Blue flog durch die Stadt.
Nicht wirklich. Sie benutzte die Spiderman-Methode. Nicht ganz brandneue Eden-Technologie.
Auswerfen – anziehen, auswerfen – anziehen.
Schwingen, schwingen, schwingen.
Sie konnte das besser als irgendeiner aus den Bat-Teams. Würden die glatt leugnen, wenn die sie jetzt sehen könnten. Nein, das konnte doch nicht die sein, nicht Blue!
Ha! Blue, die siegreiche Diebin.
Nächstes Dach! Mit weitausgreifenden Armbewegungen ließ sie die Pfeilhaken ausschießen, in Sekundenbruchteilen auf das anvisierte Ziel zu, die Spitze verhakte sich und sie schnurrte am straffen Seil vorwärts, rasend schnell wie ein Drachen am Seil, rechts, links, rechts, links, sie flog über die Dächer. Tarzan war ein lahmer Affe!
Eden hatte die Methode aufgegeben, nachdem der eine oder andere Superheld böse wo gegen geknallt war. Jaja, die Superhelden. Vermisste wohl keiner, die Spielsachen, die sie ein bißchen aufgepeppt hatte.
Auswerfen - anziehen. Mit den Beinen stieß sie sich da und dort ab, balancierte ihre Flugbahn aus. Dafür taugte selbst ihr steifes Bein.
Die arme kleine Blue. Wer so pfauenblaue Haare hatte, musste doch sicher etwas Besonderes sein, schließlich verrieten sich in solchen Auffälligkeiten gewöhnlich die Superkräfte!
Hatten die Tester von Eden gedacht. Schön war es auf der Akademie gewesen. Genug zu essen, unverdorbenes Essen. Leckeres Essen. All diese Dinge, die man lernen konnte. Blue liebte Lernen. Auch wenn sie es nicht zeigte. Auch wenn sie überhaupt nicht gerne zeigte, was sie wusste.
Und wenn sich deine Superkräfte zeigen, kleine Blue,dann ist es so weit, dann bekommst du so ein teures Genetic Forming, zahlen wir dir als Vorschuss, zwei gesunde Beine.
Was für Superkräfte? Daß sie gut mit Pflanzen konnte, interessierte keinen. Wozu hatte Eden seine Saat- Jäte- Dünge-Spritz- und Ernte-Allroundmaschinen? Und seine preisgekrönten Gartenarchitekten für das grüne Herz New Edens, das niemand je sah, der nicht im ersten Bezirk lebte?
Tja, kleine Blue, jetzt haben wir so viel investiert, das musst du abarbeiten, das siehst du doch sicher ein? Welchen der schönen Fließbandjobs möchtest du denn? Schau nur, wie zuvorkommend. Wir bieten sie dir sogar an.
Blue, Blue, die fliegende Diebin. Hoch über den Dächern der Stadt. Schneeflocken umwirbelten sie. Schnell war sie, superschnell. Weit hinter ihr glitzerte der zweite Bezirk. Der Himmel über ihr war hell im Widerschein der Stadt. Sie flog über dunkle Straßenschluchten. Hier ging der vierte Bezirk schon fast in den fünften über, auch wenn ihn keiner der Offiziellen so nannte. Die Backsteinfassaden bröckelten, nur hinter vereinzelten Fenstern war Licht – oder drang durch die Ritzen der Lamellen von Stahlrolläden.
Ihre Arme begannen zu schmerzen. Jetzt war sie fast am anderen Ende der Stadt, das müsste reichen. Wie hatte sie sich nur erwischen lassen können!
Pfui, Blue, wie eine blutige Anfängerin!
Aber die Gewächshäuser der Eden Company waren an sich ein so unkompliziertes Ziel. Da war sie unvorsichtig geworden.
Die nassen Schneeflocken klatschten ihr entgegen. Jaja, sie war ja bald da. Sie konnte den Widerschein der Mülltonnenfeuer bereits flackern sehen. Aber als sie aufatmend auf dem Dach landete, den Blick vorsichtig zurück gerichtet, da sah sie sie. Die Bewegung zwischen den alten Schornsteinen, schattenhaft, schnell.
Die hatten doch nicht etwa ein Bat-Team hinter ihr her geschickt? Wegen einer simplen Tüte Samen?!
Scheiße – das war tatsächlich einer von denen, auf einem schicken Superheldenschwebegleiter!
New Edens ureigenste Technologie, New Edens beste Erfindung, nur schade, daß sie so teuer war, daß sie nur für Frachtschiffe taugte. Und für Spielzeuge für Superhelden und Superreiche.
Könnte sogar einer von Blues alten Klassenkameraden sein, den erfolgreichen, den ERWÄHLTEN.
Scheiße, der durfte sie nicht sehen!
Hatte sie schon gesehen.
Jetzt gab es nur eins: abseilen, entseilen, untertauchen. Was ist? Was willst du von mir? Ich bin nur ein Straßenkid!
Blue kippte über die Dachkante. Im Fallen griff sie in ihre Tasche, es ratschte, in der Eile riss die Tüte auf und die spontan geklauten Samen verteilten sich in den nassen Schnee, dem es hier, weitab vom wärmeren Inneren der Stadt gelang, die schmutzigen Hinterhöfe zu verhüllen. Verdammte Verschwendung, aber wenigstens war sie ihr Diebesgut los.
Sie kam mit den Füßen auf dem Boden auf, die bröckelnde kalte Wand im Rücken, als die Superhelden-Silhouette über der Dachkante auftauchte. Die Gestalt vor dem beschienenen Himmel hob den Arm und dann wurde es taghell.
Jemand fasste ihre Hand. Selbst durch ihre Spezialhandschuhe hindurch konnte sie fühlen, daß diese Hand warm und weich war. Sie blinzelte. Es war nicht mehr taghell, es war das zögernde graue Morgenlicht, das den Hinterhof füllte. Niemand stand über der Dachkante. Die warme Hand ließ sie los.
Blue wandte sich um und blickte in das freundliche Gesicht einer hübschen, rundlichen Frau. Ganz golden und blau war sie. Braungoldenes Haar und braungoldene Augen mit grünen Tupfen. Ein Kleid, so blau wie der Sommerhimmel in einem alten Film. Es war kein Winterkleid. Ein hellgoldener Schein umgab die Frau, gerade so, als stünde sie in einem Sonnenstrahl, obwohl weit und breit kein Sonnenfitzelchen zu sehen war. Nur das Morgengrau über dem Backstein.
Dann nahm Blue aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Grüne Triebe schoben sich aus dem schmutzigen Schnee, rankten die rissigen Backsteinmauern hinauf und entrollten große, dunkelgrüne Blätter. Grüne Schlingen wickelten sich um ihre Knöchel, sogen an ihr.
Blue ließ sich hinab sinken und wurde zur Pflanze.
Texte: Elvira Stecher
Bildmaterialien: Cover: Annika S.
Tag der Veröffentlichung: 30.12.2014
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