiebt mir Sebeb einen Zettel zu, auf den sie kleine ausgeschnittene Anzeigen geklebt hat. Jede Anzeige ist mit einem Datum versehen. Bei genauerer Betrachtung bemerke ich, dass allesamt von Frauen aufgegeben wurden, die nach einem dunkelhaarigen Mann mit braunen Augen suchen. Manche schwärmen darin von wundervollen Liebesnächten, andere sind erbost über das plötzliche Verschwinden des Mannes, weitere Texte sind eher neutral gehalten. Die Orte, welche genannt werden, befinden sich alle rund um Frankfurt, den Taunus, Offenbach und Rodgau. Die Anzeigen mit jüngerem Datum betreffen hingegen nur noch den Taunus, insbesondere die Gegend um Niedernhausen – dort, wo jetzt auch Maja wohnt.
In Eppstein lebt doch Inea! Ist das nicht ein Nachbarort von Niedernhausen?, fällt mir siedend heiß ein.
Unwillkürlich drängen sich Bilder in meinen Kopf, wie dieser Umbro sie in Erregung versetzt, wie sich Inea nicht gegen die überwältigenden Gefühle zu wehren vermag und sich von ihm … NEIN! Ich schiebe die Vorstellung vehement beiseite. Auf jeden Fall muss ich sie schnellstmöglich warnen.
Ich reiche das Blatt weiter, sodass auch die anderen Ratsmitglieder einen Blick darauf werfen können, für den Fall, dass einem von ihnen etwas dazu einfällt.
»Danke Sebeb, diese Artikel zeigen, dass der Umbro vor allem im Taunus, insbesondere um Niedernhausen herum sein Unwesen treibt. Daher sollten wir diese Gegend besonders im Auge behalten.«
Maja, die jetzt einen Blick auf die Anzeigen wirft, murmelt kaum hörbar: »Manchmal kann Naivität auch ein Segen sein.«
Niemand scheint ihrem Kommentar Beachtung zu schenken, aber ich kann sie gut verstehen. Diese nicht magischen Frauen ahnen nicht einmal, dass die intensiven Gefühle und die überwältigende Erregung nicht aus ihnen selbst hervorging, sondern nur ein Ergebnis dunkler Magie war. Daher haben sie jetzt lediglich mit dem Liebeskummer zu kämpfen, den der vermeintliche Liebesgott mit seinem Verschwinden hinterlassen hat. Maja hingegen ist sich schmerzlich bewusst, welcher Manipulation sie unterlag. Für sie hatte es nichts mit Lust zu tun, sich mit aller Gewalt gegen die ihr aufgezwungene Erregung zu wehren. Nachdem alle Ratsmitglieder die Artikel überflogen haben, aber niemand etwas dazu anmerkt, fahre ich mit der Befragung fort.
»Nikolaj, was habt Ihr zu berichten?«
»Mylord, einer meiner Wächter konnte einen der gesuchten Umbro ausfindig machen. Bedauerlicherweise ist er ihm entkommen. Es sieht aber so aus, als ob sich der Abtrünnige getarnt als Handwerker Zutritt zu den Wohnungen alleinstehender Frauen verschafft und auf diese Weise unter anderem zu Kost und Logis kommt. Ob dahinter auch ein Machtgedanke steht, lässt sich nicht ausschließen, aber es wäre ebenso denkbar, dass der junge Umbro noch unwissend ist bezüglich der Möglichkeiten, die er gemeinsam mit seinen männlichen Nachkommen hätte.«
Dem stimme ich zu.
»Insofern muss ich Euch beipflichten, dass die Vorgehensweise der Abtrünnigen nicht besonders zielgerichtet erscheint. Die Handlungen wirken eher chaotisch und eher auf schnelles, unverbindliches Vergnügen ausgerichtet, als auf nachhaltigen Machtgewinn. Dabei kann es sich aber auch um ein geschicktes Täuschungsmanöver handeln. Außerdem macht das Untertauchen in wechselnden privaten Wohnungen den Täter schwer lokalisierbar für uns.«
»Mylord, diese Gefahr muss umgehend bekämpft werden! In zwei Tagen wird Karkow seine Aufgabe in Atlatica beendet haben, dann werde ich ihn mit der Suche nach den Abtrünnigen beauftragen«, erklärt sich Smirnow jetzt doch bereit.
»Danke, Nikolaj! Gibt es sonst noch Neuigkeiten zu diesem Thema?«
Niemand meldet sich und so gehe ich zum nächsten Tagesordnungspunkt über, der mal wieder die mangelnde Infrastruktur auf Atlatica betrifft.
»Kannst du denn tatsächlich Wächter erübrigen für das Aufspüren des Umbro oder wolltest du nur mit gutem Beispiel vorangehen?«, will Markus wissen, als wir nach Sitzungsende zusammen zu meiner Burg zurückkehren.
Die Frage ist berechtigt, denn von den 103 noch lebenden registrierten Magiern befinden sich vierzehn auf Inferior, zwölf sind im Rat vertreten und unter den verbleibenden 77 Magiern hat knapp die Hälfte den Wächter-Status. Unter der anderen Hälfte befinden sich zwölf Kinder und einige Heiler, die mit ihren eigenen Aufgaben völlig ausgelastet sind. Ratsmitglieder suchen sich ihre Wächter selbst aus und meist ist es so, dass diese Magier der gleichen Magieform sind. Liliana als meine Wächterin gehört dabei zu den wenigen Ausnahmen. Jedem Ratsmitglied unterstehen zwischen zwei und fünf Wächter, in meinem Fall sind es sechs. Zwei davon sind auf Atlatica mit Aufgaben betraut, Liliana kümmert sich um Inea und die drei restlichen Wächter arbeiten als Kriminalbeamte, einer davon in Hamburg. Die drei Wächter, die ich statt Saskia von Leyla übernommen habe, haben wichtige Kontrollfunktionen an zentralen Punkten Atlaticas, die dort ebenfalls unentbehrlich sind.
»Nein, ich kann keinen meiner Wächter dafür abziehen, aber ich werde den Umbro selbst aufspüren«, antworte ich auf Markus’ Frage.
Er grinst extrabreit, als habe er meinen Hintergedanken erraten – heimlich lauschen konnte er nicht, denn während der Ratssitzungen achte ich immer sehr darauf, mich abzuschotten. Dabei geht es mir nicht nur um Majas Wohl und das Abwenden einer unkalkulierbaren Gefahr. Ich muss mir eingestehen, dass ich es kaum ertrage, dass sich dieser Kerl in der gleichen Umgebung wie Inea herumtreibt. Das will ich aber vor Markus nicht zugeben.
»Die kleine Saskia setzt dir ganz schön zu, was?«
Ich schnaube verächtlich.
»Dass ich mich nun auch noch mit so etwas herumschlagen muss, während in unseren Reihen ein Verräter nur darauf wartet, mir in den Rücken zu fallen, und dieser unregistrierte Umbro ungehindert sein Unwesen treibt … Das grenzt an Folter.«
»Vielleicht ist es besser, du schenkst der Kleinen einfach keine Beachtung.«
»Sicher, aber wenn ich durch ihre Respektlosigkeit im Rat an Autorität verliere, kann ich ihr das unmöglich durchgehen lassen.«
»Klar, das verstehe ich, und glaub mir, in deiner Haut möchte ich keine Sekunde lang stecken.«
Sein Verständnis tut mir gut und einmal mehr schätze ich mich glücklich, einen vertrauenswürdigen Magier wie ihn meinen Freund nennen zu dürfen. Wir befinden uns in dem kleinen Raum, der das Tor zum Messeturm birgt. Kurz darauf fahren wir mit dem Aufzug in die Höhe.
»Willst du wieder in dem Hotel in Eppstein übernachten?«, fragt Markus.
»Ja, aber zuerst besorge ich mir ein Auto – dann musst du mich nicht fortwährend durch die Gegend kutschieren.«
»Oh, tatsächlich?! Ich bin nicht mehr dein Chauffeur?«, hakt Markus ungläubig nach.
»Nur noch bis zum nächsten Autohaus«, antworte ich.
Wir müssen dieses Mal ein Stück weit gehen, um Markusʼ Sportwagen zu erreichen, weil er in der Nähe des Messeturms keinen Parkplatz gefunden hat.
»Ein Smartphone wäre auch recht hilfreich, dann könntest du sogar mit deiner Inea telefonieren, SMS schreiben oder ihr Fotos deines Mittagessens über WhatsApp schicken«, fällt Markus ein.
Dabei springt mir der Schalk aus seinem Gesicht förmlich entgegen. Auf diese Art mit Inea in Kontakt zu bleiben, hat tatsächlich etwas Verlockendes, doch mit dieser neumodischen Technik kann ich mich nicht recht anfreunden.
»Nein«, erwidere ich daher ohne weitere Erklärung.
»War ja nur ein Vorschlag. Dann muss ich wohl im Hotel für dich anrufen, um nach einem Zimmer zu fragen. Auch für solche Dinge ist ein Mobiltelefon übrigens äußerst praktisch.«
Ich schnaube abfällig.
»Als nächstes schlägst du mir sicherlich vor, mich mit Hay Day zu entspannen und meine Energie für das Beladen virtueller Schiffe zu vergeuden.«
»Sollte ich es jemals fertig bringen, dich dazu zu bewegen, gelobe ich einjährige Abstinenz.«
»Du meinst, dann verzichtest du auf Gemüse?«
Es kommt selten genug vor, aber manchmal lasse ich mich von den Kabbeleien meines Freundes doch anstecken, sodass ich sogar zurückschlage.
»Nein, ich meinte das eigentlich bezogen auf die Fleischeslust. Aber für den unwahrscheinlichen Fall, dass du das Spiel jetzt nur ausprobierst, um mich zu ärgern, ändere ich mein Versprechen sicherheitshalber ab auf den Verzicht von Süßigkeiten.«
Endlich haben wir Markus’ Auto erreicht. Als ich auf dem Beifahrersitz Platz nehmen will, fällt mir ein quadratisches Tütchen ins Auge, das den Sitz belegt. Ich halte es meinem Freund unter die Nase, nachdem ich mich niedergelassen habe.
»Oh, das Kondom darfst du behalten! Man kann ja nie wissen, wann man mal in Verlegenheit kommt, nicht wahr, Tori? Leider hatte sich in meine Hosentasche ein fieses Loch geschlichen und jetzt liegen die Dinger überall verstreut herum.«
Das zu kommentieren ist unter meiner Würde. Stattdessen verstaue ich das Latex-Verhütungsmittel im Handschuhfach.
»Wofür benötigst du so etwas überhaupt? Durch die Kommissura bist du doch ohnehin unfruchtbar und die üblichen Infektionskrankheiten können Umbro nicht bekommen«, interessiere ich mich dann doch.
»Stimmt, aber wie soll ich das den Nimag-Frauen erklären? Die halten mich ohne Verhütung doch für
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 12.05.2020
ISBN: 978-3-7487-4054-4
Alle Rechte vorbehalten