NACHT DER LICHTER
Leiser Strom
Isabella Mey
Trilogie, Band I
Da die Nacht-der-Lichter-Reihe häufig in die Kritik gerät, möchte ich hier noch ein paar Worte vorneweg klarstellen. Von einer Leserin wurde mir vorgeworfen, ich würde im Buch offen dazu aufrufen, sich gegen die C-Maßnahmen zu wenden. Davon möchte ich mich ganz klar distanzieren. Es liegt mir völlig fern, irgendjemanden zu irgendetwas aufzurufen, denn ich bin der Auffassung, dass jeder denken und handeln soll, wie er es selbst für richtig hält und es liegt mir fern, mich dabei in irgendeiner Weise einzumischen. Wie meine Protagonisten in meinen Büchern handeln, ist ganz alleine ihre eigene Sache, außerdem sind meine Romane als reine Fiktion zu verstehen. Wenn Handlungen und Aussagen der Figuren positive Denkanstöße geben, in der Form, dass man selbst für sich überprüfen möchte, ob verschiedene Sachverhalte stimmen könnten, freut mich das. Wenn man alles ablehnt, ist es genauso in Ordnung.
In der echten Wissenschaft werden logische Theorien erstellt, die so lange als wahr gelten, bis sie widerlegt werden. Demnach ist es nie verkehrt, vom allgemeinen Schema abweichende Theorien aufzustellen, denn nur so kann man Neues erkennen und herausfinden oder Fehler in herkömmlichen Theorien aufdecken. Die großen Erkenntnisse wurden ja nicht gemacht, indem man nur das herunterbetete, was eh schon überall propagiert wurde, sondern durch Menschen, die weiter und anders gedacht haben.
An dieser Stelle möchte ich ein Beispiel des Chemikers Andreas Noack aufführen: Wissenschaftler Anton stellt die Theorie auf, dass alle Schwäne weiß sind. Nun besucht er Seen und Flüsse in der Umgebung und findet die Bestätigung seiner Theorie, weil nur weiße Schwäne dort herumschwimmen. Das ist in etwa die Art, wie Wissenschaft heutzutage überwiegend praktiziert wird.
Wissenschaftler Bert stellt dieselbe Theorie auf, doch nun versucht er umgehend, seine eigene Theorie zu widerlegen. Das bedeutet, er sucht nach schwarzen oder brauen Schwänen. Mit ein bisschen Recherche wird er auch bald fündig. Er fliegt nach Kanada und findet dort jede Menge schwarzer Schwäne, womit seine Theorie widerlegt ist. Allerdings ist er Wahrheit dabei ein gutes Stück nähergekommen und kann daraus eine neue Theorie ableiten, die er dann abermals versucht, zu widerlegen. Das ist die Art, wie Wissenschaft eigentlich praktiziert werden sollte.
Ich selbst kann es überhaupt nicht leiden, wenn ich das Gefühl habe, in eine bestimmte Richtung missioniert zu werden, schon alleine deshalb möchte ich nicht, dass meine Bücher diesen Anschein erwecken. Natürlich lässt sich nicht vermeiden, dass meine Sicht der Dinge mit einfließt, das ist schließlich bei jedem Autor so und ich werde mich auch nicht verbiegen, um mainstreamkonforme Sichtweisen zu propagieren. Aber wenn ihr die Sichtweisen meiner Helden einfach als das anseht, was sie schlussendlich auch sind, nämlich simple Theorien, die, wie es in der Wissenschaft sein sollte, nur darauf warten, widerlegt zu werden, sollte hoffentlich niemand Probleme damit haben.
Liebe Grüße und genießt den Schatz des Lebens
Isabella
Hätte mir damals jemand erzählt, was alles passieren wird, ich hätte ihn für verrückt verklärt. Immerhin habe ich heute eine Ahnung davon, was in mir schlummert und was ich wirklich bin, dennoch fordert es mich noch immer heraus, diese Mächte zu bändigen und zu beherrschen. Zudem quält es mich, dass ich mit niemandem darüber reden kann.
War ich damals von Angst und Unsicherheit erfüllt, habe ich heute an Stärke gewonnen, auch wenn die Welt für mich nicht sicherer geworden ist, nur Form und Ursache der Angst haben sich gewandelt. Das Schlimmste aber ist, dass ich nicht weiß, wem ich noch trauen kann …
Leisa Blum
Waldstadt
Eine Zeit, in der das Internet bereits in etliche
Privathaushalte Einzug gehalten hat,
Handybesitzer aber eher die Ausnahme sind.
Seit ich denken kann, werde ich von Ängsten geplagt, denn ich bin schüchtern – nicht nur ein bisschen, sondern furchtbar schrecklich schüchtern – so sehr, dass es mir sogar schwerfällt, mich mit meinen Banknachbarn zu unterhalten. Und wann ich mit oder vor mehreren Menschen sprechen soll, fühlt es sich an, als stünde ich nackt auf einer riesengroßen Bühne, während sich die Blicke der Leute in meine Haut brennen. Jedes meiner Worte landet in einer Waagschale, die darüber entscheidet, ob ich angenommen oder ausgepfiffen werde. Dicke Klumpen verstopfen meine Kehle, heißer Schweiß quillt aus allen Poren. Meine körperlichen Reaktionen sind mir peinlich, ich will nicht, dass man meinen puterroten Kopf sieht, doch durch den inneren Kampf verschlimmert sich mein Zustand. Keiner versteht, weshalb ich solche Angst habe zu reden, doch dafür gibt es keine logische Erklärung. Diese Angst ist einfach immer da und lässt sich nicht abstellen. Sie umgibt mich wie ein unsichtbarer Käfig, der nichts von mir nach außen lässt, nichts, was bewertet und abgewertet werden könnte. Am liebsten würde ich einen Unsichtbarkeitszauber beherrschen, doch aus der Aufmerksamkeit meiner Mitmenschen zu verschwinden, funktioniert bisher nur mäßig.
Je mehr Menschen mich umgeben und je weniger vertraut sie mir sind, desto schlimmer erwischt es mich. Dabei ist meine Mutter die einzige Person, mit der ich mich normal unterhalten kann, abgesehen von meiner Handpuppe Bengi und der Ringelnatter Aphrodite, die in unserem Gartenteich lebt.
Ich wohne mit meiner Mutter in einem am Hang gelegenen Reihenmittelhaus mit kleinem Garten. Geschwister habe ich keine und wer mein Vater ist, weiß ich nicht. Mehr als einmal habe ich meine Mutter gelöchert, um etwas über ihn zu erfahren, aber sie macht ein so großes Geheimnis draus, dass ich zwischen kriminellem Zuhälter und prominentem Politiker alles für möglich halte. Dumm kann er jedenfalls nicht sein, denn immerhin bin ich mit einem überdurchschnittlichen IQ ausgestattet, den ich bestimmt nicht von meiner Mutter geerbt habe. Auf meine Noten schlägt sich das allerdings nicht nieder. Schuld trägt die fehlende Mitarbeit, außerdem langweile ich mich im Unterricht häufig, was meine Gedanken nicht selten abschweifen lässt.
* * *
Es ist ein Morgen wie jeder andere, als ich schreiend aus meinem Bett emporfahre. Das schweißnasse Nachthemd klebt auf meiner Haut und jagt einen eisigen Schauer darüber. Meine weit aufgerissenen Augen durchbohren die Finsternis. Der Herzschlag pocht bis in meine Ohren. Ich schließe die Lider und atme langsam ein und aus.
Keine Panik! Es war nur ein dummer Traum!
Ich fühle, wie kühle Atemluft durch meine Lungen strömt.
Warum habe ich immer wieder denselben Alptraum?
An so etwas wie Zukunftsvisionen glaube ich zwar nicht, doch verlief mein bisheriges Leben viel zu langweilig, als dass sich in meiner Vergangenheit spektakuläre oder gar grausame Ereignisse verborgen halten könnten, um sich in solchen Träumen auszudrücken. Sofern man der Psychologie glauben darf, verarbeitet das Unterbewusstsein auf diese Weise längst vergessene Traumata.
Wenn das jedoch ausscheidet, warum träume ich dann diesen Horror jede Nacht?
Mittlerweile bin ich es leid, sinnlose Gedankenschleifen um dieses Thema zu drehen, daher schüttele ich auch heute die Erinnerung an den Traum rasch ab.
Als ich die Augen öffne, starren mich die grün leuchtenden Ziffern meines Radioweckers an – sechs Uhr. Wie jeden Morgen erwache ich exakt um diese Zeit, ohne dass ich dafür einen Wecker benötige – ein kleines Wunder, das ich mir selbst nicht erklären kann, jedoch ein äußerst praktisches.
Das nassgeschwitzte Nachthemd klebt erbärmlich auf meiner Haut, als ich es mühsam über den Kopf zerre. Statt aufzustehen, lasse ich mich ins Bett zurücksinken und kuschele mich in meine Decke. Zehn Minuten Ruhe will ich mir in meiner sicheren Höhle noch gönnen, bevor ich mich in den neuen Tag voller Angst hinauswage.
Ich versinke in einen leichten Dämmerzustand, der ab und zu vom sanften Geräusch unterbrochen wird, das der tropfende Wasserhahn im Bad hervorruft. Als ich wieder auf meinen Wecker blicke, springe ich regelrecht aus dem Bett. Ich muss wieder eingeschlafen sein.
Mist, das waren fünfzehn Minuten! Was ist nur heute mit mir los? Das passiert mir sonst nie.
Von der plötzlichen Anstrengung rast mein Herz und mir wird kurz schwarz vor Augen. Da es eh schon dunkel ist, sehe ich zusätzlich kleine Lichtblitze. Allmählich bessert sich mein Zustand und die Schemen meiner Einrichtung zeichnen sich in der Finsternis ab: Schreibtisch, Kleiderschrank und die mit Büchern vollgestopften Regale.
Auf nackten Sohlen schleiche ich hinaus in den Flur, hinüber ins Bad. Eine Duftwolke des säuerlichen Putzmittels schlägt mir entgegen. Angewidert verziehe ich das Gesicht. Mehr als einmal habe ich mich bei meiner Mutter Tina beklagt, dass ich den Geruch nicht leiden kann, aber sie verteidigt das zweifelhafte Putzmittel, als ginge es um ihre Existenz. Wenn man dieses Thema und die Sache mit meinem Vater mal ausnimmt, kommen wir aber ansonsten ganz gut klar, auch wenn es mir manchmal schwerfällt, den in der Schule zurückgehaltenen Frust nicht an ihr auszulassen. Dafür muss jedoch manchmal mein bedauernswertes Kopfkissen als Bollwerk herhalten.
Ich tapse über die Fliesen geradewegs zum Waschbecken. Dort blickt mir ein schlankes Mädchen mit langen, blonden, leicht gewellten Haaren aus dem Spiegel entgegen. Mit den verschlafenen Augen und den elektrostatisch abstehenden Haaren erinnert sie mich ein bisschen an einen Engel beim Krippenspiel. Auch wirkt sie jünger als 19 Jahre, aus sicherer Quelle weiß ich allerdings, dass dieser Geburtstag bereits zwei Wochen hinter ihr liegt. Dementsprechend belege ich die 13. Klasse des Waldstadter Gymnasiums.
»Guten Morgen, Leisa«, grüße ich mit rauem Flüsterton die junge Frau.
Die Person im Spiegel lächelt freundlich zurück. Ohne mich aus den Augen zu lassen, drehe ich das Wasser auf, doch ich warte vergeblich auf warmes. Der Boiler unterm Waschbecken scheint noch immer defekt zu sein. Ich seufze genervt. Für meine Mutter haben solche Reparaturen einfach keine besonders hohe Priorität. Wäre ich durch meine Schüchternheit nicht so fürchterlich gehemmt, hätte ich schon längst selbst einen Handwerker bestellt. Unser Reihenhaus entstammt dem Nachlass meiner Großeltern und da meine Mutter als alleinerziehende Sekretärin nicht besonders viel verdient, fehlt das nötige Geld für eine Modernisierung. So hat das Haus sichtbar sein Greisenalter erreicht, die Räume werden von elektrischen Nachtspeicherheizungen gewärmt, im Wohnzimmer gibt es zusätzlich einen Kachelofen. Die Sanitäreinrichtungen sind fast schon antik und warmes Wasser gibt es nur über einen extra angebrachten Boiler.
Ich forme mit meinen Händen eine Schüssel, über die das kalte Nass quillt, dann platsche ich es mir ins Gesicht und fühle den erfrischenden Schauer, der mich augenblicklich von meiner morgendlichen Müdigkeit befreit. Ich spüre, wie die kleinen Wassertropfen über meine Haut perlen und beobachte das Hinabtropfen der Flüssigkeit im Spiegel. Dann recke ich die Schultern abwechselnd übers Becken, spüle die Achselhöhlen aus und rubbele mich wieder trocken.
Gedankenverloren schaue ich mir zu, wie ich die Bürste durch meine langen Haare gleiten lasse, als plötzlich ein schrilles Weckerläuten die Stille durchbricht. Aus dem Nebenzimmer vernehme ich ein lautes Gähnen und dann, wie nackte Füße über den Holzboden tapsen.
»Guten Morgen, mein Schatz«, sagt meine Mutter unter Gähnen, wobei sie ins Badezimmer lugt.
Ich wende mich zu ihr um und wir tauschen verschlafene Blicke aus. »Morgen, Tina«, brumme ich.
Seit ich denken kann, gehört meine Mutter zu den Frauen, die vom Nachwuchs lieber beim Vornamen gerufen werden, daher kommt mir das nicht ungewöhnlich vor. ›Mama‹ gerufen zu werden, würde sie alt fühlen lassen, begründet sie es immer. Sie hat mir schon immer viele Freiheiten gelassen, meint es manchmal aber zu gut. Einerseits sagt sie mir, ich wäre ein absolutes Wunschkind, andererseits gehört sie nicht gerade zu den Gluckenmüttern, sondern eher zur Laisse-Faire-Liga. Ich rätsele noch, ob das an ihrem Alleinerziehendenstatus liegt oder daran, dass wir von unserer Art her doch sehr verschieden sind. Meine Noten haben meine Mutter noch nie interessiert, dafür ist sie für jeden Klatsch und Tratsch zu haben und verfolgt alle großen Fernsehshows und Serien, womit ich wiederum nicht viel anfangen kann. Zwar legt sie keinen besonderen Wert auf Ordnung, dafür hat sie einen seltsamen Putzmitteltick. Irgendwie lässt sie sich kaum in ein gängiges Schema einordnen, vielleicht eine Mixtur aus Hippiefrau und Klischeesekretärin der 80er.
Ich lege die Bürste beiseite und kehre in mein Zimmer zurück, um in die zurechtgelegte Kleidung zu schlüpfen. Als ich einen Socken überstreife, kommt der große Zeh durch ein Loch wieder zum Vorschein. Ich wackele mit dem Zeh in der Luft herum. Ein winziges Loch hätte mich nicht weiter gestört, aber dieses Loch ist einfach zu riesig, um es zu ignorieren. Ich ziehe die Socken aus und werfe sie in den Papierkorb unterm Schreibtisch. Als ich in ein frisches Paar schlüpfe, stutze ich, denn auch dieses hat Löcher.
Das gibt’s doch nicht!
Ärgerlich pfeffere ich auch das zweite Paar in den Papierkorb. Doch plötzlich halte ich inne, denn auf einmal erfüllt mich ein ganz merkwürdiges Kribbeln – ähnlich dem Prickeln, das auf der Zunge entsteht, wenn man damit die zwei Pole einer Batterie berührt.
Was ist das?
Gestern hatte ich dieses seltsame Phänomen schon einmal gespürt, dem aber keine große Bedeutung beigemessen. Dass es jetzt schon wieder auftritt, beunruhigt mich.
Ach, wahrscheinlich bin ich nur verspannt oder ich habe mir einen Nerv eingeklemmt, suche ich nach einer Erklärung, die mich aber nicht befriedigen kann.
Ich spanne alle Muskeln an und bewege die Arme wie eine Buddhafigur. Dann schüttele ich meine Gliedmaßen kräftig aus. Tatsächlich verschwindet das Kribbeln so plötzlich, wie es gekommen ist. Erleichtert schiebe ich alle Gedanken daran beiseite. Die frischen Socken, in die ich nun hineinschlüpfe, sind endlich lochfrei.
* * *
Ganz gegen ihre Gewohnheit sitzt meine Mutter heute genauso früh am Frühstückstisch wie ich. Ihre müden Augen blicken mir missmutig entgegen und ihr blonder Lockenkopf benötigt offenbar dringend einen ihrer Arme als Stütze, um nicht auf den Teller zu kippen. Ganz eindeutig bin ich ihre Tochter, denn ihr Gesicht spiegelt das meine in der älteren Version. Der große Nachteil an der Sache ist, dass ich so kaum Anhaltspunkte zum Aussehen meines Vaters habe.
»Ach! Ich bin so müde. Dass wir uns gerade heute dermaßen früh aus dem Bett quälen müssen, ist schon eine Frechheit«, jammert meine Mutter und greift nach ihrem Käsebrot, um lustlos darauf herumzukauen.
»Wieso, was ist denn heute los bei dir im Büro? Habt ihr neuerdings die Frühschicht eingeführt?«, frage ich, während ich mich ihr gegenüber am spärlich gedeckten Frühstückstisch niederlasse.
Früchtemüsli und Milch landen mit so viel Schwung in meiner Schüssel, dass das schwimmende Getreide beinahe überschwappt.
Was ist nur mit mir los? Irgendwas ist anders an diesem Tag.
»Ich geh heute mit den Kollegen auf einen Betriebsausflug und die haben den Bus schon für sieben Uhr bestellt. Kannst du dir das vorstellen, da machen wir einen Ausflug und werden mit Frühaufstehen gequält«, empört sich meine Mutter und holt mich damit aus meinen Gedanken.
Ich kann mich nicht zwischen Kopfschütteln und -nicken entscheiden, stattdessen antworte ich:
»Na, immerhin musst du heute nicht arbeiten.«
Meine Mutter verdreht die Augen, murrt leise und kaut dann weiter an ihrem Brot, während ich mein Müsli löffele.
»Da fällt mir etwas ein, Leisa. Du musst heute selbst einkaufen und Mittagessen kochen. Ich gebe dir gleich noch Geld dafür mit, okay?«
»Ja, klar, mach ich. Wann kommst du denn wieder?«, frage ich und schaufele einen weiteren Löffel Getreideflocken in den Mund.
»Ich weiß noch nicht, mal sehen, wie die Stimmung so ist. Es könnte auch spät werden, heute Abend. Du kommst doch alleine zurecht, oder?«
»Natürlich! Seit wann bist du denn so fürsorglich? Du weißt doch, ab 18 zählt man zur Gruppe der Erwachsenen und ich bin jetzt schon ein Jahr überfällig.«
»Ja, wer wüsste das besser als ich … Aber du bist immer so alleine, unternimm doch mal was oder lade Freunde ein! Dann wird das mit der Schüchternheit sicher auch besser …«
»Das ist doch meine Sache«, wehre ich ab, frage mich aber insgeheim zum gefühlt hundertsten Mal, ob sie nicht sieht oder nicht sehen will, wie schwer das für mich ist.
Andererseits habe ich absolut keine Lust, das Thema Schüchternheit mit nach Hause zu bringen. Immerhin kann ich wenigstens mit meiner Mutter normal sprechen. »Auf jeden Fall wünsche ich dir viel Spaß mit den Kollegen«, setze ich noch hinzu.
»Danke, Leisa. Wie läuftʼs eigentlich bei dir in der Schule?«
Ich blicke verwundert auf, denn derartige Fragen stellt sie so gut wie nie. Allerdings sitzen wir auch selten gemeinsam am Frühstückstisch. Heute ist wohl der Tag der Ausnahmen.
Noch verhaftet in dem Gefühl des Erstaunens, platzt der nächste Satz aus mir heraus, bevor mir einfällt, dass ich davon ja eigentlich gar nicht erzählen wollte:
»Wir haben in Physik und Bio eine Vertretung bekommen. Er arbeitet normalerweise an einem Institut und ist erst 21 …«
Hitze steigt in meine Wangen. Die Augen meiner Mutter weiten sich merklich. Wenn es um Männergeschichten geht, hat sie zur Abwechslung mal ein feines Gespür und die Begeisterung, mit der ich diesen Satz hervorgebracht habe, hat mich eindeutig verraten.
»Aha«, macht sie bedeutungsvoll, während ein Schmunzeln um ihre Mundwinkel spielt. »Und … sieht er gut aus?«
»Hm …ja«, gebe ich zögerlich zu, wobei ich zur Zimmerdecke schiele. Leugnen ist sowieso zwecklos.
»Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen! Du bist also verliebt in einen Lehrer. Warum ist er so jung und was läuft da zwischen euch?«
Ich lasse meinen Löffel geräuschvoll in den verbliebenen Milchsee meiner Schüssel platschen und beschieße meine Mutter mit empörten Blicken. Gleichzeitig glüht mein Kopf allein bei der Vorstellung dessen, was sie gerade gewagt hat, so unverblümt in Worte zu fassen.
»Natürlich gar nichts!«, schimpfe ich aufgebracht »Und nein, er ist kein richtiger Lehrer, er kommt von einem Institut und ist ein sehr guter Freund des Rektors. Nachdem Herr Obermann wegen Rheuma in Kur gegangen ist, hat sich Tim … ich meine, Herr Trawor angeboten, den Unterricht zeitweise zu übernehmen.«
»Ach so!« Meine Mutter nickt übertrieben und grinst dabei so breit, dass mir klar wird, wie wenig ernst sie meine Einwände nimmt. »Und wie ist der neue Ersatzlehrer so?«, fragt sie gespielt unschuldig.
»Mama! Kannst du das mal lassen? Da ist nichts!«, beharre ich genervt.
Wenn ich sauer bin, rutscht mir oft das Mama heraus, was ganz gut passt, weil sie das ja nicht gerne hört.
»Was denn? Ich frage doch nur …«
Sie hebt abwehrend die Hände und zuckt unschuldig mit den Schultern.
»Aber wie du dich benimmst …«, seufze ich. »Also, ja er ist ganz okay und nebenbei der Schwarm aller Schülerinnen. Schon deshalb hätte ich niemals eine Chance«, antworte ich und versuche dabei, den Frust aus meiner Stimme fernzuhalten.
»Was für ein Unsinn, Leisa! Mit dir würde er einen Lottogewinn ziehen und wenn er das nicht kapiert, ist er selbst schuld«, setzt sie sich für mich ein, was mir das Herz ganz weit öffnet. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich Tina schon einmal so habe reden hören. Sicher ist sie keine schlechte Mutter, aber dass sie so viel von mir hält, hätte ich nicht gedacht. Immerhin habe ich oft das Gefühl, dass sie einiges an meiner Andersartigkeit auszusetzen hat. Doch vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet. Jedenfalls ist mir die Lust an diesem Thema gründlich vergangen, daher lasse ich meinen Blick demonstrativ zur Wanduhr schweifen, um die Aufmerksamkeit meiner Mutter auf die voranschreitende Zeit zu lenken. Und prompt erschrickt sie, als sie meinem Blick zur Uhr folgt.
»Oh, nein! So spät ist es schon. Ich muss mich beeilen!«, ruft sie entsetzt, fährt hoch und stürmt in den Flur.
»Kannst du bitte das Geschirr abräumen? Ich bin spät dran«, ruft sie mir hektisch zu.
Auch ich habe nicht mehr viel Zeit, aber das schaffe ich noch, daher bringe ich Teller und Besteck in die Küche und stopfe alles in die Spülmaschine. Unterdessen versucht meine Mutter, ihr Gesicht mit Schminke aufzubessern. Dafür nimmt sie sich immer Zeit, egal wie spät sie dran ist. Ich bin eher zurückhaltend mit Kosmetik, achte vielmehr darauf, dass ich mit meinem äußeren Erscheinungsbild weder negativ noch positiv auffalle.
Kurz nachdem meine Mutter mit einem »Tschüss Leisa!«, zur Tür hinaus verschwindet, betrete ich den Flur, wo ich meine Füße in zwei Sneakers stopfe. Dann schultere ich meine lederne Schultasche und verlasse ebenfalls das Haus. Wir bewohnen das mittlere von neun Reihenhäusern. Ich sehe noch, wie meine Mutter mit ihrem weißen Golf die Straße bergab fährt, dann ist sie verschwunden.
Ich seufze kaum hörbar. Wieder ein neuer Schultag, einer von so vielen, aber seit Timon Trawor unterrichtet, freue ich mich auf die Schule. Er bringt Humor mit und ein besonders Charisma umgibt ihn. Es lässt sich schwer beschreiben, aber da alle Frauen ihm förmlich verfallen sind, bin ich offenbar nicht die einzige, die das so empfindet. Man munkelt, er wäre zudem ein hyperintelligenter Überflieger, der drei Klassen übersprungen hat. Zumindest würde das sein junges Alter erklären. Außerdem munkelt man, er betreibt Parcours-Sport, was sicher diesem gut definierten Körper zugutekommt. Wenn man überhaupt von einer Schwäche bei Timon sprechen kann, dann vielleicht diese ein wenig geheimnisvolle Zurückhaltung, denn bisher habe ich noch nie beobachten können, dass er jemanden näher an sich heranlässt. Ein Umstand, der das Begehren der weiblichen Fraktion ins Unermessliche steigert.
Die Sonne blinzelt am Horizont hervor und frische Morgenluft streicht angenehm über mein Gesicht, als ich der Straße bergab folge. Die Kühle verwandelt meinen Atem in kleine Nebelwölkchen und ich fröstele ein wenig.
Vielleicht hätte ich doch besser eine Jacke überziehen sollen …
Von hier aus kann ich das Tal noch überblicken, in dem sich eine weite Ebene bis zum Horizont erstreckt. In der Morgensonne erstrahlt der Fluss wie ein goldenes Band und bei klarem Wetter arbeiten sich in der Ferne sogar die Gipfel des Gebirges aus dem Dunst heraus.
Ich überlege hin und her, ob ich noch einmal zurück gehen soll, um etwas Wärmeres anzuziehen, doch da ich bereits spät dran bin, entscheide ich mich, lieber schneller zu laufen, um endlich warm zu werden. So eile ich, mit Unterstützung der Schwerkraft, bergab. Ich passiere die Querstraße und nehme den steilen, von Lorbeerhecken gesäumten Fußweg, der zum tiefer gelegenen Einkaufszentrum führt. Fröstelnd reibe ich mir die Oberarme – leider etwas zu heftig. Durch das schnelle Gehen und die unkoordinierten Bewegungen rutscht mir der Riemen meiner Ledertasche von der Schulter. Die Tasche gleitet zwischen meine Beine, schwingt dort gegen die Schenkel, schlingt sich um mein Knie, was mich zum Stolpern bringt. An dieser Stelle beschreibt der Fußweg eine scharfe Kurve und während ich noch ums Gleichgewicht ringe und reflexartig versuche, meine Tasche aus der Gefahrenzone zu zerren, presche ich zwischen zwei kopfhohen Lorbeerhecken hindurch. Zweige peitschen mir entgegen. Einen Meter weiter nimmt mein chaotischer Tanz ein jähes Ende, als ich gegen die Wand des Stromhäuschens pralle. Immerhin kann ich den Zusammenstoß einigermaßen mit den Händen abfangen. Keuchend schließe ich eine Sekunde die Augen, um mich zu sammeln.
Was für ein verrückter Tag. Das kann doch nicht mehr mit rechten Dingen zugehen.
Ich rücke meine Tasche zurecht und wende mich um. Gerade, als ich den Rückweg zwischen den Hecken hindurch antreten will, erspähe ich durch das Laub, wie jemand in den Fußweg einbiegt. Ein prickelnder Adrenalinschauer durchflutet meinen Körper und in meinem Hirn wirbeln rosarote Nebelwölkchen umher.
O Gott, es ist Timon Trawor! Ausgerechnet! Wie könnte es an so einem verhexten Tag auch anders sein … Aber was mache ich denn jetzt? Wie sähe das aus, wenn ich vor ihm aus der Hecke heraustreten würde? Nein, das geht gar nicht. Auf keinen Fall darf er mich im Gebüsch entdecken.
Unwillkürlich ducke ich mich tiefer, wobei sich ein Zweig unangenehm in meinen Nacken bohrt. Mein Herz pocht so laut, dass ich schon fürchte, Timon könnte es im Vorbeigehen hören. Ich komme mir total bescheuert vor in meinem Versteck, aber jetzt ist es zu spät für eine Planänderung. Ich wage kaum zu atmen, während er direkt auf mich zusteuert. Ein Ast knackt.
Oh, nein! War ich das?
Timon schaut in meine Richtung, was mich unwillkürlich zurückweichen lässt. Gleichzeitig bohrt sich ein spitzer Ast schmerzhaft in meinen Hintern. Der plötzliche Stich lässt mich unwillkürlich empor fahren, ein zweiter Ast peitscht mir ins Gesicht. Keuchend schieße ich vorwärts, auf den Fußweg. Dabei schleift meine blöde Tasche auf dem Boden mit, ich stolpere darüber und fliege förmlich auf den Mann zu, vor dem ich mich jetzt am liebsten in Luft aufgelöst hätte. Immerhin reagiert er blitzschnell, indem er mich reflexartig auffängt, bevor mein Kopf Bekanntschaft mit dem Asphalt schließen kann. Beinahe wie ein Paar liegen wir uns in den Armen, meine Tasche zwischen uns eingequetscht. Von der plötzlichen Nähe wird mir schwindelig. Ein warmer Schauer durchflutet meinen Körper. Mir ist heiß und kalt zugleich und ein Meer an Schmetterlingen flattert so wild zwischen Bauch und Hirn hin und her, dass ich keinen klaren Gedanken fassen kann. Die erzwungene Umarmung dauert sicher nicht mal den Bruchteil einer Sekunde an, aber mir kommt es wie eine kleine Ewigkeit vor, bis Timon mich wieder loslässt, einen Schritt zurück tritt und mich verwundert von oben bis unten mustert:
»Leisa? Alles in Ordnung? Was hast du dort in der Hecke gemacht?«, fragt er mit gerunzelter Stirn.
Oh, nein! Wie unendlich peinlich!
Ich spüre, wie mir das heiße Blut in den Kopf schießt. Am liebsten würde ich mich jetzt auf der Stelle in ein winziges Mäuschen verwandeln und mich im nächsten Loch verkriechen.
»Äh, ich äh … Mäuse …«, stammele ich leise, außerstande einen sinnvollen Satz zu formulieren.
Außerdem, was soll das denn für eine bescheuerte Begründung sein? Was wird er jetzt von mir denken?
»Mäuse? Wie soll ich das verstehen? Du hast dich aus Angst vor Mäusen und im Gebüsch versteckt?«, fragt er ungläubig, dennoch zucken seine Mundwinkel leicht nach oben und auch das Funkeln in diesen dunkelgrünen Augen mit den honiggoldenen Sprenkeln darin verrät, dass ihn meine Darbietung köstlich amüsiert.
Auch wenn er mir damit eine mögliche Erklärung liefert, will ich eine Angst vor kleinen Nagern dann doch nicht auf mir sitzen lassen.
»Äh, nein, … hab hier eine verschwinden sehen, bin nur erschrocken und gestolpert«, stammele ich kaum hörbar.
Jetzt hält er mich sicherlich für übergeschnappt oder durchgedreht oder beides.
Timon mustert mich eindringlich, schaut dann aber auf seine Armbanduhr, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen.
»Ist ja nichts passiert. Ich bin spät dran, bis nachher.«
Mit diesen Worten trabt er rasch davon. Ich bleibe einige Minuten wie schockgefroren stehen und setze dann langsam meinen Schulweg fort, während meine Gedanken pausenlos um diese unendlich peinliche Begegnung kreisen. Ich habe ja ohnehin schon mit meiner Schüchternheit zu kämpfen, aber weil ich in Timon zudem bis über beide Ohren verknallt bin, wirkt sie bei ihm um ein Vielfaches ausgeprägter. Und jetzt, nach diesem Vorfall, erscheint es mir wie ein Ding der Unmöglichkeit, ihm je wieder zu begegnen, ohne dass sich mein Körper vor lauter Scham in ein knallrotes, schwitzendes Etwas verwandelt. Aber es hilft alles nichts, da muss ich wohl durch.
Auf dem Schulhof angekommen, bin ich eine von vielen hundert Schülern und Schülerinnen. Keiner beachtet mich, niemand spricht mit mir und das ist gut so, denn so fällt nicht auf, dass ich da bin. Lediglich der Gong der Schulglocke holt mich für eine einzelne Sekunde in die wirkliche Welt zurück. Dann lasse ich mich mit dem Strom der Schüler ins Gebäude schwemmen und wandele geistesabwesend zu meinem Klassenzimmer. Ich lasse mich auf meinen Platz sinken und ziehe mechanisch die Erdkundebücher aus der Tasche. Sonnenstrahlen werfen ein leuchtendes Balkenmuster in den Raum. Ich betrachte die darin tanzenden Staubflöckchen, während in meinem Kopf noch immer die Szenen von heute Morgen ihre Kreise drehen. Erst als ich meinen Namen hinter mir höre, horche ich auf und bekomme mit, wie Christiane und Tiffy über mein Top lästern. Ihre Worte bohren sich wie spitze Dolche in mein ohnehin angeschlagenes Selbstwertgefühl und ich kämpfe mit den Tränen. Aber ich will jetzt auf keinen Fall auch noch losheulen, noch mehr Blöße kann ich mir nicht geben an diesem Tag. Also greife ich nach meinem Stift und tue so, als hätte ich nichts davon mitbekommen. Ich richte meine Konzentration auf das, was die Lehrerin von Vulkanen erzählt und schreibe übereifrig jedes ihrer Worte mit. Die Lästereien hinter mir haben jetzt zwar zu Mario als Objekt übergewechselt, dennoch kämpfe ich noch immer mit meinen unterdrückten Emotionen.
Ich will nicht so empfindlich sein, ich will, dass es mir völlig egal ist, was andere über mich sagen und denken!
Leider nutzt da das Wollen allein überhaupt gar nichts. Als ich wieder völlig aus der allgemeinen Aufmerksamkeit verschwunden bin, verabschiedet sich mein Geist in Träumereien, die sich um den Mann mit den tiefschwarzen Haaren und den goldgrünen Augen drehen, der mein Herz zum Saltos schlagen bringt. Träume, von denen ich weiß, dass sie niemals wahr werden, die meinem Geist aber helfen, für eine Weile der Welt voller Angst zu entfliehen.
Dementsprechend spärlich sind die Erinnerungen an die Erdkunde- und die darauffolgende Deutschstunde. Da ich wie immer Aufmerksamkeit mime und mich gleichzeitig hinter meiner Unauffälligkeit verstecke, merkt zum Glück niemand etwas von meiner geistigen Abwesenheit.
Nachdem ich in der großen Pause ein paar Runden alleine gedreht habe, geselle ich mich unauffällig zu den Schülern meiner Klasse. Das wage ich nur deshalb, weil sie dieses Verhalten von mir schon kennen und es daher nicht weiter auffällt. Wie gewohnt übersehen sie mich, während sie sich rege miteinander unterhalten.
»Das kann sie doch nicht machen«, ruft Jochen aufgebracht.
»Und dass ihr das nicht peinlich ist, kann ich überhaupt nicht verstehen!«, empört sich Laura.
Worum geht es denn überhaupt?, wundere ich mich.
Alle schütteln den Kopf. Da gesellt sich auch Tiffy zur Gruppe – ein Spitzname, der seinen Ursprung in ihrem echten Namen findet: Tanja Pfiffering.
»Von was habt ihr’s denn grad? Wer hat was Peinliches gemacht?«, will sie wissen und auch ich lausche gespannt.
»Die Cleo hat in ihrem Blog was gepostet. Das glaubst du nicht! Ein Liebesgedicht für Timon Trawor!«, platzt Laura heraus und dreht die Augäpfel nach oben.
»Uuups«, macht Tiffy.
Sie verzieht das Gesicht zu einer gequälten Grimasse.
»Ich finde eh, sie biedert sich ihm total peinlich an. Wenn er deshalb Probleme kriegt, kann er sogar von der Schule fliegen«, schnaubt Jochen kopfschüttelnd.
»Ach, kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Das ist ja schließlich nicht seine Schuld und ein richtiger Lehrer ist er auch nicht«, entgegnet Sascha.
»Solange er hier unterrichtet, macht das sicher keinen Unterschied, im Gegenteil«, überlegt Tiffy. »Da suchen sie sich einfach eine andere Aushilfe, wenn es mit ihm Probleme gibt, was echt megaschade wäre. Immerhin ist er der erste Mensch, der Physik so erklären kann, dass man nicht dabei einschläft.«
»Das liegt bei euch Mädels doch eher an den Hormonen als an seinen Erklärungen«, unterstellt Jochen mit einem säuerlichen Grinsen. »Cleo ist schließlich nicht die einzi …«
»Da kommt sie«, zischt Tiffy, was alle abrupt verstummen lässt.
Cleo gesellt sich zu uns und blickt verwundert in die Gesichter ihrer Klassenkameraden – außer in meines, das sie schlichtweg übersieht.
»Is was? Was schaut ihr so komisch?«, blafft sie irritiert.
»Dein Blog!«, antwortet Jochen vielsagend, als würde das schon alles erklären. Mehr als diese zwei Worte sind auch nicht notwendig, denn Cleo versteht seine Anspielung sofort.
»Ach, ihr habt ihn gelesen. Na und? Irgendein Problem damit?«
»Du kannst dich doch nicht in der Öffentlichkeit so an einen Lehrer ranschmeißen! Stell dir vor, er fliegt dafür von der Schule«, empört sich Jochen.
»Wieso, das ist doch nicht seine Schuld. Außerdem bin ich nicht die Einzige, die auf ihn steht. Ihr solltet im Netz mal nach seinem Namen forschen. Da glaubt man, es gäbe nur einen einzigen Mann auf dieser Welt. Und Tiffy, so wie du ihn immer anschmachtest, bist du doch selbst bis über beide Ohren in ihn verknallt.«
Tiffys Wangen erglühen merklich in einem kräftigen Rot.
»Quatsch! Und wenn, dann würde ich es jedenfalls nicht im Internet rumposaunen«, wehrte sie ab.
Zu meiner Schande muss auch ich mir eingestehen, dass es mir nicht besser ergeht, als den meisten anderen weiblichen Wesen an dieser Schule. Mehrfach habe ich das Internet nach Informationen über Timon durchkämmt und mir Fotos von dem Institut angesehen, in dem er normalerweise arbeitet. Bedauerlicherweise habe ich nur ein einziges entdeckt, auf dem er abgebildet ist, zusammen mit den anderen Mitgliedern aus seinem Forscherteam. Leider ist sein Gesicht darauf viel zu klein und unscharf abgebildet und trotzdem kann ich nicht anders, als es mindestens einmal am Tag anzuschmachten und mir dabei schrecklich idiotisch vorzukommen.
Ich stehe wie unsichtbar bei meinen Schulkameraden und bringe wie immer kein Wort heraus. Die anderen beachten mich nicht und mich überkommt wie so oft ein elendes Einsamkeitsgefühl. Daher entferne ich mich von der Gruppe und ziehe mich zurück. Ich mag die Einsamkeit, weil es dort nicht so auffällt, dass ich auch innerlich alleine bin. Ohne andere Menschen kann ich wenigstens die Illusion aufrecht erhalten, alles wäre in Ordnung. Umgeben von Menschen besteht dagegen ständig die Gefahr, mit ihnen in Kontakt treten zu müssen. Alleine bei der Vorstellung stoße ich an die Gitterstäbe meines selbst gebauten Käfigs aus Angst.
Es gibt auf dem Schulhof auf dem Weg zur Turnhalle eine ruhige Ecke am Rande eines Gebüschs. Hier komme ich öfters her, um ungestört zu sein und auch jetzt bin ich hier alleine. Ich lehne mich gegen die Wand und lausche dem entfernten Treiben auf dem Schulhof, als sich drei Jungs aus meinem Jahrgang nähern – absolut keine Sympathieträger, außerdem schauen sie viel zu interessiert in meine Richtung. Wahrscheinlich finden sie es witzig, dass ich alleine in der Ecke herumstehe. Ich weiß nicht so recht, wo ich hinschauen soll. Um möglichst wieder aus ihrer Aufmerksamkeit zu verschwinden, betrachte ich daher scheinbar interessiert eine Gruppe von Bäumen.
»Na, Leisa, heute schon Vögel beobachtet?«, ruft einer der Jungs.
Ich kenne ihn nur zu gut. Werner scheint sich für besonders toll zu halten und ist dafür berüchtigt, über andere herzuziehen. Zum Glück gibt es keine Kurse, die wir gemeinsam belegen. Seine stahlblauen Augen mustern mich penetrant. Die anderen beiden Jungs lachen spöttisch. Den Rothaarigen kenne ich nur vom Sehen und den Namen des Dicken habe ich vergessen.
Warum geht ihr nicht einfach wieder und lasst mich in Ruhe?
Ich habe auch schon beobachtet, wie sie zu dritt andere Schüler mobben. Bisher haben sie mich übersehen und ich bete, dass die drei in mir nicht ein neues Opfer für ihre Boshaftigkeit suchen. Doch sie beginnen, mich zu umzingeln. Werner steht breitbeinig vor mir, der Rothaarige links, der Dicke rechts von ihm.
»Na, wie wär’s mit uns beiden? Wir könnten doch gemeinsam in den Büschen den Vöglein lauschen …«, sagt Werner und seine stahlblauen Augen scheinen mich zu verhöhnen.
Ich stehe nur da, mein Puls rast, Schweiß tritt aus allen Poren. Werners Freunde brechen in grölendes Gelächter aus. Der Dicke fährt mit der Zunge über seine Lippen, das kurze, weiße T-Shirt klebt auf seiner Haut, sodass man die Brustwarzen durchschimmern sieht. Der Rothaarige schlackert mit den dünnen Armen und verfällt in ein unechtes Grinsen.
Panisch versuche ich, mich zwischen dem Rothaarigen und Werner hindurchzudrängen, doch alle drei rücken sofort enger zusammen, versperren mir den Weg. Blitzschnell packt Werner meine Handgelenke, schiebt mich rückwärts und drückt mich gegen die Hauswand der Turnhalle. Es widert mich an, seinen warmen Körper zu spüren, den er gegen mich presst. Ich rieche seinen Schweiß und den Atem von ungeputzten Zähnen und drehe den Kopf zur Seite.
Lass mich in Ruhe!, kreischt es in meinem Inneren, doch meiner Kehle entweicht lediglich ein Keuchen. Ich atme schwer und mein Herz donnert gegen meine Rippen.
»Na komm! Zier dich doch nicht so!«, haucht mir Werner ins Gesicht.
Der Geruch von Gel, das seine blonden kurzen Haare überzieht, verstopft meine Nase. Aus seinem Mund kriecht eine feuchte Zunge auf meine Lippen zu. Unter wilden Bewegungen versuche ich, mich wimmernd aus seinem Griff herauszuwinden, aber seine kräftigen Hände pressen mich unerbittlich gegen die Mauer.
Das unablässige Kichern des Rothaarigen hallt in meinen Ohren. Mir ist übel. Obwohl mein Verstand mir doch dringend nahelegt, dass es jetzt angebracht wäre, um Hilfe zu rufen, kann ich es einfach nicht. Im Gegenteil. Ich schäme mich dermaßen für meine unwürdige Lage, dass ich inständig hoffe, von niemandem auf dem Schulhof beobachtet zu werden. Tränen quellen aus meinen Augen.
»Wehr dich doch nicht so! Sicher hattest du noch keinen Zungenkuss! Stimmt’s?«
Da ich mich noch immer panisch winde, presst er sich jetzt so fest gegen mich, dass beinahe alle Luft aus meinen Lungen entweicht. Dabei zieht er einen Arm so weit nach oben, dass ich auch noch den Rest der Luft herauskeuche.
Dann lässt Werner mein anderes Handgelenk plötzlich los, um stattdessen mein Kinn zu packen und es zu sich hin zu ziehen. Da braut sich tief in meinem Bauch eine Bombe zusammen. Meine Gedanken wirbeln wild umher und werden wie von einem mächtigen Strudel eingesogen. Angst und Scham verwandeln sich in unbändige Wut. Ich halte inne, während in meinem Inneren die Lava brodelt, und starre Werner düster ins Gesicht. Ein fieses Grinsen springt mir entgegen, was das Feuer in meinem Vulkan weiter anheizt.
Als seine feuchte Zunge aus ihrer Höhle gekrochen kommt, gefriert mein zitternder Körper zu Stein und im nächsten Augenblick zerbirst die Bombe in meinem Inneren mit einem schrillen Schrei. Mit ganzer Kraft drehe ich mich blitzschnell und winde mich dabei aus der Umklammerung heraus. Mein plötzlicher Ausbruch und der Schreck lassen Werner rückwärts taumeln. Auch der Dicke und der Rothaarige weichen irritiert zur Seite. Bevor sich meine Peiniger besinnen können, renne ich davon, bis zum Eingang des Schulgebäudes. Und in diesem Augenblick höre ich schon den Gong der Schulglocke. Mein ganzer Körper zittert. Wie in Trance lasse ich mich von den Massen an hereindrängenden Schülern durch die Korridore spülen. Ich muss zuerst zu den Toiletten, um den Ekel abzuwaschen. Dort angekommen rubbele ich kaltes Wasser über alle Stellen, an denen Werner meine Haut berührt hat, aber das widerliche Gefühl lässt sich nicht mit Wasser wegwaschen. Irgendwann gebe ich es auf und schrubbe mich gründlich mit Papiertüchern trocken. Daraufhin begutachte ich mein rotes Gesicht im Spiegel, schließe die Augen und atme tief durch. Nur mit Mühe kann ich die Tränen zurückhalten.
Warum passiert mir das alles?
Am liebsten würde ich die nächste Stunde hier alleine verbringen, aber ich muss zurück in die Klasse. Auf keinen Fall soll jemandem auffallen, dass ich fehle, weil das unangenehme Fragen nach sich ziehen würde.
So verlasse ich die Toiletten, wanke mit zittrigen Knien den Flur entlang. Gerade als die letzten Schüler von den Fluren verschwinden, erreiche ich den Biologiesaal. Meine Tasche habe ich schon vor der Pause hier abgestellt und so lasse ich mich jetzt erschöpft auf meinem Platz sinken – ganz links außen in einer langen Bank, vorletzte von vier Reihen. Noch immer kann ich nicht recht fassen, was gerade geschehen ist. Es kommt mir vor wie ein schlechter Film, nicht aber wie die Realität. Ich schüttele mich angewidert bei der bloßen Erinnerung und kämpfe mit aller Macht die Tränen nieder, die schon wieder hervorzubrechen drohen. In Zukunft werde ich einen riesengroßen Bogen um diesen Werner und seine Freunde machen. Geistesabwesend starre ich das lebensgroße Skelett neben dem Pult an, während ich verzweifelt nach irgendeinem Thema suche, mit dem ich das eben Erlebte verdrängen kann.
Es herrscht das übliche Durcheinander in der Klasse, als der Lehrer den Saal betritt. Mit ihm verändert sich schlagartig die Atmosphäre. Seine Aura erfüllt den ganzen Raum, alle Schüler setzen sich und verstummen.
Oh, nein!
Nach der schrecklichen Begegnung mit Werner habe ich doch tatsächlich vergessen, dass ich heute Morgen Timon in die Arme gestolpert bin. Ich beginne zu schwitzen und heißes Blut strömt in meinen Kopf.
»Guten Morgen!«
Seine tiefe Stimme klingt melodisch wie die eines Sängers. Die meisten Schüler erwidern den Gruß, einige kichern und tuscheln. Timons Blick schweift durch die Klasse, unter anderem zu mir. Bevor mein Kopf noch vor lauter Blutüberschuss explodieren kann, bücke ich mich sicherheitshalber nach meiner Tasche, um das Biologiebuch und die Hefte herauszufischen. Als ich wieder zum Vorschein komme, ziehe ich meinen Haarvorhang so weit zu, dass nur noch eine kleine Lücke frei bleibt. Durch diesen Spalt beobachte ich, wie Timon ein spiralförmiges Gebilde an die Tafel zeichnet. Nachdem er fertig ist, dreht er sich um und fragt:
»Wer kann mir sagen, was das ist?«
Im Biologiesaal herrscht Totenstille. Ich zittere, kenne die Antwort, wage aber wie immer nicht, mich zu melden.
»Leisa?«
Was? Wie?
Die üblichen Angstreaktionen (Herzrasen, Schweißausbrüche, Zittern) stellen sich augenblicklich ein.
Warum gerade ich? Ich will nicht schon wieder rot anlaufen!
Doch es hilft nichts. So sehr ich auch kämpfe, das Blut steigt mir siedend heiß in die Wangen. Ich schlucke heftig und verfluche meinen Lehrer in diesem Augenblick dafür, dass er mich nicht einfach ignorieren kann, wie es die meisten anderen auch tun. Da alle Augen erwartungsvoll auf mir ruhen, und die Sache nur umso peinlicher wird, je länger es andauert, überwinde ich mich schließlich und presse leise, ohne von meinem Heft aufzusehen, hervor:
»Alpha-Doppelhelix.«
Meine Stimme klingt heiser und wie aus einer fernen Welt, aber zumindest Herr Trawor scheint mich verstanden zu haben.
»Richtig, Leisa, das ist die Alpha-Doppelhelix. Wer weiß, wo man sie findet?«
Wieder herrscht Schweigen im Saal.
»Mario!«
»Ähm, am Schneckenhaus?«
Einige Schüler lachen.
»Jochen, hast du eine Idee?«
»Nein, nicht direkt, aber es sieht nach was Chemischen aus, also ist Schneckenhaus sicher falsch.«
»Man! Is’ mir schon klar«, ruft Mario dazwischen. »Das war n’ Scherz! Helix: auf Latein Schnecke: Spirale wie ein Schneckenhaus. Genial, oder? Es darf jetzt gelacht werden, Leute!«
Mario erhebt sich und winkt seinem Publikum mit den Armen, doch das Lachen bleibt aus, stattdessen herrscht Stille. Erst als sich der selbsternannte Klassenclown wieder setzt, lachen einige Schüler, aber wohl eher deshalb, weil sich Mario lächerlich gemacht hat.
»Helix bedeutet Schraube oder Wendel«, ergreift nun wieder Timon das Wort. »Daher trifft es sowohl auf das Haus der Weinbergschnecke zu als auch auf die Form der Doppelhelix. Hat jemand eine Idee, wo sich eine Doppelhelix befinden könnte?«
Schweigen. Sein Blick schweift durch die Klasse und bleibt an mir haften.
Nein!
»Leisa?«
Mir scheint, als würde er durch meine Haare hindurchschauen, direkt in meine Augen. Ich schaffe es einfach nicht, ihm standzuhalten und senke den Blick. Der dicke Kloß in meinem Hals bringt mich in Atemnot.
Was soll das? Warum immer ich? Es gibt doch noch genug andere Schüler. Will er mich quälen?
Liebesgefühle hin oder her, ich bin sauer. Weil mir ja doch nichts anderes übrig bleibt und ich es endlich hinter mich bringen will, räuspere ich mich und murmele schließlich leise:
»DNA.«
»Lauter!«, grölt die Gruppe Jungs hinter mir.
»Frau Professor Leisa, wir verstehen hier hinten nix! Man reiche ihr doch bitte ein Mikrofon«, ruft Mario.
Der Kloß in meinem Hals schwillt zu einem riesigen Teigklumpen an und einmal mehr an diesem Tag wünsche ich mir, in der Erde versinken zu können oder ganz einfach komplett unsichtbar zu werden.
Da erhebt sich plötzlich Cleo von ihrem Platz.
»Herr Trawor! Mir ist auf einmal so schwindelig«, ruft sie in einem Tonfall, der eine drohende Ohnmacht ankündigt.
In meinen Ohren klingt es aber eher nach Schmierentheater, als nach einem ernstzunehmendem Problem. Cleo hält sich schwankend am Tisch fest, schließt die Augen und sackt dann im Zeitlupentempo zusammen, während ein mattes »Aaahhh«, ihrer Kehle entweicht. Wäre Jochen, ihr Banknachbar, nicht aufgesprungen, um sie festzuhalten, wäre sie auf dem weiß-grau marmorierten Linoleumboden gelandet. Mir ist jedoch alleine das Zusehen ihres Auftrittes peinlich. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Timon oder sonst irgendein Schüler Cleo diesen Ohnmachtsanfall tatsächlich abnimmt. Vielleicht hofft sie, unser Lehrer kümmert sich jetzt um sie, oder trägt sie sogar hinaus. Die Besorgnis in seiner Miene hält sich jedoch in Grenzen. Statt Cleo zu übernehmen, sagt er:
»Danke, dass du sie aufgefangen hast, Jochen. Bist du so nett und trägst sie ins Lehrerzimmer?«
Grinsend hebt Jochen Cleo in seine Arme, dann verlässt er gemeinsam mit Timon den Biologiesaal. Kurz darauf kehren die männlichen Beteiligten alleine wieder zurück.
»Es ist nichts Ernstes«, erklärt Jochen der Klasse und Timon fährt mit dem Unterricht fort, indem er bunte Kugeln und Stangen aus einer Kiste herausholt.
»Das hier ist ein Bausatz, um den Eiffelturm nachzubauen«, erklärt er. Als alle jedoch nur dumm dreinschauen, setzt er grinsend hinzu: »Nein, Scherz! Es geht natürlich um die DNA, also die Erbinformation. Freiwillige mit Mut und Geschick dürfen sich zum Zusammenbau melden.«
Bei Ersterem bin ich ja wohl nicht gemeint …
»Ja, Ines, Laura und Leon? Dann kommt doch bitte nach vorne und versucht es. Die anderen können das Bau-Team mit Tipps unterstützen.«
Da ich mich mit der DNA schon auskenne und mir für Tipps die Schüchternheit mal wieder im Weg steht, langweile ich mich und meine Gedanken schweifen ab, schwenken zwischen Werner und Timon hin und her.
Die Doppelstunde Bio legt gerade Halbzeit ein und Timon gönnt uns eine Fünfminutenpause, um unsere Gehirnzellen zu entspannen. Ich nutze die Zeit sinnvoll, indem ich aus dem Fenster schaue. Da der Biologiesaal im Kellergeschoss liegt, gibt es einen Lichthof, dessen gegenüberliegende Steilwand durch gestapelte Betonpflanzkübel gestützt wird. So besteht das einzige Highlight der Aussicht in einem Gewirr an Efeuranken, die sich über die Kübel ergießen.
Plötzlich bemerke ich aus den Augenwinkeln, wie Mario auf mich zusteuert.
Was will der denn von mir?
Vom Klassenclown ins Visier genommen zu werden, kann für einen schüchternen Menschen wie mich nur in einer ausgewachsenen Katastrophe enden, daher halte ich meinen Blick weiter krampfhaft abgewandt, während ich mich kaum merklich an der Fensterfront entlang bewege, fort von Mario.
Doch die Taktik des von-allen-übersehen-werdens bewirkt bei Mario leider allzu oft das Gegenteil. Ihm ist jedes Opfer für seine Späße recht, so bleiben weder Lehrer noch Schüler verschont, die versuchen, sich unsichtbar zu machen.
»Hallo Leisa, meine geile Braut«, flötet er zuckersüß.
Das heiße Blut flutet augenblicklich meine Wangen. Mein verzweifelter Kampf gegen das Erröten verschlimmert mal wieder die Intensität der Farbe in meinem Gesicht. Ich drehe mich um und strafe ihn immerhin mit düsteren Blicken. Doch das nimmt er nicht ernst. Zwei Teenies, die uns beobachten, kichern amüsiert.
Wo kommen die denn plötzlich her?
Mario nähert sich, während ich vor ihm zurückweiche, bis mich die Ecke des Raumes bremst. Er schüttelt grinsend den Kopf über meine Reaktion, rückt mir aber wenigstens nicht weiter auf die Pelle. Kleine Schweißperlen rinnen aus meinen Achselhöhlen. Meine Füße wollen davonlaufen, doch meine Knie zittern, sodass ich nicht wage, den Halt zu verlassen, den mir das Fensterbrett bietet. Dabei ärgere ich mich maßlos, vor allem über mich selbst.
Wo kommt diese verfluchte Angst her? Ich will das sofort abstellen!
»Aber Zuckerschnäuzchen, warum denn so schüchtern? Dabei will ich dir nur einen Heiratsantrag machen. Und wär echt romantisch, wenn wir die Flitterwochen auf der Kartbahn verbringen könnten, findest du nicht?«, feixt Mario selbstgefällig.
Das Gelächter der Teenies auf seinen coolen Spruch fügt mir fast körperliche Pein zu. Mein Herz flattert penetrant gegen meinen Brustkorb. Nervös trete ich von einem Bein auf das andere und hoffe inständig, dass Mario endlich das Interesse an mir verliert.
In diesem Augenblick durchfährt mich ohne Vorwarnung ein heftiges Kribbeln. Wie das Krabbeln und Piken tausender Ameisen breitet es sich in meinem ganzen Körper aus. Jede Arterie und jede Zelle wird von dem prickelnden Meer erfasst. Unwillkürlich krümme ich mich keuchend zusammen.
»Also keine Kartbahn? Wie wär’s dann mit Zoo?«, feixt Mario weiter, der meine Reaktion wahrscheinlich auf seinen Scherz zurückführt.
Jetzt benimmt er sich zudem total affig, indem er sich wie ein Gorilla auf die Brust trommelt und breitbeinig im Kreis herumstolziert. Aber darüber lachen nicht einmal mehr die Teenies.
Ich selbst nehme die Szene ohnehin nur noch schemenhaft aus den Augenwinkeln wahr, denn meine gesamte Aufmerksamkeit gilt dem Kribbeln in meinem Inneren, das seine Intensität weiter steigert und mich schließlich vollständig in Besitz nimmt. Alles andere rückt in weite Ferne. Gekrümmt schlinge ich
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 15.03.2020
ISBN: 978-3-7487-3201-3
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