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Silene

Die dritte der Sonnen war soeben aufgegangen. Drei Sonnen tanzten um diese Welt, die erste weiß, ein heißer, heller Fleck, die zweite groß und grün, und die mittlere von dreien war das sanfte rote Auge, das sich soeben über dem Horizont geöffnet hatte. Gemeinsam nahmen sie nun den hohen gewölbten Himmel ein und ihr Licht floss ineinander und über die sanfte Hügellandschaft draußen. Diese ganze Welt badete im Licht.

Silene stand am Fenster der Station.

Sie fühlte sich schwer, doch das lag nicht an der Gravitation dieses Planeten. Schon auf der Erde hatte sie sich oft so gefühlt. Ihre Haut spannte sich über ihr Fleisch wie eine zähe Larvenhülle. Jede Bewegung schien ihr so unendlich kompliziert, als wäre dieser Körper, in dem sie steckte, nicht ihr eigener.

Aus dem Korridor hinter ihr drang das leise geschäftige Summen der Maschinen. Die Klimaanlage verströmte wohltemperierte, keimfreie und geruchlose Luft, in der Wissenschaftler aller Fachrichtungen dabei waren, diesen Planeten zu erforschen.

Als Mitglied der biologischen Abteilung sollte sie zu ihnen gehören. Aber es schien ihr, als fürchteten sie sich vor all der unirdischen Schönheit da draußen. Sie suchten in ihr bekannte physikalische Gesetze und Formeln und Systeme, in die sie das beängstigend fremdartige Leben fassen konnten, auf Strukturen reduziert, als Forschungsbericht entschlüsselt.

Sie wünschte, sie könnte hinausgehen, ohne zu denken, wie ein Kind, leer, wie ein Glas das gefüllt werden soll, wie eine Leinwand, auf die ein ganz neues Bild gemalt wird. Sie wollte hinausgehen und einfach fühlen.

Die anderen würden sie wohl nicht verstehen. Sie würden sie befremdet ansehen, vielleicht würden sie auch mitleidig lächeln über diesen aberwitzigen Gedanken und ihr raten, sich doch ein wenig auszuruhen. Und sie – sie würde sich so verhalten, wie die anderen es von ihr erwarteten. Sie würde versuchen, ihre Sprache zu sprechen, die nicht die Sprache in ihrem Inneren war. Die Worte in ihr waren so lange ohne die Resonanz ähnlicher Gedanken anderer geblieben, daß sie selbst begann, sie zu vergessen.

Silene hob ihre schwere Hand, um die Schutzjalousien wieder herunter zu ziehen und sie fühlte die Bewegung wie die der Roboterhände, die sie mühsam und konzentriert in den versiegelten Labors bediente.

Langsam zog sie die Jalousien über das leuchtende Bild herab. Sie wandte sich vom Fenster ab und ging den Korridor hinunter. Aber sie ging nicht zurück zu ihrem Arbeitsplatz. Sie ging hinunter zur großen Hauptschleuse, deren Türen sie eine nach der anderen öffnete und hinter sich schloss.

 

Niemand durfte ohne Schutzkleidung hinaus gehen. Dabei war die Strahlung der drei Sonnen kaum höher als die der Erdensonne. Ein leichter Wind fuhr durch ihr Haar. Er brachte einen Schwall von Düften, frisch, würzig und süß. Sie versuchte ihnen nachzuspüren, fast schienen sie ihr vertraut, aber sie erkannte sie dennoch nicht. Ihr Gehirn gaukelte ihr Ähnlichkeiten vor, die es doch nicht zu entdecken vermochte. Das vielfarbige Licht umfing sie mit unzähligen hellen, wärmenden Armen und malte seltsame Reflexe auf ihre Haut.

Der Boden vor der Station war von den tiefen Radspuren der Erkundungsfahrzeuge durchfurcht. Sie erinnerte sich, daß sie noch immer in Sichtweite der Station stand und lief durch den gelben glitzernden Sand hinein in das leuchtende Land. Mit jedem Schritt tanzten ihre vielfarbigen Schatten um sie. Sie drehte sich und die Schatten tanzten bis sie selbst tanzte. Um sie herum wogte Hügel über Hügel und den Schaum auf den Wogenkämmen bildete die fremdartige Vegetation.

Bislang hatten sie weder giftige Tiere noch giftige Pflanzen entdecken können. Dabei wußte man immer noch nicht, ob man die Pflanzen wirklich Pflanzen, die Tiere wirklich Tiere nennen konnte.

Hinter der nächsten Anhöhe schleuderte sie ihre Schuhe von sich und lachte über über ihren flirrenden Flug im Regenbogenlicht. Selbst der Himmel schimmerte in tausend Farben.

Sie breitete die Arme aus und die steinerne Schicht der Starre rieselte von ihrer Haut wie körniger Sand.

Auf den Wogenkämmen der Hügel schäumte violette Blütenpracht. Zumindest schien es ihr wie Blüten, was sie da sah: feinverästeltes Buschwerk trug Myriaden zarter Kelche. Doch als sie den Hügel hinauf tanzte, stoben die Blüten auf wie ein Schwarm Insekten, jede einzelne ein winziges wirbelndes Windrad. Trotzdem schienen sie zu dem Gewächs zu gehören, die filigranen Ästen waren nur ein weniges dunkler gefärbt und regten sich sacht unter dem Schwarm.

In der Senke dahinter wiegten sich grünsilberne Fächer im Wind. Sie falteten sich ein, als sie vorüber strich, genau wie echte Fächer, drehten sich auf verästelten Stielen und öffneten sich wieder. Manche waren größer als sie selbst und fächelten Schatten über sie.

Korallenartige Gewächse streckten leuchtend rote Äste in den weiten Himmel. Wärmeschwaden stiegen vom Boden auf, hauchten über ihre Haut und waren hinweg geweht. Vor einem besonders hohen Korallenstrauch fasste sie einen Entschluss. Sie streifte ihr Kleid über den Kopf und hängte es an den höchsten Ast, den sie erreichen konnte. Drum herum drapierte sie ihre Unterwäsche und ihre Strümpfe. Sie trat einen Schritt zurück, um ihr Werk in seiner Gesamtheit auf sich wirken zu lassen. Ein glucksendes Lachen stieg in ihr auf, kullerte durch ihre Kehle und brach aus ihr heraus. Koboldslachen, Schabernackslachen.

Der Wind strich mit tausend sachten Fingern über ihre Haut und der Blütenschwarm hüllte sie einen Moment lang ein wie eine Wolke aus kitzelnd seidigen Schmetterlingsflügeln, die süße Tropfen auf ihrer Haut hinterließen. Die Fächer berührten sie mit ihrem samtigen Silberflaum. Sie tauchte ein in Wärme und Licht und Farben und Düfte.

Die Luft trug ihren Körper wie Wasser. Ihre Füße wirbelten gelben glitzernden Staub auf, während sie sie schwerelos durch immer neue Wunder trugen, bis sie sich mit einem letzten Sprung ganz davontragen ließ von der düfteschweren Luft. Sie sank in den trockenen rieselnden Glimmer. Der Himmel wölbte sich über sie so grenzenlos, daß sie glaubte, hinein fallen zu müssen.

Als sie hinauf sah, erkannte sie, daß all diese Farben schon immer in ihr waren. Hinter den Farben entdeckte sie eine Freiheit, die ihr niemand mehr nehmen konnte. Ihre Haut kribbelte unter der Süße, die die fliegenden Blüten auf ihr hinterlassen hatte. Auch diese Süße fand sie in sich in der niemals vergessenen Sehnsucht und die Freiheit barst aus ihr heraus.

 

Die wogenden Hügel und die Farben und da in der Ferne das Meer! Und der Himmel und der tanzende Wind.

 

 

Auf Station III wurde um 14:13 Planeten-Zeit die Mitarbeiterin Silene Morag vermisst. Es war anzunehmen, daß sie in einem Anfall geistiger Verwirrung das hermetische Stationsgebäude ohne Schutzanzug verlassen hatte. Die Wahrscheinlichkeit dieser Annahme wurde durch die Aussagen des psychologischen Betreuers der Station unterstützt.

Man schickte Suchtruppen aus.

Auf einem niedrigen Hügel nahe der Station fand man, in großem Abstand von einander, ihre Schuhe. Ca. 500 Meter weiter waren ihre Kleider über die Äste eines großen Strauchs der Gattung Nr. A 405 gehängt.

Dies blieben für eine Weile die einzigen Spuren.

Bis die Suchgruppe Nr. 2 nach einigen Kilometern auf einem der höchsten Hügel der Umgebung etwas entdeckte. Es war ein merkwürdiges, trocken-runzliges Ding – ungefähr wie eine Larvenhaut, nur daß ihm etwas entfernt menschenähnliches anhaftete.

Man wollte soeben beginnen, über den seltsamen Fund zu diskutieren, als der überraschte Schrei eines Suchmitglieds alle aufschreckte.

„Seht nur!“

Hoch über ihnen schwebte ein riesiger, leuchtendbunter Schmetterling.

Impressum

Texte: Elvira Stecher
Bildmaterialien: Thomas Lubinski
Tag der Veröffentlichung: 02.01.2015

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