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PSYCHOTERRORIST

 

 

 

 

 

 

PSYCHOTERRORIST

 

 

 

Bella Muray

 

 

 


 


 

Grenzenlose Liebe

Deine Umarmung ist mein Gefängnis,

das mir die Luft zum Atmen raubt.

 

Deine Nähe ist meine Beklemmung,

die mir die Freiheit zu Leben nimmt.

 

Deine sentimentalen Erinnerungen

knüpfen dicke Knoten in meinem Bauch.

 

Das, was Du Liebe nennst,

zerquetscht mich in einer Presse

aus falscher Verpflichtung

und manipuliertem Gewissen.

 

Mit Deiner Weise zu lieben

haben Deine Grenzen die meinen

meilenweit überschritten.

 

Ein unheimliches Geschenk

Innere Leere lässt sich nur scheinbar durch einen Partner füllen.

 

 

Weiße Engel des Todes, dachte Lena beim Blick aus dem Fenster.

Sie stand in ihrem Zimmer im zweiten Stock des Studentenwohnheims. Draußen hatten die Bäume bereits ihre Blüten entfaltet, doch vom Himmel schwebten dicke Schneeflocken und legten sich auf die noch jungen Triebe, hüllten das hervorsprießende Leben in einen zarten Mantel aus Eiskristallen.

Sobald das Plasma gefriert, platzen die Zellwände und das Gewebe stirbt ab – für Lena als Biologiestudentin eine naheliegende Betrachtungsweise, die jedoch keineswegs so nüchtern war, wie es den Anschein haben mochte. Es war, als ob die Szene vor dem Fenster ein verborgenes Gefühl spiegelte. Vom Anblick dieser fragilen Schönheit gefangen, beobachtete sie, wie sich allmählich ein weißer Flaum um die zarten Blätter und Blüten legte.

Eiskalt.

Dabei sehnte sie sich doch so sehr nach der Wärme einer Liebesbeziehung. Da war so eine undefinierbare Leere in ihr, obwohl rein äußerlich alles perfekt zu sein schien.

Ein leises Pling riss Lena aus der Starre. Ihre Aufmerksamkeit wanderte zu den leuchtenden Ziffern auf dem Bildschirm. Eine neue Nachricht blinkte im E-Mail-Postfach. Es waren viele Rückmeldungen auf ihre Kontaktanzeige hin gekommen – von unbekannten Männern, deren wahres Wesen sich übers Netz lediglich erahnen ließ. Natürlich war ihr klar, dass sie vorsichtig sein musste – allzu oft hörte man Schauergeschichten über Frauen, die nach einem Date mit einem Verehrer nicht wiederkehrten, von Perverslingen, die Opfer für abstruse Sexpraktiken suchten oder über Männer, die lediglich auf ein schnelles Abenteuer aus waren. Sicherlich bot das Internet nicht die optimalen Voraussetzungen, um einen Partner fürs Leben zu finden, doch rein zufällig war ihr die große Liebe bisher leider nicht über den Weg gelaufen. Mit dem knappen Budget einer Studentin konnte sie das Geld für ein seröses Datingportal nicht aufbringen. Aber wie so viele junge Frauen träumte auch Lena von der großen, einzigartigen Liebe, um ihrem Leben einen Sinn zu geben, um die einsame Leere in ihrem Inneren auszufüllen. Dafür ging sie auch schon mal riskante Wege. Sicher gab es im Wohnheim einige Studenten, denen sie gefallen würde, denn Lena war eine attraktive junge Frau, doch hier hatte sich bislang niemand gefunden, der ihre Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit hätte stillen können, niemand, mit dem sie sowohl ihr Bett als auch ihr Leben teilen wollte.

Ein Date hatte Lena bereits wahrgenommen. Der Kandidat schien vielversprechend, fast schon ein Seelenverwandter zu sein. Allein durch ihre Gespräche im Chat, sein Foto und seine Art hatte sich Lena in ihn verliebt. Aber als sie den jungen Mann dann persönlich getroffen hatte, waren die Schmetterlinge ziemlich schnell wieder fortgeflogen. Es gehört eben mehr zu einem Menschen als seine Gedanken und seine Fähigkeit, schöne Worte zu formulieren. Weder seine Ausstrahlung noch die Art, wie er sich gab, ließen die Funken zwischen ihnen sprühen. Er sah anders aus als auf dem Bild, das er ihr geschickt, und erst recht anders als auf dem, das sie sich in ihrem Kopf zusammengezimmert hatte. Das Foto zeigte zwar eindeutig ihn, allerdings hatte der Fotograf ihn sehr vorteilhaft in Szene gesetzt.

Aber wer konnte ihm das verübeln? Im Grunde versuchte jeder, sich von seiner besten Seite zu präsentieren, oder nicht?

Die neue E-Mail stammte von einem Unbekannten und trug den Titel »Eine besondere Überraschung für einen besonderen Menschen«.

Klingt fast wie ein Werbeslogan. Wer schreibt denn so was?, wunderte sich Lena.

Als sie die Nachricht öffnete, fand sie nichts als das Foto eines kunstvoll dekorierten Pakets. Ihre Neugier war geweckt, das hatte dieser Mann zumindest schon einmal geschafft.

»Hallo Unbekannter, was finde ich, wenn ich das Paket öffne?«

Die Antwort ließ auf sich warten. Als am Abend noch immer keine Nachricht von Mister Unbekannt eingegangen war, glaubte Lena tatsächlich schon an einen Werbegag, was aber unwahrscheinlich war, denn diese E-Mail-Adresse nutzte sie ausschließlich für die Kontakte der Anzeige.

Aber vielleicht hat sich jemand einen blöden Scherz erlaubt, überlegte sie.

Plötzlich klopfte es an der Tür und als Lena öffnete, strahlte ihr Tom, einer der zwölf Mitbewohner im Stockwerk D3, mit breitem Grinsen entgegen.

»Das hat ein Bote unten für dich abgegeben«, erklärte er, wobei seine Augen vor Neugier glühten.

In den Händen hielt er ein Paket, das exakt so aussah, wie das auf dem Foto des Unbekannten, und darauf prangte obendrein ein Schild mit ihrem Namen: »Lena Sommer«. Sie zuckte erschrocken zusammen. Sprachlos starrte sie das Päckchen an. Innerlich wirbelte ein ganzer Cocktail an Gefühlen.

Die Idee ist ja extrem originell, aber andererseits verdammt gruselig. Woher kennt dieser Typ meine Adresse?

Lenas Herz raste und kleine Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Stirn.

»Was ist los, Lena? Ein bisschen mehr Freude hätte ich schon erwartet«, wunderte sich Tom über ihre Reaktion.

Ihren Mitbewohner hatte sie vor lauter Schreck beinahe vergessen.

»Äh, d-danke, Tom«, stammelte sie und griff hastig nach dem Geschenk.

Doch er zog das Paket rasch zurück und hielt es unerreichbar hoch über seinen Kopf. Das war zu viel.

»Lass das!«

In ihrer Stimme lag ein Hauch von Hysterie, sodass er das Paket wieder sinken ließ. Seine belustigte Miene wandelte sich in eine besorgte.

»Stimmt etwas nicht mit dem Paket? Was ist los?«

Sie wich seinem Blick aus, entriss ihm hastig das Geschenk und drückte eilig die Tür zu. Im letzten Moment griff Tom nach der Klinke und hielt dagegen.

»Lena, wenn du Hilfe brauchst, gib mir Bescheid, okay?«, rief er durch den Spalt.

»Jaja, danke!«, antwortete sie hastig, während sie die Tür ins Schloss schob.

Als sie endlich allein war, stellte sie das Geschenk auf ihren Schreibtisch, setzte sich auf den Bürostuhl und starrte es an, als handelte es sich um ein Tier von einem fremden Planeten.

Ob ich es wirklich öffnen soll? Was, wenn da ein Irrer eine Bombe drin versteckt hat oder Gift oder irgendetwas Perverses?

Das Handy klingelte und Lena zuckte vor Schreck zusammen. Genervt kontrollierte sie das Display. Mama. Ihre Mutter war mit der besonderen Begabung gesegnet, in den unpassendsten Momenten anzurufen. Vielleicht lag es daran, dass sie nach der Scheidung allein in einem großen Haus lebte – mehrere Hundert Kilometer entfernt von Frankfurt – und in der Stille ihrer vier Wände einen siebten Sinn für das falsche Timing entwickelt hatte. Doch Brigitte würde sich jetzt gedulden müssen; vor lauter Aufregung wäre Lena kaum in der Lage, ein vernünftiges Telefongespräch mit ihrer Mutter zu führen. Sie schaltete das Handy stumm und widmete sich wieder dem Paket.

Ihre Hände streiften zitternd über das weiße Geschenkpapier, bis sie die rote Schleife auf der Oberseite erreichten.

Lenas Herz pochte fast hörbar in ihrem Brustkorb, als sie das purpurne Geschenkband löste. Dann zog sie vorsichtig das weiße Papier auseinander. Eine gläserne Kugel kam zum Vorschein. Was sie darin erblickte, ließ ihr für eine Sekunde den Atem stocken.

In einem Bett aus roten und weißen Schmucksteinen steckte ein wundervoll dekorierter Blumenstrauß. Accessoires wie Schleifen, Kristalle und Muscheln waren farblich perfekt aufeinander abgestimmt. Die Kugel ruhte auf einem Sockel aus schwarzem Holz. Gebannt von dieser kleinen Welt im Glas, betrachtete Lena für einige Minuten fasziniert das wundervolle Geschenk. Erst als sie den Sockel anhob, um die schillernden Perlen auf der gegenüberliegenden Seite genauer zu betrachten, entdeckte sie einen Umschlag, der an der Unterseite befestigt war. Wieder schlug ihr Herz mehrfache Saltos. Hier würde sie vielleicht endlich eine Antwort auf das Rätsel finden, das ihr dieses Präsent bescherte. Lena zog einen Brief aus dem Umschlag und entfaltete ihn. Sie musste sich zwingen, die Hände ruhig zu halten, um den in sauberer Handschrift geschriebenen Text lesen zu können.

»Liebe Lena,

ich hoffe, ich habe Dich nicht erschreckt mit meinem Geschenk. Du hast Dich mit mir bereits unter meinem Nickname ›Topolino‹ unterhalten und mir dabei netterweise deinen echten Namen genannt. Da Du mir ja erzählt hast, dass Du in einem Frankfurter Studentenwohnheim wohnst, war es dank meiner Beziehungen nicht weiter schwer, Deine Adresse herauszufinden. Ich hoffe, Du verzeihst mir meine Neugier auf Dich und meine ungewöhnliche Überraschungsaktion. Sicher erhältst Du viele Zuschriften, da dachte ich, dass ich mir schon etwas Besonderes einfallen lassen muss, um ein Date mit Dir zu ergattern.

Ich freue mich schon auf Deine Antwort.

Liebe Grüße

Julio«

Ein riesengroßer Stein der Erleichterung fiel Lena vom Herzen. Es war kein perverser Stalker, der sie hier beschenkt hatte, sondern jemand, den sie offensichtlich vom Chatten her kannte. Sie erinnerte sich an die Nachrichten, die sie mit Topolino ausgetauscht hatte – er hatte ihr dabei auch seinen echten Namen verraten: Julio Rodriguez. Die Unterhaltungen mit ihm waren nett gewesen, dennoch war er ihr unter den vielen Kontakten nicht besonders aufgefallen. Aber durch dieses Geschenk war es ihm gelungen, aus der Masse an Zuschriften deutlich hervorzustechen.

Lena setzte sich an ihren Computer und las erneut alle Mails durch, die sie von Topolino erhalten hatte. Sie erinnerte sich, dass er eine mittelständische Firma leitete. Viel konnte sie sich allerdings nicht darunter vorstellen, denn ihr Blick reichte kaum über das Studentendasein als angehende Biologin hinaus. Lena liebte das abwechslungsreiche Studium und fühlte sich wohl in ihrem kleinen Zimmer mit Waschbecken, Bett, Schreibtisch, begehbarem Kleiderschrank und Bücherregal. Die Möbel waren fast komplett in Weiß gehalten, die Türen von Zimmer und Schrank mit grünem Lack überzogen, das Bett ließ sich tagsüber zu einer Couch umfunktionieren. Jedes der vier Stockwerke wurde von einem schlauchförmigen Flur durchzogen, in dem sich rechts und links insgesamt zwölf Zimmer aufreihten, am Ende des Ganges befand sich die Gemeinschaftsküche und gleich daneben lag das Bad mit zwei Duschkabinen sowie drei Toiletten.

Eine neue Nachricht erschien im E-Mail-Postfach. Der Nickname Topolino sprang ihr förmlich ins Gesicht.

»Möchtest Du mit mir chatten?«, stand im Header, die Mail selbst war leer.

Aufgeregt öffnete Lena das Chatfenster und schrieb an Topolino.

> Hallo!

> Schön, dass du dich meldest! Wie hat dir mein Geschenk gefallen?

> Sehr gut. Vielen Dank! Es ist wundervoll.

> Freut mich. Was machst du gerade?

> Nichts Besonderes. Im Moment chatte ich mit dir ;-).

> Und das nennst du nichts Besonderes?

Reingefallen! Aber bestimmt war das humorvoll gemeint, oder?

Es war so schwer, zwischen den Zeilen zu lesen, wenn kein Emoji dabeistand.

> So war das nicht gemeint.

> Natürlich nicht! Ich mache nur Spaß! ;-) Ich stehe zu deiner Verfügung. Was möchtest du wissen?

Natürlich wollte sie mehr über ihn erfahren. Da fielen ihr diese Onlinetests ein, mit denen man angeblich den perfekten Traumpartner ermitteln konnte. Ohne weiter darüber nachzudenken schrieb sie:

> Was sind deine größten Stärken und Schwächen?

Oje, hoffentlich ist diese Frage nicht zu persönlich, wo wir uns doch kaum kennen, überlegte sie im selben Augenblick, als sie den Satz wegschickte.

Tatsächlich ließ die Antwort unangenehm lange auf sich warten. Schon wollte sie sich für die persönliche Frage entschuldigen, als sein Text im Chatfenster auftauchte:

> Hoppla, wird das jetzt eine SWOT-Analyse? Also gut, meine Persönlichkeit kurz zusammengefasst: Ich bin ungeduldig, neugierig, erfolgreich, eloquent, emotional, charmant und manchmal pedantisch. Was ich überhaupt nicht leiden kann ist Besserwisserei. Und wie siehts mit dir aus? Wie würdest du dich beschreiben?

Lena atmete tief durch. Topolinos Antwort klang sympathisch und ehrlich – weshalb hätte er sich auch sonst als Pedant geoutet? Und Menschen ohne kleine Macken gibt es ja schließlich nur im Märchen, entschuldigte sie ihn innerlich und tippte dann ihre Antwort.

> Als romantisch, natürlich, kreativ und sensibel. Und was ist überhaupt eine SWOT-Analyse?

> SWOT = Strengths (Stärken), Weaknesses (Schwächen), Opportunities (Chancen) und Threats (Bedrohungen) – ein Instrument der strategischen Planung. Was du beschreibst, sind alles Eigenschaften, die ich am weiblichen Geschlecht sehr schätze. Nun habe ich eine ungefähre Vorstellung von deiner Art, und hm … ich weiß, so etwas fragt man eigentlich nicht direkt … aber wie darf ich mir ein Bild von Lena Sommer vorstellen? Wie siehst du aus?

> Blonde, glatte Haare und blaue Augen. Ich würde mich zumindest nicht als hässlich bezeichnen. Und du?

> Wie die meisten Männer spanischer Herkunft bin ich schwarzhaarig. Dafür sind meine Augen aber grün.

> Oh, deine Eltern sind Spanier? Beide?

> Ja, aber sie sind nach Deutschland eingewandert, bevor sie mich zur Welt gebracht haben.

> Hätte ich mir eigentlich denken können, beim Vornamen Julio.

> Weißt du was, morgen Nachmittag fällt ein Termin aus, da könnte ich eventuell etwas Zeit freischaufeln. Wenn du Lust hast, können wir uns treffen.

Lena hielt einen Moment die Luft an. Julio hatte sie neugierig gemacht und soweit sie das einschätzen konnte, schien er in Ordnung zu sein.

> Okay! Und wo?

> Wie wäre es mit dem Palmengarten? Das passt doch zu einer Biologin.

Lena lächelte. Die Idee gefiel ihr, zumal der Palmengarten in der Nähe der Uni lag.

> Gerne! Mein Praktikum dauert nur bis 12 Uhr, nachmittags habe ich frei.

> Wollen wir uns um 15 Uhr vor dem Osteingang treffen?

> Ja, das ginge. Woran erkenne ich dich?

> Ich komme direkt von einem Geschäftstermin, deshalb werde ich einen Anzug tragen. Wahrscheinlich gehen nicht viele Leute um diese Uhrzeit in Businesskleidung in den Palmengarten.

> Gut, dann halte ich Ausschau nach einem dunkelhaarigen Mann im Anzug.

> Ich freue mich auf dich. Bis morgen, Lena. Ich muss jetzt Schluss machen, ein wichtiges Meeting steht an. Tschüss.

> Tschüss!

Topolinos Icon verschwand aus dem Chatfenster. Lena scrollte noch einmal nach oben, um den Text in eine Datei zu kopieren. Immer wieder las sie die Zeilen durch und versuchte dabei, ein Bild von diesem Mann zu kreieren. Vielleicht hätten sie doch lieber Fotos austauschen sollen. Nach ihrer letzten Erfahrung war ihr allerdings klar, dass auch ein Bild über die Wirklichkeit hinwegtäuschen konnte.

Plötzlich klopfte es an der Tür.

»Ja?«, rief Lena, mit den Gedanken noch immer bei ihrer neuen Bekanntschaft. Tom lugte herein.

»Wir sammeln Spieler für die Uno-Runde. Machst du mit?«

»Okay«, antwortete sie.

Ein Strahlen erhellte sein Gesicht. Uno artete in der Studentenrunde immer in jede Menge Gelächter und gute Laune aus. Auf ihrem Stockwerk fühlte sich Lena manchmal wie in einer kleinen Familie. Dennoch konnte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie diese allgegenwärtige unerfüllte Sehnsucht in sich trug – eine Leere, die sie mit der Liebe und Geborgenheit des perfekten Partners zu füllen hoffte.

Lena fuhr das Notebook herunter und folgte Tom in die Küche, wo Karin bereits die Karten mischte. Sarah und Bernd nickten ihr freudig zu. Sie zog einen der orangen Plastikstühle zurück und setzte sich dazu.

Die fünf Karten, welche vor ihr auf dem Tisch lagen, versprachen ein amüsantes Spiel und tatsächlich war Lena in den folgenden beiden Stunden so abgelenkt, dass das Treffen mit Topolino fast völlig in den Hintergrund geriet. Am Abend aßen die Studenten den gemeinsam gebackenen Zwiebelkuchen, während Musikvideos aus dem Fernseher die Küche beschallten. Erst als Lena später in ihrem Bett lag, begannen ihre Gedanken um Topolino alias Julio zu kreisen.

Ihr Herz hüpfte, wenn sie nur an ihn dachte, und gleichzeitig ermahnte sie sich immer wieder, nicht zu viel in ihn hineinzuprojizieren. Er könnte sich schließlich als große Enttäuschung entpuppen. Und dann war da auch noch die Angst vor dem Unbekannten: ein fremder Mann und eine noch nicht geschriebene Zukunft.

Date mit Malheur

Verführung ist die gewaltlose Kunst der Manipulation.

 

 

Noch eine Stunde, dann würde Lena Julio gegenüberstehen. Bisher hatte sie es geschafft, die Aufregung einigermaßen im Zaum zu halten. Ein wenig schüchtern und zurückhaltend wie sie war, bevorzugte sie einen schlichten Kleidungsstil – Jeans, Sneakers, Shirt –, doch für das Date kam die Standardkluft nicht infrage, denn natürlich wollte sie einen guten ersten Eindruck hinterlassen. Nachdem der Frühling gerade noch den letzten Schnee geschickt hatte, waren die Temperaturen auf einmal so stark angestiegen, dass sich das Eis nicht halten konnte. Bei 25 Grad Außentemperatur war ein sommerliches Outfit daher durchaus angebracht. Neben Hosen und Röcken baumelten drei Kleider am Bügel – ein cremefarbenes mit violetten Blumen, ein beiges und ein blaues. Dank ihrer schlanken Figur standen Lena aber auch die langen Wickelröcke, die sie während eines botanischen Praktikums in den mittelamerikanischen Tropen erworben hatte, ausgezeichnet. So wählte sie schließlich einen dunkelblauen Wickelrock und ein farblich passendes, bauchfreies Top. Mit Schminke hatte sie sich noch nie richtig wohlgefühlt, aber ein wenig Rouge und transparenter Lipgloss mussten dann doch herhalten, um ihre Fassade ein wenig aufzuwerten.

Die Zeit schritt unaufhörlich voran, trieb ihre Nervosität immer weiter. Irgendwann hielt Lena es nicht mehr aus. Sie schlüpfte in ein paar Sneakers und überließ das Zimmer sich selbst. Da sich sowohl Uni als auch Studentenwohnheim in der Nähe des Palmengartens befanden, legte sie den Weg zu Fuß zurück. Es blieb zwar noch genügend Zeit, aber lieber wollte sie ein wenig auf Topolino warten, als zu spät zu kommen.

 

Lena stand etwas abseits des Eingangs und beobachtete angespannt die Leute auf der Straße. Das flaue Gefühl im Magen wollte nicht nachlassen. Unruhig verlagerte sie ihr Gewicht von einem Bein auf das andere, ohne Aussicht darauf, jemals eine entspannte Körperhaltung zu finden.

Verflixt, ich drehe noch durch! Wie werde ich diese schreckliche Nervosität los?

Zahlreiche Männer im Anzug wanderten an ihr vorbei – was wollten die nur hier? Offenbar führte seit Kurzem die Umleitung für in Stau geratene Geschäftsleute ausgerechnet am Palmengarten vorbei. Jedes Mal, wenn sich ein Anzugträger näherte, beschleunigte sich Lenas Herzschlag, in ihren Achselhöhlen sammelte sich unangenehme Feuchtigkeit und die Nervosität schien sich förmlich an einem Reibeisen aufzuwetzen. Lena versuchte, jedes Gesicht unauffällig zu mustern.

Ein dunkelhaariger Mann in schwarzem Anzug näherte sich dem Eingang des Palmengartens und sah sich dabei aufmerksam um.

Das könnte er sein! Aber seine Augen … O Gott, der hat so einen kalten Blick! Bitte nicht! Hoffentlich ist das nicht Topolino!, betete sie innerlich.

Der Fremde musterte Lena flüchtig und ging dann wortlos an ihr vorüber. Noch während sie erleichtert aufatmete, kam bereits ein weiterer Geschäftsmann auf sie zu. Seine dunkelblonden Haare waren zu einem Seitenscheitel gekämmt, das schmale Gesicht wirkte blass.

Der sieht nicht gerade nach südländischer Herkunft aus, das wird er wohl eher nicht sein, dachte sie und sah sich weiter um. Doch der Mann steuerte geradewegs auf sie zu. Lena sah forschend zu ihm auf, als er sie ansprach.

»Entschuldigung, haben Sie vielleicht Feuer?«, fragte er und blitzte die Studentin mit seinen tiefblauen Augen einen Tick zu charmant an.

Obendrein wurde ihr die Zweideutigkeit seiner Frage bewusst. Aber für derartige Flirts hatte sie jetzt absolut keinen Kopf und außerdem wirkte dieser Typ nicht besonders anziehend.

»Äh, nein, ich rauche nicht«, antwortete sie daher knapp und senkte den Blick Richtung Bordsteinkante, wo ein verklebter Kaugummi ihre Aufmerksamkeit gefangen hielt.

Der Fremde zog wortlos ab. Lenas Aufregung stieg von Minute zu Minute weiter an. Sie blickte in verschiedene Gesichter, aber bisher war nicht mal ein Ansatz ihres Traumtypen dabei gewesen. Ihre Nerven lagen so blank, dass sie kurz davor war, einfach wieder zu verschwinden.

Wieso haben wir bloß keine Handynummern ausgetauscht?

Dann hätte sie jetzt wenigstens eine SMS schicken können, fragen, wo er blieb; oder er hätte Bescheid geben können, wenn ihm etwas dazwischengekommen wäre.

Wie spät ist es eigentlich?

Lena zückte ihr Handy, um nach der Zeit zu sehen: 15:15 Uhr. Da verdeckte plötzlich eine rote Rose das Display. Reflexartig schob sie das störende Gewächs beiseite, doch im nächsten Moment zuckte sie zusammen und sah auf. Sie blickte in ein freundliches Gesicht, das aus einer Modezeitschrift entsprungen sein musste. Die tiefschwarzen Haare bildeten einen mystischen Kontrast zur grünen Iris seiner Augen und der leicht gebräunte Teint deutete auf einen ausgiebigen Urlaub in der Sonne hin.

»Lena Sommer?«, fragte mit einer tiefen, warmen Stimme.

»Topolino?«, flüsterte sie kaum hörbar.

Sie musste sich zurückhalten, um ihm nicht überschwänglich in die Arme zu fallen, denn nach der angespannten Warterei fühlte sie sich bei seinem Anblick urplötzlich wie auf eine Wolke der Glückseligkeit katapultiert. Mit einer derart positiven Überraschung hatte sie nicht gerechnet und sie konnte gar nicht aufhören, ihn selig anzugrinsen. Julio lächelte sie ebenfalls freudig überrascht an, doch irgendwann wurde Lena bewusst, wie peinlich lange sie sich schon in die Augen sahen. Hitze schoss in ihre Wangen. Schüchtern senkte Lena den Blick – mal wieder zur Bordsteinkante. Dort hatte sich zum Kaugummi die rote Rose gesellt, die Lena Topolino versehentlich aus der Hand gewischt hatte.

»Du hast etwas verloren«, bemerkte er, bückte sich und reichte Lena die Blume.

»Danke«, antwortete sie und kicherte verlegen.

»Ich konnte die Verkäuferin im Blumenladen nur mit Mühe davon abhalten, mir ihre gesamte Lebensgeschichte zu erzählen, deshalb komme ich leider etwas zu spät. Tut mir leid«, entschuldigte er sich mit einem so charmanten Lächeln, dass Lena förmlich dahinschmolz.

»Kein Problem! Ich warte noch nicht lange«, log sie.

Dieses Date entschädigte sie voll und ganz für die qualvolle Warterei, die ihr wie eine nicht enden wollende Ewigkeit vorgekommen war. Aber das spielte keine Rolle mehr.

»Wollen wir reingehen?«, fragte Julio, wobei er zum Palmengarten deutete.

Um diese Uhrzeit herrschte wenig Betrieb, so dauerte es nicht lange, bis sie drin waren.

»Als Biologin kennst du dich doch bestimmt gut mit den Pflanzen hier aus, oder?«, wollte Julio wissen.

»Na ja, es geht. Die Tier- und Pflanzenwelt ist so vielfältig, da kann man auch als Biologin nicht alles kennen. Außerdem verwechseln viele Leute Biologie mit Gartenbau und glauben, ich müsste Obstbäume beschneiden können oder mich mit der Pflege ihrer Zimmerpflanzen auskennen«, antwortete Lena. »Aber hier wachsen schon ein paar Pflanzen, über die ich dir etwas erzählen könnte, wenn es dich interessiert.«

»Natürlich lasse ich mich gerne von Ihnen führen, Frau Sommer«, scherzte Julio mit einem Augenzwinkern.

Die beiden wanderten an den Wasserspielen vorbei, durch den Rosengarten, wo die ersten Blüten ihre Knospen entfalteten. Offenbar hatte der späte Schnee keinen Schaden angerichtet. Sie umrundeten den kleinen See und setzten sich schließlich im Palmenhaus auf eine Bank. Die feuchtwarme Luft war erfüllt vom Plätschern eines künstlich angelegten Wasserfalls, der sich in einen Seerosenteich ergoss. Wäre nicht die Glaskuppel gewesen, hätte man tatsächlich glauben können, man befände sich im tropischen Regenwald. In einem Käfig hockten zwei schneeweiße Kakadus. Einer von ihnen rief hin und wieder »Hallo Einstein!«.

»Der Vogel kann tatsächlich sprechen«, staunte Julio. »Ich muss gestehen, in Biologie war ich nie besonders gut. Ich kann mich daran erinnern, dass die Lehrerin einmal fragte, woraus der Glaskörper des Auges besteht, und rate mal, was ich geantwortet habe …«

»Hm, aus Glas?«, mutmaßte Lena lachend.

»Genau«, bestätigte er.

Dabei blickte Julio sie an, als müsste er sich sehr zurückhalten, sie nicht zu küssen. Dabei hätte sich Lena am liebsten im Strahlen seiner grünen Augen verloren. Er atmete hörbar tief durch.

»Um ehrlich zu sein, hatte ich mir große Sorgen gemacht, wie dieses Treffen verlaufen würde, denn Marika, meine Sekretärin, meinte, ein Mann, der im Anzug beim Date erscheint, ginge bei ihr gar nicht. Außerdem war ich ziemlich nervös. Ich meine, du warst mir im Chat zwar sehr sympathisch, aber man weiß ja trotzdem nicht, was für ein Mensch sich dahinter verbirgt«, gestand er.

»Ja, mir ging es genauso. Aber das mit dem Anzug ist kein Problem.«

»Nun, ich bin auch alles andere als enttäuscht«, sagte er und sah Lena dabei so tief in die Augen, dass ihr abwechselnd heiß und kalt wurde. »Es ist schön hier«, bemerkte er lächelnd. »Außerdem ist die Atmosphäre wirklich sehr erholsam. Bei meinem beruflichen Stress sollte ich öfter herkommen.«

Julio lehnte sich lässig zurück und schloss genießerisch die Augen, was Lena die Gelegenheit gab, ihn ungestört zu betrachten. Sie saß knapp einen halben Meter weit weg neben ihm auf der Bank und konnte aus dieser Entfernung sogar die winzigen Bartstoppeln in seinem Gesicht erkennen. Die Brauen waren ungewöhnlich dicht, seine Lippen ebenmäßig, voll und verführerisch. Als er die Lider öffnete, ertappte er Lena beim Starren. Sie lachte beschämt und sprang auf.

»Wollen wir weitergehen?«, fragte sie, um abzulenken.

»Okay. Du bist mein Guide«, antwortete er und erhob sich ebenfalls.

Sie verließen das Palmenhaus, streiften ein wenig durch die Gärten und betraten dann die Treibhäuser mit den verschiedenen Klimazonen wie Trockenwüste, tropischer Tieflandregenwald und Nebelwald.

»Das dort sind Tillandsien. Wie viele andere Bromelienarten wachsen sie nicht in der Erde, sondern epiphyt, also auf anderen Pflanzen, vorzugsweise Bäumen. Das Besondere an den Tillandsien ist, dass sie das Wasser nicht über Wurzeln, sondern über besondere Haare aufnehmen, die die gesamte Oberfläche bedecken«, erklärte Lena.

Julio nickte interessiert und musterte dann einen der Schaukästen.

»Sind das nicht fleischfressende Pflanzen? Sonnentau und Venusfliegenfalle?«, fragte er.

»Ja, stimmt. Du kennst dich ja doch ganz gut aus«, staunte Lena.

»Eigentlich nicht, steht ja dort«, gab Julio grinsend zu.

»Oh, ach so«, kicherte Lena mit einem Blick auf die Beschilderung.

Sie fühlte sich sehr wohl in Topolinos Gegenwart und immer mehr Schmetterlinge flatterten in ihrem Bauch umher.

Julios Smartphone vibrierte in seiner Brusttasche.

»Entschuldige, Lena, das ist wichtig. Da muss ich mal kurz rangehen«, erklärte er und sie nickte verständnisvoll.

Während Julio einem seiner Vertriebsleute erklärte, wie er mit dem Kunden zu verfahren hatte, betrachtete Lena weiter die Pflanzen in den Schaukästen. Sie verstand nur die Hälfte des Telefonats, aber es klang äußerst professionell und Julio sprach beeindruckend wortgewandt, was die Zahl der Schmetterlinge in Lenas Bauch weiter anwachsen ließ.

»Hast du Hunger?«, fragte er plötzlich direkt hinter ihr.

Mit dem Blick in den Schaukästen versunken hatte sich Lena dermaßen in ihren Träumereien verloren, dass sie das Ende des Gesprächs gar nicht bemerkt hatte. Ein wenig erschrocken fuhr sie herum und blickte in seine grünen Augen, die ihr ein warmes Strahlen schickten.

»Ja«, antwortete sie heiser und kämpfte gegen die Hitze auf ihren Wangen.

»Hier um die Ecke gibt es einen exzellenten Italiener. Darf ich dich als Gegenleistung für diese kompetente botanische Führung zum Essen einladen?«, fragte Julio.

Für Lena war es ein Ding der Unmöglichkeit, ihm dies abzuschlagen.

»Ja, gerne«, antwortete sie und schwebte losgelöst von jeglicher Bodenhaftung neben ihm her.

Dabei berührten sich wie zufällig ihre Hände, und als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, streichelte Julio mit einem Finger über Lenas Handrücken. Ein warmer Schauer durchflutete sie. In ihrer Aufregung wagte sie es nicht, ihn anzusehen, stattdessen tat sie so, als hätte sie es nicht bemerkt.

 

Julio führte Lena in ein piekfeines Restaurant aus, in dem er Stammkunde sein musste, da ihn das Personal äußerst zuvorkommend mit »Herr Rodriguez« begrüßte. Mit ihrem monatlichen Auskommen war es der Studentin nicht einmal möglich, in einem einfachen Schuppen essenzugehen. Ein Etablissement wie dieses, das mit zwei Sternen warb, hatte sie in ihrem Leben noch nicht betreten. Etwas verunsichert blickte sie an sich hinab. Im Wickelrock kam sie sich reichlich fehl am Platz vor, zwischen den festlich gedeckten Tischen und den fein gekleideten Gästen. Auch konnte Lena den Eindruck nicht abschütteln, dass der Kellner sie hinter seiner freundlichen Fassade abfällig musterte, während er ihr den Stuhl zurechtrückte.

»Ich bin nicht gerade passend gekleidet«, bemerkte sie unglücklich, als sie endlich alleine waren.

»Natürlich bist du das. Ich verrate dir mal was: Ich war hier auch schon in zerrissenen Jeans, einfach, um ein bisschen zu provozieren. Und wie du mitbekommen hast, bin ich noch immer Stammkunde.«

»Wirklich?«, staunte Lena ungläubig.

»Anzüge sind nichts anderes als Uniformen. Jede Gruppe hat ihre eigene. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass Hippies, Teenies, Ökos und Studenten ebenfalls Uniformen tragen – eben einen für sie typischen Modestil, der andere ausgrenzt. Aber du musst wissen, zu Hause schlüpfe ich am liebsten in was Bequemes.«

Wieder eine Offenbarung, womit er bei Lena reichlich Sympathiepunkte sammelte.

»So habe ich es noch gar nicht gesehen«, gab sie zu.

Julio öffnete seine Karte.

»Ich empfehle dir das Menü Fantastica

»Gut, dann probiere ich das. Nur leider kenne ich mich mit Wein überhaupt nicht aus. Welcher würde denn dazu passen?«

»Da mach dir keine Gedanken. Wasser und Wein sind im Menü mit inbegriffen. Das erspart die Qual der Wahl.«

»Praktisch! Und so kann ich mich wenigstens nicht blamieren.«

»Immerhin gibt mir das die Gelegenheit, ein bisschen mit meinem Wissen vor dir prahlen zu können«, entgegnete er lachend. »Meine Großeltern unterhalten nämlich in Spanien ein Weingut, daher wurden mir die verschiedenen Rebsorten quasi in die Wiege gelegt.«

Der erste Gang – Garnele aus Mazara del Vallo I Kürbis – war ein kleines Kunstwerk und Lena tat es fast leid, dieses beim Essen zerstören zu müssen.

»In meiner Kindheit haben wir oft in Andalusien bei meinen Verwandten Urlaub gemacht«, erzählte er.

Lena hing förmlich an seinen Lippen und fühlte sich wie in einer anderen Welt. Julio nahm einen genießerischen Schluck vom Castello di Brolio Chianti aus der Toskana.

»Was hast du so getrieben in deinem Leben?«, wollte er von ihr wissen.

»Ich liebe das Reisen. Nach dem Abitur bin ich mit dem Zug durch Europa getourt. Eigentlich wollte ich es gemeinsam mit einer Freundin machen, aber die bekam plötzlich ein Jobangebot. Da bin ich einfach alleine los.«

»Du warst mit dem Zug ganz allein in fremden Ländern unterwegs? Verdammt mutig! Hattest du denn keine Angst?«

»Doch, manchmal schon ein bisschen. Einmal in Paris ist ein Mann gemeinsam mit mir aus der Metro gestiegen. Er hat auf mich eingeredet, ging neben mir her und ließ sich nicht abschütteln.«

»Und wie bist du ihn dann losgeworden?«

»Ich hatte Glück. Er musste ganz dringend mal, hat sich an den Wegrand gestellt und ich bin schnell davongegangen. Eine nette Französin hatte das anscheinend mitgekriegt, sie hat neben mir angehalten und mich mit ihrem Auto bis zur Jugendherberge gebracht. Manchmal denke ich, die hat mir mein Schutzengel geschickt.«

»Vielleicht war es ja tatsächlich so. Mutig bist du auf jeden Fall.«

»Na ja, es geht. Ich hatte seit der Pubertät ein großes Problem: Ich war ziemlich schüchtern. Aber wenn man alleine unterwegs ist, bleibt einem oft gar nichts anderes übrig, als fremde Leute anzusprechen. Auf diese Weise habe ich mich quasi selbst ins kalte Wasser geworfen, um meine Ängste zu überwinden.«

»Also bist du zwar in sozialen Kontakten unsicher, ansonsten aber eine ziemlich furchtlose junge Frau. Eher eine Einzelkämpferin als ein Gruppentier, stimmts?«

»Ja, kann man so sagen.«

»Und weshalb bist du schüchtern geworden?«

»Ich weiß nicht … Vielleicht wegen der Scheidung meiner Eltern. Als Kind war ich ganz normal, würde ich sagen, aber später wollte ich dieses Pubertätszeug nicht mitmachen, habe mich immer mehr in mir selbst verkrochen. Weshalb das so war, weiß ich nicht genau. Außerdem sind wir früher oft umgezogen, weil mein Vater beruflich versetzt wurde. Nach der Scheidung habe ich ihn dann nicht mehr so oft gesehen und jetzt wohnen wir alle weit voneinander entfernt. In den Semesterferien besuche ich meine Eltern hin und wieder, aber all meine Verwandten wohnen weit weg.«

»Das haben wir gemeinsam. Meine Eltern sind vor ein paar Jahren wieder in ihre Heimat zurückgekehrt, sodass ich sie nur noch selten sehe. Wie ging es dir mit der Scheidung deiner Eltern?«

»Nicht so gut. Mein Papa hat wieder geheiratet. Da saßen mein Bruder und ich oft zwischen den Stühlen.«

»Das kann ich gut verstehen. Häufig werden nach der Trennung Kämpfe ausgetragen. Manche betäuben sich, lenken sich ab, verdrängen den Kummer durch eine neue Partnerschaft oder schwelgen in schmerzhaften Erinnerungen. Und fast immer sind es die Kinder, die dabei auf der Strecke bleiben. Verlustängste, verminderter Selbstwert und Zerissensein zwischen Vater und Mutter sind die Folge. Musstest du so etwas auch durchmachen?«

»Ja«, antwortete Lena erstickt.

Ihre Augen wurden feucht. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so mit einem Menschen über ihre Kindheitsprobleme gesprochen zu haben. Julio hatte ein tief vergrabenes Leid berührt und damit ihr Herz geöffnet. Zum ersten Mal fühlte sie sich voll und ganz verstanden. Er stellte Fragen und brachte ihr so viel Mitgefühl entgegen, dass sie ihren ganzen Kummer vergangener Tage ausschüttete, bis ihr bewusst wurde, dass das für ein erstes Date wohl nicht gerade angebracht war. Doch mit Julio hatte sich alles so natürlich und vertraut angefühlt.

»Jetzt habe ich so viel von mir erzählt. Wie war denn deine Kindheit?«, wechselte Lena schließlich das Thema.

Er schenkte ihr ein wohlwollendes Lächeln und begann dann vom sonnigen Andalusien und seiner Familie zu erzählen. Es wurden weitere Gänge serviert, einer köstlicher als der andere, und Lena erfuhr, dass Julio vor seiner Vertriebskarriere zum Doktor der Psychologie promoviert hatte.

Das Dinner hätte traumhaft enden können, wenn da nicht plötzlich eine Fliege begonnen hätte, über Lenas Teller immer enger werdende Kreise zu ziehen.

»Lucilia sericata«, bemerkte sie – die Biologie ließ sich eben auch beim Essen nicht so leicht ablegen.

»Wo kommt die denn her?« Julio runzelte die Stirn.

»Das leckere Essen teile ich jedenfalls nicht mit ihr«, erklärte Lena und versuchte das Insekt mit einer hektischen Handbewegung zu verscheuchen – zu hektisch, denn sie erwischte das Weinglas, das umkippte. Ein ordentlicher Schwung Rotwein schwappte über den Tisch hinweg. Lena quiekte erschrocken auf und Julio fuhr so ruckartig vom Stuhl hoch, dass dieser geräuschvoll umfiel. Damit war er immerhin gerade noch der roten Flut entkommen, die sich nun über die Tischkante hinweg auf den Boden ergoss.

O Gott! Nein!

Lena schlug die Hände vor ihr glühend heißes Gesicht. Es war gespenstisch still geworden um sie herum. Gleich drei Kellner eilten herbei.

Wie ungeschickt! Und das in diesem Restaurant! Oje, alle Leute starren uns an.

Sie wagte kaum, Julio anzusehen. Immerhin, er ging auf sie zu und griff nach ihrer Hand.

»Ich regle das. Aber da wir ja ohnehin fast fertig sind, gehen wir jetzt besser.«

»Paolo, bring mir die Rechnung!«, sagte er zu einem der Kellner.

Lena sah verlegen zu, wie sich das Personal um Schadensbegrenzung bemühte. Paolo kehrte mit einem schwarzen Etui zurück, in das Julio mehrere große Scheine steckte.

 

Vor der Tür atmete Lena ein wenig auf. Sie war froh, den verstohlenen Blicken der Gäste entkommen zu sein. Das Malheur war ihr unsagbar peinlich und nun fürchtete sie, dass Julio einen höflichen Weg suchen würde, um sie wieder loszuwerden. Er lächelte jedoch aufmunternd.

Das kann doch nicht gespielt sein, oder?

»Darf ich dich auf den Schreck hin nach Hause begleiten, Lena?«, fragte er zuvorkommend.

»Ja, gerne«, antwortete sie erleichtert.

Sicher würde er ihr das nicht anbieten, wenn er sie loswerden wollte. Sie gingen nebeneinander her, überquerten einen Spielplatz.

»Eine Runde Wettschaukeln?«, schlug er spontan vor und lief auch schon zu den Spielgeräten, um sich auf einer der beiden Schaukeln niederzulassen.

Lena traute ihren Augen kaum. Es war ein ziemlich skurriles Bild, wie der Geschäftsführer einer Softwarefirma im Anzug lässig auf dem Spielgerät herumschlenkerte – herrlich verrückt, wie Lena fand.

Sie setzte sich lachend daneben und schaukelte drauf los, während Julio nur leicht hin- und herschwang und sie betrachtete.

»Du schaukelst ja gar nicht!«, protestierte sie.

»Es war nur ein Scherz, auf den du reingefallen bist«, lachte er. »Aber jetzt sollten wir besser den Platz für die Kinder räumen, die dort schon ungeduldig warten.«

Er deutete auf ein älteres Ehepaar, welches auf der Spielplatz-Parkbank saß und kopfschüttelnd zu ihnen herüberblickte. Lena kicherte belustigt.

Bis auf ihr blödes Missgeschick hätte das Date nicht besser laufen können. Julio war so herrlich locker, konnte sogar ein wenig kindisch sein, sah umwerfend gut aus und dennoch steckte in ihm ein erfolgreicher Geschäftsmann. Kaum zu glauben, dass es möglich war, all diese Eigenschaften in einer einzigen Person zu vereinen.

Eine Studentenparty und ein Geständnis

Manchmal macht die Sehnsucht nach Zuwendung abhängig wie eine Droge.

 

 

Aufgeregt öffnete Lena ihre Tür für Julio. Sie fragte sich, was der erfolgreiche Unternehmer von ihrem einfachen Zimmer im Studentenwohnheim halten würde.

»Das ist also dein Reich …«

Er begutachtete den rudimentär eingerichteten Raum, musterte das mit Büchern vollgestopfte Regal und blieb dann an der Bettcouch hängen, die sie zum Glück noch rechtzeitig von Decken und Wäsche befreit und zur Sitzgelegenheit mit einigen bequemen Kissen umgebaut hatte. Da Lena nicht erkennen konnte, ob ihm missfiel, was er sah, stand sie unschlüssig da und kicherte unsicher. Schließlich ließ sie sich auf ihrer Couch nieder. Julio nahm das als Einladung, sich ebenfalls zu setzen, und so hockten sie nebeneinander, mit einem Sicherheitsabstand von einem halben Meter.

»Lena, ich …«, begann Julio, doch in diesem Augenblick klopfte es an der Tür.

Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern, erhob sich und öffnete. Im Flur stand Tom und plapperte sofort drauf los:

»Lena, wo bleibst du? Wir brauchen dich unten.«

»Unten, wieso?«, fragte sie ratlos.

Da klingelte Julios Smartphone. Tom, der den Mund bereits zu einer Antwort geöffnet hatte, klappte ihn wieder zu und versuchte, ins Innere ihres Zimmers zu linsen. Lena folgte reflexartig seinem Blick, von hier aus konnte man aber gerade mal ein Bein von Julio sehen.

»Besuch?«, wollte Tom mit unverhohlener Neugier wissen.

»Ja, aber was willst du überhaupt?«, fragte Lena ungeduldig.

»Hast du schon vergessen, dass wir heute eine Party im Keller feiern? Du wolltest bei der Vorbereitung helfen.«

Das hatte sie in der Aufregung tatsächlich vollkommen verdrängt.

»Ouuu!«, machte sie verlegen.

»Bring ihn doch einfach mit! Oder ist er nicht vorzeigbar?«, scherzte Tom.

Da erhob sich Julio, gesellte sich zu Lena und schenkte den beiden Studenten ein charmantes Grinsen. Tom war bei seinem Anblick verstummt. Einen smarten Manager im Anzug in Lenas Studentenzimmer anzutreffen, hatte er sicherlich nicht erwartet. Ihr entschlüpfte ein belustigtes Kichern.

»Hey, ich bin Julio«, grüßte dieser und gab sich dabei weit mehr studentisch als geschäftsführerisch.

»Tom.«

Lenas Mitbewohner nickte Julio freundlich zu.

»Ich komme gerne, aber vorher sollte ich meine Klamotten wechseln, sonst falle ich zu sehr aus der Rolle … schließlich war ich auch mal Student«, erklärte Julio.

»Das heißt, du fährst zuerst nach Hause, um dich umzuziehen?«, fragte sie.

»Gut kombiniert, Frau Sommer. Wann beginnt denn die Party?«, wollte Julio wissen.

»Um neun«, antworteten Tom und Lena synchron.

Während ihr Mitbewohner in die Küche lief, um die Kiste mit den Brezeln zu holen, begleitete Lena Julio den Flur entlang und die Treppen hinunter bis zum Ausgang.

»War echt schön mit dir, ich freue mich auf die nächste Runde«, sagte Julio. Zum Abschied streichelte er mit einem Finger sanft über ihre Wange, dann drehte er sich um und ging davon.

Mit der Brezelkiste im Arm trat Tom an Lenas Seite.

»Prima, dann kannst du ja jetzt endlich mithelfen«, sagte er ein wenig genervt.

Lena schüttelte leicht verwirrt den Kopf, folgte dann aber Tom, der schon die Treppe zum Partykeller hinunterstieg.

»Sag mal, wie kommst du denn an den?«, wollte er wissen.

Täuschte sie sich oder lag da eine Note des Missfallens in seinem Ton?

Was hat er? Es scheint ja fast so, als wäre er eifersüchtig.

Irgendwie schämte sich Lena für ihre Kontaktanzeige im Internet, daher wollte sie Tom nichts Näheres über ihr Date erzählen.

»Hab ich im Palmengarten gefunden«, antwortete sie wahrheitsgemäß.

»Ich wusste gar nicht, dass dort auch so was wächst. Wie nennt sich denn diese Art? Der gemeine Zweireiher?«

Lena kicherte. Humor hatte Tom, das musste sie ihm lassen. Im geräumigen Keller des Studentenwohnheims befand sich ein großer Partyraum. Karin und Sarah waren bereits damit beschäftigt, Getränke auf die drei Kühlschränke zu verteilen, während Bernd die Musikanlage testete.

»Da seid ihr ja endlich. Was habt ihr da oben so lange miteinander getrieben?«, grüßte Bernd, wackelte dabei mit den Augenbrauen und grinste extrabreit.

»Der Gentleman schweigt und genießt«, gab Tom zurück und schnitt eine Grinsegrimasse, die die zwei Reihen seiner weißen Zähne zur Bewunderung freigab.

»Gentleman? Informatikstudent trifft es wohl eher.«

»Du kannst schon mal die Girlanden dort aufhängen!«, rief Karin von der Bar herüber.

 

* * *

 

Wenige Stunden später war es so weit: Die ersten Studenten trudelten ein und bestellten Getränke an der Bar. Außerdem gab es kleine selbst gebackene Minipizzas, Brezeln und Sandwiches, für deren Verkauf sich Lena angeboten hatte. Zwei Pärchen tanzten und immer mehr Studenten strömten herein. Dann plötzlich stand er neben ihr: Julio. Beinahe hätte sie ihn in der leicht zerschlissenen Jeans und dem schwarzen Hemd nicht wiedererkannt. Die zuvor ordentlich zurechtgekämmten pechschwarzen Haare wirkten wie durcheinandergeschüttelt und dennoch folgten sie einer Ordnung, die weit davon entfernt war, ungepflegt zu wirken. Lena schluckte unwillkürlich und widerstand dem Impuls, ihm in die Arme zu fallen, nur mit Mühe. Doch durch das Strahlen in ihren Augen erübrigten sich jegliche Worte und Julio erwiderte es mit einem fröhlichen Lächeln.

»Hallo Lena!«

Hallo, wollte sie antworten, doch ihre Stimme verebbte zu einem Flüstern, das vollkommen in der Musik unterging. Vor lauter Aufregung röteten sich ihre Wangen und sie brachte gerade mal ein verlegenes Kichern zustande. Lena wusste nicht so recht, was sie sagen sollte und richtete den Blick nach unten, wo sich das Essen für den Verkauf stapelte.

»Möchtest du eine Pizza oder ein Sandwich?«, fragte sie.

»Danke, ich bin noch immer vollkommen satt. Wie lange wirst du hier noch gebraucht?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»So lange bis alles weg ist, denke ich.«

»Wenn das so ist, nehme ich doch ein Sandwich«, erklärte er grinsend und drückte Lena das Geld dafür in die Hand.

Inzwischen strömten die Studenten pulkweise herein, bevölkerten die Tanzfläche und sammelten sich an der Bar. Auch Lena wurde jetzt belagert und wusste bald nicht mehr, wo ihr der Kopf stand vor lauter Andrang. Keine halbe Stunde später war alles verkauft und Lena musste nur noch den Tisch abwischen.

»Möchtest du tanzen?«, fragte Julio, nachdem sie fertig war.

Lena nickte, doch da legte Tom von hinten einen Arm um sie und musterte Julio. Sie giggelte ein wenig verlegen.

»Ist das nicht der Typ von

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 09.02.2020
ISBN: 978-3-7487-2903-7

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