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Lichtertanz III - Die Magie der Lichtkristalle

 

LICHTERTANZ

 

 

Die Magie der 
Lichtkristalle

 

Isabella Mey

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Band III

 

 

 

 

 

Das Leben und ein Labyrinth haben eines gemeinsam:

Mit jeder Fehlentscheidung erkennen wir klarer den Weg,

der uns am Ende weiterbringt.

 

1 – Ungeplante Ankunft

Leanah

 

Uns war natürlich klar, dass wir betäubt werden, bevor man uns durch das Tor in die andere Welt bringt. Die Gefahr, dass jemand den Ort dieses Zugangs verraten könnte, und sei es auch nur unbeabsichtigt über Gedanken, wäre einfach zu hoch. Aus diesem Grund kennen selbst unter den Mitgliedern des Geheimbundes Gelina nur wenige den Zugang.

Das magische Gas hat es jedoch nicht fertiggebracht, mir vollständig das Bewusstsein zu rauben. Ich befinde mich lediglich im Dämmerzustand, kann mich aber nicht bewegen und auch meine Augen sind geschlossen. Zwar kann ich nicht sehen, wo wir uns befinden, es kommt mir jedoch so vor, als würde ich eine Treppe hinuntergetragen. Dumpfe, undefinierbare Geräusche und fremde Stimmen scheinen von sehr weit herzukommen. Ich werde auf einen harten Steinboden gelegt. Neben mir fühle ich den warmen Körper eines weiteren Menschen, aber ich bin zu sehr weggetreten, um mir Gedanken darüber zu machen, wer das sein könnte.

Plötzlich falle ich ins bodenlose Nirgendwo. Es ist, als ob mich ein Strudel in den Ablauf eines Mugok-Beckens hineinsaugt, ich durch ein langes Rohr geschleudert werde, ohne die Möglichkeit, mich dagegen zu wehren. Ein tonloser Schrei entweicht meiner Kehle, bevor die Horrorfahrt damit endet, dass ich das Bewusstsein verliere.

 

* * *

 

Ich weiß sofort, dass etwas nicht stimmt, als ich die Augen öffne. Nicht nur, dass der seidig schwarze Stoff noch immer mein Gesicht bedeckt, auch fühle ich einen schneidenden Schmerz um meine Handgelenke. Als ich versuche, sie zu bewegen, merke ich, wie Seile meine Haut wund schaben. Die Hände vorne zusammengeschnürt, liege ich fröstelnd mit dem Rücken auf hartem Boden. Meine Kehle fühlt sich staubtrocken an. Beim Versuch, nach Silas zu rufen, muss ich husten. Die gefesselten Handgelenke schmerzen genauso wie meine Knochen auf dem harten Boden.

Wo bin ich? Was um Omatans Willen ist geschehen? Hier muss etwas gewaltig schiefgelaufen sein.

»Die Frau ist aufgewacht!«, höre ich eine weibliche Stimme und zucke dabei erschrocken zusammen, denn bis gerade eben war es so still, dass ich dachte, ich wäre alleine.

Ich spüre einen Luftzug und die unmittelbare Nähe einer Person.

»Dann stopf ihr schnell den Knebel in den Mund, bevor sie schreit!«, höre ich eine männliche Stimme antworten.

Wie automatisch setze ich zu einem Protestschrei an, der jedoch abrupt von einem weichen Etwas gedämpft wird, das mir jemand blitzschnell unter dem schwarzen Tuch hindurch in den geöffneten Mund stopft. Bevor ich noch einen Gedanken an Gegenwehr hegen kann, wird beinahe zeitgleich etwas um meinen Kopf gebunden, um den Knebel zu fixieren – keine Ahnung, wie das so schnell möglich war.

Na toll! Die Kiefer aufeinanderzupressen wäre sicher die intelligentere Maßnahme gewesen.

Ich winde mich röchelnd auf dem Boden, habe das Gefühl, keine Luft zu bekommen, was schier unerträglich ist. Ein Anflug von Panik verzerrt meine Sinne.

»Muss das denn wirklich sein?«, fragt die Frau.

Ich spüre eine Spur von Mitgefühl in ihrer Stimme. Es könnte aber auch sein, dass die Angst und das Donnern im Kopf meine Wahrnehmung verzerren. Ich winde mich wie ein gestrandeter Wurm. In der Schwärze des Tuches beginnen leuchtende Punkte vor meinen Augen zu tanzen und mein Hirn fühlt sich an wie Suppe im Topf, in der jemand immer schneller herumrührt. Der Druck auf meine Brust wird schier unerträglich, was meine Panik weiter steigert. Ich stöhne in den Knebel. Mir ist klar, dass das so nicht weitergehen kann und ich unbedingt ruhiger werden muss.

Reiß dich zusammen, Leanah, ermahne ich mich eindringlich und hoffe inständig, dass meine Autorität ausreicht, um mir Gehör zu schenken.

Immerhin zwinge ich mich jetzt entgegen aller Angst und Atemnot, ruhig liegenzubleiben und bedächtig durch die Nase ein- und auszuatmen, was sich jedoch wie das geräuschvolle Schnauben eines Pferdes anhört.

»Wenn sie schreit und uns verrät, sind wir geliefert«, entgegnet er.

»Aber irgendwann müssen wir sowieso mit ihr sprechen. Sonst werden wir nie herausfinden, was das alles zu bedeuten hat«, erwidert die Frau.

»Lass uns wenigstens abwarten, bis M da ist. Er kann das doch auch so aus ihr herausbekommen.«

Wie? Ohne mit mir zu reden?

»Wo bleibt er nur so lange?«, fragt der Mann nervös.

Ich höre Schritte auf dem Holzboden.

Also kommt noch ein dritter Mann? Wahrscheinlich nennen sie ihn M, damit ich keine Namen weiß. Oder heißt er wirklich so?

»Bei der Menge an Unocks, die inzwischen die Straßen patrouillieren, ist es doch kein Wunder, dass er doppelt so lange braucht für den Weg.«

Unocks? Was soll das denn sein? Wo bin ich nur hingeraten und was ist mit Silas und seinen Eltern geschehen?

Die Ungewissheit macht mich wahnsinnig. Ich winde meine Hände in den Fesseln, halte jedoch inne, als ich neben den stechenden Schmerzen fühle, wie Feuchtigkeit über meine Gelenke herabrinnt. Gequält drehe ich die Augäpfel nach oben.

Jemand klopft irgendwo. Vermutlich an einer Tür. Es folgen eilige Schritte und ein sanftes Quietschen von Scharnieren.

»Da bist du ja endlich. Lief alles glatt? Hat dich jemand gesehen?«, fragt die Frau leise, während die Tür wieder geschlossen wird.

Ich lausche angespannt.

»Oh Shit, die hätten mich beinahe eingesackt. Die ollen Amulette wirken nicht mehr richtig. Keinen Schimmer, woran das liegt, vielleicht sind die Unocks auch einfach fitter geworden. Was gibt’s denn so Dringendes?«

Unocks? Schon wieder dieses komische Wort! Und wie seltsam dieser Mann redet …

»Hier schau! Die kamen durchs Tor!«

Plötzlich herrscht Totenstille, während mir das Wörtchen die im Ohr hängen bleibt.

Also bin ich doch nicht allein? Liegen Silas und seine Eltern auch irgendwo hier herum?

Diese Erkenntnis erleichtert mich sogleich, auch wenn sie mir wohl gerade kaum eine Hilfe sein können. Da ich keine Geräusche von den dreien hören kann, nehme ich an, dass sie noch immer bewusstlos sind.

»Durch das Tor! Das ist aber doch absolut unmöglich!«, ruft M ungläubig.

»Offensichtlich nicht, obwohl wir versucht haben, es zu aktivieren, jedoch ohne Erfolg. Aber vielleicht gibt es noch einen weiteren Zugang, den wir nicht kennen und der nur von drüben aktiviert werden kann«, überlegt der andere Mann.

»Können sie nicht auf einem anderen Weg hereingekommen sein?«

»Nein. Ich war doch zufällig im Keller, als es passierte. Ein helles Licht strahlte unter der Tür hervor, begleitet von viel zu lautem Getöse und als ich nachgeschaut habe, lagen sie da auf dem Boden. Bewusstlos!«, erklärt die Frau.

Also die Frau hat uns gefunden? Aber warum? Hat man uns auf der anderen Seite des Tors nicht erwartet? Wer sind denn diese Leute hier?

Das alles ergibt keinen Sinn.

»Dort konnten sie natürlich nicht bleiben, daher haben wir sie in unseren Keller geschleift«, ergänzt der Mann.

»Voll krass! Und sprechen die überhaupt unsere Sprache?«

»Das wissen wir nicht. Ben… äh… wollte, dass wir sie knebeln, damit sie uns nicht verrät«, antwortet die Frau mit leichtem Vorwurf in der Stimme.

»Dann lass sie uns endlich verhören. Hol doch mal einen Eimer kaltes Wasser, Ben…«

»Scht! Die Frau ist wach und lauscht!«, zischt der Mann.

»Ey, hättest du mir das nicht vorher verklickern können?«, schnaubt M.

»Ich dachte, du kannst ihre Gedanken hören …«

Oh, nein! Er kann Gedanken lesen!, denke ich bestürzt.

»Hab ich nicht drauf geachtet, aber jetzt wo duʼs sagst …«

Oh je, … Schafe scheren, Schafe scheren, wie es Silas wohl geht? Verflixt. Schafe scheren.

»Und jetzt weiß sie leider auch noch über meine Fähigkeiten Bescheid«, fügt M säuerlich hinzu. »Denkt ans Schafscheren! Total daneben! Ist sie denn hübsch? Würdʼ mich ja mal interessieren, wie die Süße aussieht unter dem Tuch …«

Ich keuche in den Knebel hinein. Mir ist, als ob sich jemand neben mich kniet.

»Für so was haben wir jetzt keine Zeit. Kannst du hören, was sie denkt?«

Nehmt mir endlich den blöden Knebel und die Fesseln ab, sonst bekommt ihr gar nichts aus mir heraus!, protestiere ich so eindrücklich, wie man nur denken kann und schnaube dabei durch die Nase, wobei sich unangenehm viel Feuchtigkeit in den Luftstrom mischt.

Du bist nicht in der Position, Forderungen zu stellen, Schneckchen!, antwortet M prompt in Gedanken.

Tatsächlich frage ich mich in diesem Moment, woher ich die Energie nehme, mich so zu widersetzen. Und dann weiß ich es auch schon: Ich habʼ eine Femmock Wut im Bauch.

Was fällt diesen Leuten ein, uns zu fesseln und zu knebeln? Und dieser komische M mit seiner noch seltsameren Aussprache bringt mich beinahe zur Weißglut, reißt blöde Sprüche, während ich kaum Luft bekomme, nicht weiß, wo ich gelandet bin oder was das Ganze überhaupt soll!

»Die Schnecke scheint selbst recht ahnungslos zu sein«, kommentiert M an seine Freunde gewandt.

Oh, nein! Habe ich all meine Gefühle gerade in Gedanken verpackt? SCHAFE SCHEREN! M scheren! M scheren!

»Nur nicht so frech, Mädchen!«, antwortet M herausfordernd.

Dabei stülpt er das Tuch für einen kurzen Moment zurück, und im Bruchteil eines Zykeltecs blicke ich in ein bekanntes Gesicht.

Tillem?!

M keucht erschrocken auf, während der andere Mann entsetzt ruft: »Bist du verrückt? Jetzt hat sie dich gesehen!«

Schweigen.

Warum ist es denn plötzlich so still?

»Markus, alles in Ordnung?«, fragt die Frau besorgt.

»Oh, entschuldige…«

Sie hat versehentlich seinen Namen ausgeplaudert und in meinem Kopf beginnt es nun wild zu rotieren.

Dieser Mann sieht aus wie Tillem, dessen kleiner Sohn Markus heißt. Aber als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war Markus ein Baby! Wie kann er so schnell groß geworden sein?

»Ach, ich denke, jetzt ist auch schon alles egal«, seufzt die Frau resigniert. »Aber was ist? Weshalb schaust du so komisch, Markus?«

»Sie kennt mich und auch meinen Vater, aber ich habe nicht den blassesten Schimmer, wer sie sein könnte …«, antwortet er schließlich.

»Dann sollten wir ihr endlich den Knebel abnehmen und uns ganz normal unterhalten. Das ist doch so kein Zustand und wo sie dich nun ohnehin schon gesehen hat …«

»Na gut, wenn sie uns dumm kommt, lösche ich einfach ihre Erinnerungen«, willigt Markus ein. »Aber wehe du schreist, das würdest du bitter bereuen!«, sagt er in meine Richtung und befreit mich dann von dem dunklen Tuch.

»Das ist übrigens magisch übergestülpt worden, wie es früher üblich war bei Gelina«, bemerkt die Frau.

»Strange, das alles …«, murmelt Markus.

Während ich mit den Augen meine Umgebung begutachte, entfernt Markus den Knebel und hilft mir aufzustehen. Ich huste und schlucke mehrfach, um das taube Gefühl in meinem Mund loszuwerden.

Doch endlich kann ich etwas sehen! Als erstes schnellt mein Blick zu Silas, der bewegungslos am Boden liegt, das schwarze Tuch noch immer über dem Kopf. Aber der Rest sieht noch genauso aus wie vor unserem Aufbruch. Es versetzt mir einen Stich, ihn so daliegen zu sehen und es drängt mich zu ihm, doch Markus hält mich eisern am Arm fest. Von Richard und Irene ist jedoch nichts zu sehen.

Sind sie etwa nicht mit hergekommen?

»Ihr wart noch mehr Personen?«, fragt mein Wärter streng.

»Ja, ist sonst niemand hier?«, bringe ich mit belegter Stimme hervor.

Aber die Antwort bleibt aus, stattdessen führt mich Markus zu einer Kiste, auf die ich mich setzen kann. Dann legt er eine Hand – eigentlich müsste man sie schon als Pranke bezeichnen – auf meine Schulter, eine Geste, die sich deutlich mehr nach Gefangenensicherung als nach Freundschaft anfühlt. Auch meine Handfesseln bleiben unangetastet. Ich sehe mich weiter im Raum um:

Hoch liegende, kleine, vergitterte Fenster und eine kahle graue Wand deuten auf ein Kellerverlies hin – allerdings ein ziemlich vollgestelltes. Zwei Regale, eine abgewetzte, gepolsterte Bank mit Rückenlehne, auf der die Frau und der Mann Platz genommen haben, ein Standspiegel, allerlei undefinierbares Gerümpel sowie mehrere Kisten stehen hier herum. Alles, von den Wänden bis zu den Möbeln, wirkt von der Machart anders als ich es kenne. Auch Markus, den ich zunächst für Tillem gehalten habe, sieht seinem Vater bei genauerer Betrachtung doch nicht mehr so ähnlich. Er ist kräftig gebaut, wobei es sich mehr um Fettpolster als um Muskeln handeln dürfte, trägt eine schwarze, ärmellose Weste und eine eng anliegende, ebenfalls schwarze, leicht glänzende Hose. Die blassen Arme zieren bunte Bilder – Bratmans Kunst, so nennen wir auf Atlatica die Hautbilder von erlegten Tieren, die sich die Monsterjäger in die Haut stechen lassen. Um den Hals trägt er eine silberne Kette. Das schelmische Grinsen, das er mir jetzt zuwirft, erinnert mich dann doch wieder stark an Tillem. Die Frau und Ben-irgendwas mustern mich eindringlich.

»So, dann mal raus mit der Sprache! Wer bist du? Woher kommst du und wie konntest du das Tor benutzen?«

Noch immer bin auch ich verwirrt. Wenigstens gibt mir die Tatsache Zuversicht, dass ich es hier mit Markus, Tillems Sohn zu tun habe. Zumindest halte ich es für unwahrscheinlich, dass er sich in der Zwischenzeit auf Sorbats Seite geschlagen hat. Was mich allerdings verunsichert, sind sowohl seine Aufmachung als auch die seltsame Aussprache und ganz besonders die Tatsache, dass er sich innerhalb eines Tages vom Baby in einen Erwachsenen verwandelt hat – oder wie lange kann das her sein? Sicherlich war ich keine zwanzig Jahre lang bewusstlos. Da kann eigentlich nur irgendeine Magie im Spiel sein, aber welche?

»Ähm«, beginne ich geistreich, noch immer im verzweifelten Versuch, das alles richtig zu verstehen. »Mein Name ist Leanah vom Schäferhof und das ist Silas Lichtenfeld. Wir wollten Atlatica verlassen. Tillem hat uns dabei geholfen. Uns wurden die Augen verbunden, damit wir nicht sehen, wo sich das Tor befindet. Außerdem hat man uns betäubt. Danach kann ich mich an nichts erinnern, außer, dass ich hier gefesselt aufgewacht bin«, erkläre ich vage, weil ich ja noch immer nicht weiß, mit was für Leuten ich es hier eigentlich zu tun habe.

Der Ben-Mann schnaubt unwillig.

»Geht es noch etwas genauer?«

Meine Gelenke schmerzen und ich recke Hals und Schultern, bevor ich fortfahre.

»Ich weiß nicht, ob ich euch trauen kann. Weshalb habt ihr uns gefesselt? Und wer seid ihr überhaupt?«, frage ich.

»Na gut, ich sage dir was, Süße!«, beginnt Markus neben mir. Um zu ihm aufschauen zu können, muss ich den Hals verdrehen, was ein unangenehmes Ziehen verursacht. »Du hast es hier mit drei hochpotenten Magiern zu tun: Tajana Leucht-Schneckchen, Benito der Streinfräser und Markus der Nachtbulle.« Er deutet auf die genannten Personen, wobei Tajana die Augen verdreht und abwehrend den Kopf schüttelt. Wenigstens die Frau scheint sympathisch zu sein. Ich schaue sie mir genauer an: Soweit ich im düsteren Keller erkennen kann, hat sie blondes Haar, wie lang es ist, lässt sich schwer bestimmen, denn sie trägt es in einer Hochsteckfrisur. Durch ihre feinen Züge und das blasse Gesicht wirkt sie ein wenig zerbrechlich. Sie greift nach der Hand des Mannes neben ihr – wahrscheinlich sind sie ein Paar, für Geschwister wären sie zu verschieden. Seine Haut wirkt gut gebräunt, das dunkle, dichte Haar, die markanten Gesichtszüge und die fast schwarze Iris deuten auf einen Schattenmagier hin. Wenn er nicht gerade Tajana ansieht, blickt er ziemlich düster drein.

»… und das Beste an der Geschichte ist, dieses Tor, durch das ihr gekommen seid, wurde schon Jahrzehnte lang nicht mehr benutzt und weißt du auch warum?«, fährt Markus fort und zieht damit wieder meine Aufmerksamkeit auf sich.

Ich schüttele langsam den Kopf, was mir wieder die schmerzenden Glieder ins Bewusstsein ruft.

»Weil die andere Seite komplett zerstört wurde, sodass es schlichtweg unmöglich ist, hindurchzugehen. Die Frage, die wir uns nun stellen ist, wie konntet ihr durch ein Tor kommen, das nicht mehr existiert?«

Meine Verwirrung könnte kaum größer sein.

»Was? Aber als wir dort hingebracht wurden, war nichts zerstört… und … und du… du warst noch ein kleines Baby! Wir waren Gäste auf dem Baum deiner Eltern«, stammele ich.

Eine Weile herrscht Schweigen. Wir sehen uns alle ratlos an.

»Das kann doch alles nicht wahr sein«, flüstert Tajana kopfschüttelnd.

»Sagt sie denn die Wahrheit?«, fragt Benito und Markus nickt bedächtig.

Dann atmet er tief durch.

»Dafür gibt es eigentlich nur eine einzige Erklärung«, sagt Benito langsam.

»Ja, wie es aussieht, seid ihr beide nicht nur zwischen den Welten gereist, sondern auch durch die Zeit.«

Ich schnappe hilflos nach Luft. Diese Möglichkeit schwebte zwar irgendwo in meinem Hinterkopf, doch jetzt, wo ich die Erkenntnis zu fassen beginne, muss ich sie erst einmal verdauen. Aber das macht durchaus Sinn. Daraus erklärt sich sowohl das rasante Wachstum von Tillems Sohn als auch das Reisen durch ein auf der anderen Seite zerstörtes Tor.

»Und … und welches Jahr haben wir?«, will ich wissen.

»1990«, antwortet Tajana.

»1990? Das sagt mir nichts. Als wir fort sind, war das grüne Jahr der ersten Dekade.«

Die Frau seufzt.

»Wie lange habe ich diese Zeitrechnung nicht mehr gehört … Nach atlaticanischer Zeit müssten wir jetzt das blaue Jahr der dritten Dekade haben.«

»Also seid ihr über 78 Jahre in die Zukunft gereist!«, staunt Markus.

»Keine besonders rosige Zukunft allerdings. Da würde ich schon lieber von heute nach 1912 zurückreisen«, fügt Benito düster hinzu. »Aber das Tor hat, soweit ich weiß, noch nie als Zeitmaschine funktioniert. Wie konnte das also passieren?«

In diesem Moment krümmt sich Silas stöhnend auf dem harten Steinboden zusammen.

Benito eilt herbei und schnappt sich den Knebel, der zuvor noch in meinem Mund gesteckt war. Markus hatte ihn neben Silas auf den Boden geworfen.

»Sorge dafür, dass er nicht schreit, sonst müssen wir das erledigen«, droht er mit warnendem Blick in meine Richtung.

»Silas. Geht es dir gut?«, rufe ich ihm zu. »Hast du gehört, du darfst nicht schreien.«

»Mhm«, brummt er benommen.

In diesem Moment zückt Markus ein Messer. Beinahe setzt mein Herzschlag aus vor Schreck, als er sich damit mir zuwendet. Ein Zittern geht durch meinen Körper, während ich ihn mit großen Augen anstarre. Doch da packt er meine Handgelenke und durchtrennt die Fessel, welche aus einem weißen, dünnen Band bestand, wie ich jetzt erkenne.

»Geh hin und beruhige ihn!«

»Meinst du, wir können ihnen trauen?«, fragt Benito skeptisch.

»Sie sagt die Wahrheit. Außerdem waren sie tatsächlich bei meinen Alten. Ich habe die Erinnerungen in ihrem Hirn gesehen. Wie es aussieht, gehören die zwei zu uns.«

»Ach, und wir haben sie so gequält!«, sagt Tajana schuldbewusst.

»Konnten wir doch nicht wissen!«, erwidert Markus.

Ich knie mich neben Silas und versuche, ihm das Tuch vom Kopf zu ziehen. Aber es geht nicht, es bleibt darauf haften. Markus kommt herbei und hilft mir, es zu entfernen.

»Es wurde magisch präpariert«, erklärt er. »Ihr habt Schwein gehabt, dass meine Energien ähnlich sind wie die meines Alten, sonst hätten wir ein Problem, das wegzubekommen.«

Silas versucht, sich keuchend aufzusetzen, was ihm mit den Fesseln nicht ganz leichtfällt. Außerdem wirkt er noch recht benommen, während er blinzelnd von einem zum anderen schaut, bis sein Blick auf mir haften bleibt.

»Wo sind wir? Wo sind meine Eltern?«, fragt er.

Plötzlich wird sein Ausdruck wachsam und im nächsten Moment steht er aufrecht hinter Markus, umklammert so gut es mit den gefesselten Händen geht, eine Holzlatte, die gerade eben noch an der Wand lehnte, bereit, diese auf Markusʼ Kopf niedersausen zu lassen.

»Wozu legt man mich in Fesseln?«, fragt Silas wütend.

Benito und Tajana fahren erschrocken hoch. Auch ich springe auf die Füße.

»Wow! Geil! Wie hast du das eben gemacht?«, staunt Markus.

»Wir waren nicht sicher, ob ihr Feinde oder Freunde seid«, erklärt Tajana, wobei sie beschwichtigend die Hände hebt. »Es tut uns leid, dass wir euch keinen besseren Empfang gegeben haben.«

»Kannst du ihm die Fesseln abnehmen?«, bitte ich Markus.

»Wenn der da das Brett runternimmt und verspricht, keinen Ärger zu machen!«, brummt dieser.

Silas blickt seinen Widersacher nun genauer an und ich kann die Erkenntnis förmlich aus seiner Mimik lesen.

»Tillem, bist du das?«, fragt er verwirrt.

»Nein, aber das Thema ist bereits durch. Ich bin Markus, der missratene Sohn und nein, ich bin kein Baby mehr, wie man deutlich sieht. Und hier noch die Kurzzusammenfassung der letzten Erkenntnisse: Ihr seid in die Zukunft gereist und im Jahr 1990 gelandet. Warum das so passiert ist, habʼ ich keinen blassen Schimmer!«

Langsam lässt Silas die Holzlatte sinken.

»1990?! Und Sie sind das Baby?«, fragt er ungläubig.

»Irrtum! Ich bin kein Baby!«, widerspricht Markus säuerlich. »Noch einmal so ein Spruch und die Fessel bleibt dran!«

»Sind Sie, ich meine bist du ein Schausteller?«, fragt Silas mit Blick auf die bunten Arme.

Das habe ich insgeheim auch schon überlegt, denn seine Mode kommt mir gar so fremd vor.

»Oh Mann, du bist echt aus dem letzten Jahrhundert. Aber in dieser Sonnenaufgangs-Kluft kannst du hier auf keinen Fall frei rumlaufen.«

Tatsächlich könnten die modischen Unterschiede kaum größer ausfallen. Während Markus durchweg schwarze, leicht glänzende Kleidung trägt, steckt Silas in einer Hose mit roter Sonne, violett-dunkelblauem Farbverlauf, sowie einem hellblauen Hemd. Das trägt man um diese Zeit recht häufig in Mistad – damals müsste ich eigentlich hinzufügen. Ich selbst habe ein langes, hellblaues Kleid an, dazu eine Weste mit violett-dunkelblauem Farbverlauf. Paare kleiden sich auf Atlatica häufig mit ähnlichen Farben. Mir war klar, dass wir nach dem Übertritt durch das Tor unsere Kleidung wechseln müssen, mit dieser seltsamen Tracht hatte ich allerdings nicht gerechnet. Die beiden anderen tragen beide dunkelblaue Hosen, was ich für eine Frau doch ziemlich befremdlich finde. Ich kann mich nicht erinnern, auf Atlatica schon einmal Frauen in Hosen gesehen zu haben.

Ob ich hier so was auch anziehen muss?

»Ich denke, es gibt wichtigere Themen, als die Kleidungsfrage. Da ist noch einiges, was zu klären wäre«, mischt sich nun Benito ein und da muss ich ihm zustimmen.

»Befreie ihn doch bitte von dem Kabelbinder, dann gehen wir hoch und ich gieße uns erst einmal einen Tee auf«, schlägt die Frau vor, was ich für eine ausgezeichnete Idee halte.

Silas reibt sich die Handgelenke, nachdem Markus das weiße Band durchtrennt hat. Dann legt Silas beschützend den Arm um mich, was Markus mit zusammengekniffenen Augen begutachtet.

»Hätte ja auch zu schön sein können, wenn die Schnecke hier noch frei gewesen wäre …«, kommentiert er säuerlich.

»So spricht man doch nicht über eine Dame!«, empört sich Silas.

»Vielleicht nicht zu deiner Zeit, aber hier musst du dich schon unseren Sitten anpassen.«

»Niemals!«

»Hört auf mit der Streiterei. Wir müssen jetzt leise sein. Hier wohnen noch andere Leute und man weiß nie, wer von ihnen als Spitzel arbeitet und wer nicht!«, warnt die Frau, während sie vorsichtig die Tür öffnet und durch den Spalt hinausspäht.

Wir drängen uns hinter sie, bis sie uns ein Zeichen gibt, ihr zu folgen. Wir schleichen einen düsteren Gang entlang bis zu einer Treppe. Hier steigen wir die knarrenden Stufen empor, an einer Pforte vorbei bis in die erste Etage, wo wir durch eine Tür schlüpfen.

Angesichts der unbekannten Bedrohung wage ich erst aufzuatmen, als wir alle oben in der Wohnung angekommen sind und die Tür hinter uns ins Schloss fällt. Alles sieht hier so anders aus als in meiner Heimat, vor allem viel gerader, geordneter, aber auch weniger lebendig. Sämtliche Fenster bestehen aus regelmäßigen Vierecken. Das gibt es sonst fast nur auf Burgen oder in Magiertempeln, aber auch dort nicht immer.

Vom Flur aus zweigen große Räume mit weiß gestrichenen Wänden ab. Die Frau führt uns in einen davon. Hier stehen mehrere große Schemel mit Lehnen für den Rücken um einen viereckigen Tisch herum. In dieser Welt mag man offensichtlich die eckigen Formen. Mein Blick schweift zu einem prächtigen Gebilde, das von der Decke baumelt. In hunderten von geschliffenen Glassteinen schillern die hereinfallenden Sonnenstrahlen und werfen lauter kleine Regenbögen an die gegenüberliegende Wand.

»Schön, nicht wahr? Ich liebe diese Lampe. Sie ist ein Erbstück meiner Mutter. Wenn sie ihr Licht dort hinein schickte, erstrahlte der ganze Raum in allen Farben«, erklärt die Frau schwärmerisch.

Ohne weiter zu überlegen, hebe ich gebannt die Hände und sende meine Strahlen hinein. Das Glas reagiert sofort auf diese Magie, saugt das Licht auf und wirft ein Meer an Farben in den Raum hinein.

Die Rufe des Erstaunens werden von einem harschen »Schluss damit!« aus Markusʼ Mund abgelöst.

Erschrocken halte ich inne und sofort erlischt das Licht. Diese kleine Demonstration war wohl nicht besonders klug.

»Bist du verrückt? Wenn das jemand auf der Straße gesehen hat!«, schimpft Tillems Sohn.

»Hab dich nicht so, Markus. Dann denken sie eben da draußen, dass im Fernseher gerade bunte Bilder flackern.«

»Quatsch, so flackert doch keine Glotze! Da fällt mir ein, habt ihr den letzten Tatort gesehen? Die mit Schimanski sind echt die besten, obwohl sie ruhig mehr von den Schnuckis zeigen könnten …«

Ich verstehe mal wieder gar nichts und tausche fragende Blicke mit Silas aus.

»Verschone uns mit dem Zeug, Markus. Ich bereite jetzt mal lieber den Tee zu«, kündigt Tajana an.

Ich sehe ihr nach, wie sie in den benachbarten Raum geht, der einer Küche ähnelt.

»Du solltest nicht so viel Fernsehen, Markus. Wie du weißt, dienen diese Filme nur dazu, uns von den wahren Verhältnissen in der Welt abzulenken«, rügt ihn Benito.

»Pfff, mir ist doch eh klar, was abgeht. Aber woran soll man hier sonst Spaß haben? Nicht mal mehr die Schnecken sind so willig wie früher.«

»Ein bisschen mehr Charme würde da sicher weiterhelfen«, ruft Tajana aus der Küche herüber, während sie das Teewasser aufgießt.

»Und wo soll ich den hernehmen? Ich bin voll am A …«

»Wenn Sie mir dann bitte endlich erläutern wollen, was hier vor sich geht?!«, fährt Silas sichtlich angespannt dazwischen.

Auch ich will endlich wissen, wo wir hier hingeraten sind. Allerdings habe ich immer noch nicht so richtig realisiert, was eigentlich passiert ist.

Ist das alles überhaupt wahr? Sind wir tatsächlich in die Zukunft gereist?

Das kommt mir noch unwirklicher vor als ein Traum. Mal sehen, ob es tatsächlich einer ist, aus dem ich nachher aufwache und dann in der anderen fremden Welt lande, die zumindest Silas als sein zu Hause bezeichnet.

»Ha! Zuerst packt ihr beiden aus, dann werden wir sehen, wie viel Prozent der Wahrheit ihr verkraften könnt.«

»Nun gut. Ich sehe, wir haben ohnehin keine andere Wahl, als uns euch anzuvertrauen«, lenkt Silas schließlich ein. »In dieser fremden Welt werden wir ohne eure Hilfe wohl kaum zurechtkommen.«

Das sehe ich genauso.

»Aber zuerst trinken wir etwas«, erklärt Tajana, während sie einen Wagen auf Rollen in den Raum hereinschiebt.

Darauf steht Geschirr und eine Schüssel mit köstlich aussehendem Gebäck.

»Habt ihr keinen Kaffee?«, murrt Markus.

»Nein, tut mir leid. Wie du sicher mitbekommen hast, sind die Preise dafür zu hoch im Moment«, entschuldigt sich Tajana.

Benito hilft ihr, die glänzend weißen Tassen und Teller zu verteilen. Ich nippe an dem eingegossenen Tee. Er schmeckt fremd, ein wenig zu bitter, aber ich glaube, daran kann ich mich gewöhnen, vor allem nachdem Tajana mir etwas zum Süßen anbietet, ein weißer Sand, den sie Zucker nennt.

Nun beginnt Silas mit der Erzählung und ich staune, wie lebendig und wortgewandt er unsere Geschichte hervorbringt. Habe ich das früher nie bemerkt? Vielleicht liegt es ja auch am Vergleich zu Markus, dass mir das jetzt auffällt. Zumindest wird mir dabei eines klar: Der einzige Grund, weshalb ich in dieser Lage noch immer einigermaßen Ruhe bewahren kann, liegt darin, dass Silas und ich zusammen sind. Er ist der letzte Anker in einer Welt, die gerade dabei ist, im Chaos zu versinken.

»Also hat dich Tillem in den Gelina-Bund aufgenommen«, bemerkt Benito, nachdem Silas geendet hat.

»Willkommen im Team! Aber mit dem lächerlichen Rest, der davon übrig ist, können wir kaum noch etwas ausrichten«, bemerkt Markus bitter und lässt seinen Blick einmal durch die Runde schweifen.

»Markus, wenn du Gedanken lesen kannst, heißt das doch, dass du auch ein Magier bist«, kommt mir in den Sinn.

»Gut kombiniert, Miss Sherlock!«

»Leanah!«, korrigiere ich, in dem Bewusstsein, dass er wohl einen Scherz gemacht haben muss, den ich mal wieder nicht verstehe. »Aber woher hast du die Magie? Haben deine Eltern auch eine Begabung oder trat das bei dir spontan auf?«

So wie bei mir, füge ich noch in Gedanken hinzu.

»Tja, das hat der Alte natürlich schön geheim gehalten. Aber Tillem konnte auch nicht viel. Leider, sonst hätte er sich nicht so leicht abmurksen lassen. Konnte nur im Dunklen sehen und ein bisschen Ortung – das Übliche der Schattenmagie halt.«

»Tillem ist auch ein Magier? Ein Schattenmagier?«, wundert sich auch Silas. »Ich hatte ja keine Ahnung.«

»Ach, irgendwann hätte er es euch schon verklickert.«

»Ver…was?«, frage ich irritiert.

»Es bleibt die Frage, weshalb ihr durch die Zeit gereist seid. Ich hatte gar nicht gewusst, dass so etwas überhaupt möglich ist«, wechselt Tajana das Thema.

»Ich kann mich dumpf daran erinnern, dass ich im Tor aus der Betäubung erwacht bin und Todesangst verspürt habe. Möglicherweise hat sich dabei meine Magie verselbständigt.«

»Welche Magie?«, fragen Tajana und Benito im Chor.

»In Notsituationen verlangsamt sich die Zeit.«

»Du kannst wirklich die Zeit verlangsamen!?«, staunt Benito. »Das ist eine fantastische und extrem seltene magische Fähigkeit. Allerdings würde ich dabei eher auf eine Reise in die Vergangenheit tippen. Dennoch wäre es denkbar, dass sich die Magie des Tores mit deiner so stark vermengt hat, dass im Raum-Zeit-System Chaos ausgebrochen ist, was euch dann, aus welchem Grund auch immer, ins Jahr 1990 befördert hat.«

»Und … wie kommen wir wieder zurück?«, ringe ich mich endlich zu der alles entscheidenden Frage durch.

Vier mitfühlende Blicke bringen mein Herz zum Stocken.

»Wie gesagt, das Tor ist zerstört. Man kann es nicht mehr aktivieren und selbst wenn, wäre es zu gefährlich, das Ganze erneut zu versuchen. Diese Magiemischung erscheint mir so unkalkulierbar, dass ihr in jeder denkbaren Zeit landen könntet oder aber für immer im Tor gefangen bleibt, falls ihr in eine Zeit geschleudert werdet, wo es noch nicht existierte oder schon zerstört war«, erklärt Benito.

Der anfänglich kühl-beherrschte Blick dieses Mannes ist einem mitfühlenden gewichen, was mein Elend in diesem Moment leider nicht zu mindern vermag, im Gegenteil. Auf einmal bricht die ganze Dramatik der Situation über mich herein. Wir werden hierbleiben müssen. Für immer! Ich werde weder meine Eltern, meine Schwester, Jori, oder sonst jemanden wiedersehen, der mir lieb ist – außer Silas natürlich. Er legt seinen Arm um mich, aber ich kann nicht verhindern, laut zu schluchzen. Tajana reicht mir ein Taschentuch, in das ich meine Tränen hineinschnäuze.

Dann stehe ich einfach auf und renne zum Fenster. Ich muss endlich sehen, wo ich hier gelandet bin. Dort blicke ich auf eine Stadt mit viereckigen Häusern, in denen viereckige Türen und viereckige Fenster stecken. Nur wenige Bäume, kaum ein buntes Blatt wächst dazwischen. Nicht ein einziges Baumhaus kann ich entdecken. Auch die Straßen sind steinern, kahl, grau und trostlos, kein Vergleich zu den bunten, leuchtenden Farben auf Atlatica. Außerdem liegt überall komisches Zeug auf den Wegen herum. Große Radkästen fahren mit lautem Brummen vorüber.

Was soll das sein? Kutschen ohne Pferde?

Zwei Männer sitzen an eine Häuserwand gelehnt. Sie sehen verwahrlost aus und trinken aus glänzenden Behältern. Angewidert schaue ich in den Himmel, wo kleine Wölkchen vor die Sonne ziehen – wenigstens hier finde ich keinen Unterschied zu meiner Heimat. Aber was ist das? Ein silberner Vogel zieht einen langen, weißen Streifen hinter sich her. Seltsam!

Silas tritt neben mich, legt den Arm um meine Hüfte, um mich tröstend an sich zu ziehen. Beinahe bin ich versucht, ihn wegzustoßen, weil diese Geste die Schleusen für meine Gefühle öffnet, die sich in Tränen zu ergießen drohen.

Plötzlich schreit jemand. So richte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen draußen. Ein Mensch mit dunkler Maske rennt am Haus vorbei. Was ich jetzt allerdings zu Sehen bekomme, jagt einen eiskalten Schauer über meinen Rücken: Zwei Wesen, wie ich sie noch nie zuvor in meinem Leben gesehen habe, verfolgen ihn. Der nackte, muskulöse, unbehaarte Körper der Monster ist leuchtend rot. Die Wesen rennen auf zwei Beinen wie ein Mensch, nur dass sie fast doppelt so groß sind. Ihre Zehen sind mit mächtigen, schwarzen Klauen gespickt, während die Fingernägel zwar von der Form her den meinen gleichen, dafür erstrahlen sie in einem leuchtenden Gelb. Über den Rücken läuft eine Mähne wie bei einem Pferd, allerdings im gleichen Gelb wie die Fingernägel. Das Gesicht wirkt menschlich, jedoch kantiger. Die Augen kann ich von hier aus nicht erkennen, aber die Erscheinung der Monster flößt mir mächtig Respekt ein. Sie sind wendig und blitzschnell. Noch bevor ich einen kleinen Angstschrei ausstoßen kann, hat einer von ihnen den Flüchtigen eingefangen.

Ich kann nicht mehr sehen, was mit ihm geschieht, denn Tajana und Benito ziehen uns nun hastig vom Fenster weg. Markus, der weiter innen im Raum steht, legt den Finger auf die Lippen und zischt »Schschsch«.

Mein Herz donnert. Ein Schrei ertönt auf der Straße, dann ist alles gespenstisch still.

Was war das denn eben?

Silas blickt genauso betroffen, verwirrt und schockiert drein, wie ich mich fühle. Ich schlage die Hände vors Gesicht.

In was für einer fürchterlichen Welt sind wir hier nur gelandet?

2 – Unocks

Silas

 

Noch immer vermag ich nicht zu fassen, welches Schicksal uns ereilt hat. Wir sind in der Tat durch die Zeit gereist, wenngleich ich Derartiges bislang für ein Ding der Unmöglichkeit gehalten hatte. Dass meine Eltern noch immer leben, ist mehr als ungewiss. Ein Umstand, der mich erschaudern lässt. So teile ich den gleichen Kummer wie meine Leanah. Lediglich bei meinem Vater bestünde die Hoffnung, dass er dank seiner Heilkräfte überlebt haben könnte, doch laut Markusʼ Ausführungen sind insbesondere Mitglieder der Untergrundorganisationen ins Visier des Lords geraten, daher wage ich es nicht einmal, über sein Schicksal nachzusinnen.

Und nicht nur Leanah ist diese Welt hier fremd. Während das Haus mit seiner Einrichtung noch annähernd dem entspricht, was mir bekannt war, spielen sich unten auf der Straße äußerst befremdliche Szenen ab. Müll aus undefinierbarem Material liegt überall herum. Obwohl ich hier keine Pferde sehe, die die Straße mit ihren Hinterlassenschaften beschmutzen könnten, sind sie unsauber und an jeder Ecke liegen Vagabunden. Zudem kommt mir diese unwirkliche Szene mit den roten Monstern eher wie eine Erscheinung Atlatikas vor. Niemals hätte ich derartige Gestalten hier zu sehen erwartet.

»Was waren das für Wesen?«, flüstere ich.

»Unocks. Wächtermonster, die hier alles kontrollieren. Nur Magier können sie sehen, die normalen Menschen ahnen so lange nichts von ihrer Existenz, bis sie aussortiert werden sollen«, erklärt Benito leise. Während er spricht, bewegen wir uns alle in Richtung Esstisch und nehmen wieder unsere Plätze ein.

»Und … was bedeutet aussortiert? Was passiert dann mit ihnen?«, fragt Leanah bange.

»Wenn sie Sorbat keinen Nutzen bringen, werden sie eliminiert, die anderen werden eingesperrt. Eigentlich gilt Letzteres sowieso nur für Magier, soweit ich weiß. Zumindest heißt es, dass diese entweder ohne Fähigkeiten zurückkehren oder gar nicht. Es ist ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis man auch uns aufspüren wird. Wir haben hier immerhin den Vorteil, dass die Wände des Hauses magische Energien filtern, deshalb sind wir in diesen Mauern einigermaßen sicher. Wir gehen nur vor die Tür, wenn es unbedingt notwendig ist. Meistens erledigt Markus für uns alle Besorgungen, da er sich am besten tarnen kann. Normale Leute dagegen, die unbequem sind, sich nicht manipulieren lassen oder eine Gefahr darstellen, werden aufgelöst und Erinnerungen an sie gelöscht. So fällt es niemandem auf, wenn jemand fehlt«, erklärt Benito.

»Was ist das nur für eine Welt? Wer steht denn an der Spitze des Ganzen? Wer beherrscht das alles?«, will ich wissen.

»Phhh, ob ihrʼs glaubt oder nicht, der olle Sorbat ist noch immer nicht abgekratzt. Der wird weder älter noch schwächer, ganz im Gegenteil.«

»Wie kann das sein? Gibt es niemanden, der ihm entgegensteht. Was ist mit Torin?«, frage ich.

Die gesenkten Blicke sprechen bereits klare Worte.

»Er ist schon vor langer Zeit gestorben. Sein eigener Vater hat es getan …«, flüstert Tajana und Leanah presst bitter die Lippen zusammen. »Es müsste sogar noch zu eurer Zeit geschehen sein. Torin ging voller Wut auf Sorbat los, da ist es passiert.«

»Es gibt also keine Hoffnung …«

»Ach es gibt immer Hoffnung. Und jetzt hat unser Team sogar Verstärkung bekommen. Also hört auf, alles so negativ zu sehen. Lasst uns lieber mal schauen, was sie heute in den Nachrichten bringen«, unterbricht mich Benito, steht auf und geht zu einem schwarzen Kasten im Nebenraum.

»Nachrichten? Und du meinst im Ernst, die helfen gegen Negativität?«, murmelt Tajana kopfschüttelnd.

Ich traue meinen Augen nicht, als auf der Scheibe ein lebendiges Bild in bunten Farben aufleuchtet. Menschen laufen kreuz und quer. Eine Rauchsäule steigt auf. Gebannt lausche ich dem Nachrichtensprecher. Alles klingt viel klarer als ich es vom Radio gewohnt bin.

»…eine Gruppe Jugendlicher hat heute Morgen mehrere Kleinwagen in Brand gesteckt. Noch gelang es nicht, die Täter aufzuspüren. Die Polizei ruft die Bevölkerung zur Mithilfe auf. Wer vor dem Bahnhof von Hofheim etwas Auffälliges beobachtet hat, soll sich bei der örtlichen Polizeidienststelle melden. In den Krisengebieten am Hochrhein hat sich die Lage bisher nicht entspannt. Noch immer kommt es zu Aufständen staatsfeindlicher Gruppen …«

So geht es in einem fort weiter: Es wird von Flutkatastrophen, Kriegen, dem Waldsterben, Morden, Rassismus und Ausschreitungen berichtet, so lange, bis ich nur noch davon ausgehen kann, dass die ganze Welt spätestens mit dem nächsten Morgengrauen untergehen wird.

»… als Maßnahme hat der Kongress beschlossen, die öffentlichen Mittel für Polizei und Katastrophenschutz aufzustocken.«

Das Bild eines Sitzungssaales wird gezeigt. Auf dem erhöhten Sessel im Zentrum thront ein Mann, dessen Gesicht nun vergrößert dargestellt wird. Zweifelsohne handelt es sich um Sorbat. Er scheint um kein einziges Jahr gealtert.

Wie um Himmels willen ist das nur möglich?

Die Menschen um ihn herum klatschen begeistert und Sorbat nickt erhaben.

»War ja klar! Noch mehr Polizeistaat und Spitzel überall! Dabei stiften die doch den ganzen Mist an und verbreiten Panik!«

»Wozu machen die das denn?«, erkundigt sich Leanah.

»Na, wenn Leute nur genug Angst und Zukunftssorgen haben, kann man bei ihnen doch alles durchsetzen. Wenn es dann noch genug Vergnügungen zur Ablenkung gibt und jeder so das Nötigste zum Leben hat, denkt hier keiner weiter darüber nach, dass …«

Es poltert so laut an der Tür, dass ich fürchte, sie könnte einbrechen.

Leanah

»Oh, nein!«, haucht Tajana.

Wir springen alle abrupt auf. Mein Stuhl kippt um und kracht polternd zu Boden.

»Geht da rüber!«, ruft Markus. Dabei deutet er in Richtung eines Zimmers auf der anderen Seite des Flures. »Ich halte sie auf!«

Das Donnern hebt die Tür beinahe aus den Angeln, sie ächzt und vibriert, während wir durch den Flur rennen. Wir kommen jedoch nicht weit. Zerfetztes Holz kracht auf den Boden, zwei Unocks brechen durch und stürmen herein. Sie sind so riesig, dass ihre Köpfe beinahe die Decke berühren.

Schockiert springe ich zurück, werde jedoch von der Wand im Rücken gebremst. Meine Magie bricht in Form von Lichtpunkten hervor, die wie lebendige Mücken um meinen Körper schwirren. Die Monster fixieren mich.

»Was wollt ihr roten Stinker? Das ist Hausfriedensbruch!«, schimpft Markus und tritt ihnen mit geballten Fäusten entgegen. Über seinen Todesmut kann ich nur staunen.

Silas stellt sich schützend vor mich, fixiert dabei angriffsbereit die Monster. Das andere Paar steht dicht nebeneinander im Türrahmen des Esszimmers. Tajana hat die Hände erhoben und ich frage mich, ob sie versucht, irgendeine Magie zu wirken.

»Ergebt euch! Ihr seid verhaftet!«, sagt der eine Unock mit abgrundtiefer Stimme.

Das lässt mich zusammenzucken, jedoch hauptsächlich vor Verwunderung, da ich von diesen Monstern eher das Gebrüll eines Bergluchses erwartet hätte, als eine klare menschliche Sprache.

»Mit welcher Begründung?«, fragt Benito scharf.

»Das werdet ihr vor Gericht erfahren!«

Ich zähle bis drei, Schnucki, dann schickst du ihnen Licht in die Augen!, höre ich plötzlich eine eindringliche Stimme in meinem Kopf, die unverkennbar nach Markus klingt.

Ich hebe unmerklich die Hände, während Silas aussieht, als ob er jeden einzelnen Muskel anspannt.

Eins, Zwei …

Ein Unock tritt auf Benito und Tajana zu, der andere streckt die Arme nach Markus aus.

Drei!

Gleichzeitig mit Tajana und Silas reiße ich die Hände hoch und gemeinsam schicken wir strahlend helle Lichtkugeln in die Augen der Monster. Sie schütteln knurrend die Köpfe, die Kugeln bleiben jedoch haften. Jetzt laufen Tajana, Benito und Markus los und versuchen, an ihnen vorbeizurennen, doch die Unocks können sich trotz der geblendeten Augen erstaunlich gut orientieren, tänzeln geschickt vor dem Ausgang und versuchen, sie zu packen.

»Ihr könnt nicht entkommen!«, herrscht uns eines der Monster an. »Ergebt euch!«, befiehlt das andere.

Ohne Vorwarnung holt der linke Unock aus und fegt Tajana von den Füßen, sodass sie gegen die Wand knallt und schreiend zu Boden fällt. Entsetzt muss ich mitansehen, wie der andere Unock unseren Schock ausnutzt, indem er zu einem mächtigen Hieb ausholt und seine Faust auf uns zu sausen lässt, so blitzschnell, dass weder Silas noch ich ihr entkommen können. Ich glaube bereits, den Schmerz des Schlages zu spüren, während ich noch dazu ansetze, mich auf den Boden fallen zu lassen. Doch da verschwimmt die Szene abrupt zu einem bunten Mischmasch aus Farben und Tönen. Ich fühle mich leicht und im nächsten Moment stehe ich gemeinsam mit den anderen im Hausflur, während die Unocks hinter uns in der Wohnung wütend grollen. Auch Tajana steht aufrecht, ihre Arme liegen auf Markusʼ und Benitos Schultern. Die eingefrorene Szene erwacht scheinbar in dem Moment zum Leben, als sie taumelt und die Männer sich wie automatisch anspannen, um Tajana festzuhalten. Das passierte so abrupt und plötzlich, dass wir alle für einen Atemzug ganz verdattert drein blicken.

»Lauft!«, schreit Silas, um uns aus der Starre zu lösen.

Er zieht mich an der Hand mit sich fort, die Treppe hinunter, die drei anderen folgen uns mit lautem Gepolter.

»Halt! Sofort stehenbleiben«, brüllen die Unocks.

Wir hasten so halsbrecherisch die Stufen hinab, dass ich fürchte zu stürzen. Ich kann nur hoffen, dass die Leuchtkugeln zumindest auf der Treppe die Verfolgung erschweren. Nach allem, was ich auf der Straße gesehen habe, hätten wir ohne sie nicht den Hauch einer Chance. Wir steuern auf die Haustür zu, die noch einen Spalt breit offen steht, aber da sie noch ganz ist, sind die Monster wohl nicht gewaltsam eingedrungen. Vielleicht müssen Haustüren ja immer offen bleiben in dieser Welt.

»Weiter runter! Nicht raus!«, schreit Markus hinter uns.

Wieso denn in den Keller?

Ich kann überhaupt nicht verstehen, wie wir da unten entkommen sollen, aber Silas folgt seiner Anweisung und zieht mich weiter die Kellertreppe hinab.

Wir kennen uns ja hier nicht aus, es wird schon einen Sinn haben, denke ich.

Das Treppenhaus ist von Poltern und dem wütenden Gebrüll der Unocks erfüllt, in dem Tajanas erschöpftes Keuchen beinahe untergeht. Ich sende gedanklich noch einmal Magie in die Lichtkugeln und hoffe, dass sie dadurch weiter erhalten bleiben, selbst wenn ich sie nicht mehr sehen kann. So etwas habe ich schließlich noch nie ausprobiert.

Als wir fast zeitgleich alle unten ankommen, halten Silas und ich unentschlossen inne.

»Hier entlang!«, befiehlt Markus, während die Männer mit Tajana in ihrer Mitte nach links abbiegen, die Lichtmagierin den Kellerflur entlangschleppen, auf eine kahle Mauer zu.

Ich glaube nicht richtig zu sehen, als

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 13.03.2020
ISBN: 978-3-7487-3191-7

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