Cover

Ein schlechter Start

Clarissa kam gerade aus dem Trainingsraum, als der Alarm losging.

Natürlich, das musste ja jetzt sein. Was das nun sein mochte - ob sich im dritten Bezirk ein paar Jungs nach dem vierten Glühwein um den fünften kloppten?

Der Tag war so friedlich verlaufen. Zu friedlich für ihren Geschmack. Der Himmel hüllte das schwarze Gotham – pardon, die gelobte Stadt New Eden in einen grauweißen Flockenmantel. Die Elite der Garden - ja die Bat-Teams - machte gerade unten am Hafen der chinesischen Mafia klar, daß sie gar nicht erst dran denken sollte, ihre Tentakel nach der Stadt des Batman auszustrecken. Die hatten da garantiert jede Menge Spaß und würde mit geröteten Wangen zurück geflitzt kommen ins Hauptquartier.

Natürlich musste irgendjemand Bereitschaft haben, auch wenn sonst nix los war im vorweihnachtlichen New Eden. Und natürlich war Petterson, ihr Teamchef, der Ansicht, daß New Edens Whamm-Girl dabei nicht einfach mit einem dicken Kakao vor der VV rumlungern sollte. Ein Whamm-Girl wurde schließlich nicht moppelig und ab gings in den Trainingsraum.

Aber vielleicht danach?

Und – klar doch, statt „heiße Schokolade“ hieß es für sie jetzt „rein in das Superheldinnen-Outfit und rauf auf den Gleiter“!

 

Mann, war das kalt heute! Die dicken Flocken raubten ihr fast die Sicht, doch ihre VV wies ihr den Weg über die weißgoldenen Kuppeln des ersten Bezirks in den Wall aus Hochhäusern, die Edens goldene Mitte wie spitze schwarzglänzende Kristalle umfassten. Holla – der Einsatz war im zweiten? Unten am Paradise Port – dem exklusivsten Platz in der exklusivsten Einkaufsmeile und darob mit den exklusivsten elektronischen Wachsystemen ausgestattet! Ein ungutes Gefühl beschlich sie, während sie in den Sinkflug ging. Vielleicht lag es auch daran, daß dieser verflixte Anzug irgendwie nicht so recht wärmte. Dafür wehte das supergirlblaue Cape so schön hinter ihr her. Unsere Fahne flattert im Wind ... Drunten scharten sich bereits Einsatzfahrzeuge wie aufgeregte Küken um eine zusammengebrochene Glucke. Verwundert erkannte sie diesen albernen Disneyland-Pavillon der Eden Flower Corp. Was mochte im Hort der teuersten pflanzlichen Produkte der Eden Gesellschaft passiert sein? War die Espressomaschine im Pseudoparadisgärtchen-Café explodiert? Der gußeiserne Bau war dunkel, die Stahlrolläden herunter gefahren. New Edens Juwel vergangener Architektur hatte sein geschäftsmäßiges Leuchten verloren und hockte da als mißmutige Kröte. Der Einsatzleiter empfing sie nicht weniger mißmutig, als sei sie schuld an dem Schlamassel. Was konnte sie dafür, daß die Cops näher am Einsatzort stationiert gewesen waren als sie. So viel länger hatte sie auch wieder nicht gebraucht. Und wozu brauchten die eigentlich eine Superheldin? Um die Rolläden hochzustemmen hätte es auch ein Techniker getan. Aber darüber verfügten New Edens Garden ja nicht.

Im Inneren fanden sie nichts weiter als zwei flennende Frauen vor, obwohl, besorgniserregend waren diese ganzen Scherben irgendwie schon. Als seien die gesamten Fensterscheiben rausgeknallt, bzw. reingeknallt – und New Edens kleines grünes Juwel bestand fast nur aus Fensterflächen.

Und dann bewahrheitete sich Clarissas dumpfes Bauchgefühl. Offenbar war hier jemand entführt worden, nein, nicht irgendjemand, New Edens oberstes Aushängeschild, sein Wahrzeichen, dieser blöde Angeber, der Batman.

Mißerfolge

Clarissa war müde.

Was für ein gräßlicher Tag. Erst das Fiasko mit dem Batman und dann sollte sie auch noch einem Pflanzendieb hinterher jagen. Wegen einem Samentütchen. Sonst noch was? Wenn das embryonale Gemüse so wichtig war, warum lagerte es dann nicht im Speziallabor? Geklaut aus einem ganz normalen Eden Gewächshaus, in das jeder Straßendödel eindringen konnte, wenn er zweimal unauffällig um die Ecke schlenderte - hallo?

Oder ging es gar nicht um das Diebesgut, sondern eher um den Dieb? Dieser Jemand war über die Dächer geflogen. Dieser Jemand verfügte offensichtlich über nicht ganz gewöhnliche Fähigkeiten. Ein neuer Superschurke?

Aber wozu klaute ein Superschurke Samentütchen?

Ein neues Supermarihuana, das allein mit seinen Ausdünstungen die gesamte Stadt high machte?

Haha.

Und jetzt hatte sie auch noch die Spur verloren.

Hier war niemand, nichts und niemand, da konnte sie noch so die schmuddeligen Ecken ausleuchten mit ihrem super Leuchtstrahl. Dabei hatte sie doch gesehen, wie der fliegende Schatten hier gelandet war. Oder etwa nicht? Vielleicht konnte sich der Kerl ja unsichtbar machen. Aber warum hatte er das dann nicht schon vorher getan?

Hier war nur sie, in ihrem superdünnen Superheldenanzug dessen supertolles Superheldenanzugsheizstystem mal wieder ausgefallen war, und fror an. Irgendwo da unten verkokelten irgendwelche Outlaws irgendwelchen Müll und soffen. Und im ersten Bezirk waren die anderen wahrscheinlich längst von ihrem Einsatz im vierten Bezirk zurück und begossen die Aktion, die die hiesigen Bosse mal wieder mal dastehen ließ wie die begossenen Pudel.

Pflichtschuldig glitt sie hinab in die Gasse, dessen Dunkelheit der flackernde Lichtschein mehr betonte denn vertrieb und checkte die Kids drumrum, die sie mürrisch anstarrten. Etwas mehr Enthusiasmus angesichts ihrer Superheldinnenerscheinung hatte sie ja schon erwartet. Hej, sie war die honigblonde Clarissa mit den megamäßigen psychokinetischen Kräften und dem geilen Ganzkörpersuit ohne funktionierenden Kälteschutz. Könnt ihr denn nicht meine prickelnde Gänsehaut sehen?

Dann eben nicht.

Genaugenommen sahen die Youngsters hier nicht nur verwahrlost, sondern auch verfroren und halb verhungert aus. Und eigentlich sah nur dieses feindselig glotzende Metallface einigermaßen menschlich aus. Und das bei all den Piercings. Gütiger Himmel - war das etwa ein Mädchen? Die Gestalten dagegen, die da im Feuerschein hinter ihr herumlungerten …

Dem da wuchs ein Bart im ganzen Gesicht und daneben - das waren Freaks. Am Ende gar wilde Talente. Das plötzliche Frösteln, das sie überkam, hatte nichts mit ihrem defekten Heizsystem zu tun. Das Feuer in der Mülltonne strahlte nämlich eine beachtliche Hitze aus. Hier stand sie nun, teamlos in einer fremden Welt, zehn Flugminuten von ihrem Teil der Stadt entfernt. Und fliegen konnte sie nur, weil sie einen Gleiter hatte. Noch. Alles nur wegen einem blöden Samendieb.

Die Kids blieben reglos und New Edens Whamm-Girl schwang sich ungehindert auf ihr Windsurfbrett.

Dieses rosa Ding hinter der Feuertonne, war das wirklich menschlich gewesen?

 

Clarissa war erleichtert, als sie schließlich in ihrem Apartment anlangte. Auch wenn das ganze Grünzeug sie nervte - es hatte schon etwas für sich, im ersten Bezirk zu wohnen. Dabei war das Bat-Team in einem Apartmentblock untergebracht, ganz im Gegensatz zum Batman in seiner Villa, diesem arroganten Arschloch. Es waren schließlich die Bat-Teams, die die ganze Arbeit machten. Er repräsentierte nur, toll.

Wo er jetzt steckte? Und was wohl dahinter steckte? Oder eher – wer?

Oder war er einfach nur abgehauen und hatte findig sein Verschwinden inszeniert?

Aber wozu denn, schließlich hatte der Batman das As gezogen!

Jetzt endlich ein wärmendes Bad und dann -

„Clarissa, Süße,“ säuselte ihre Vision Wall, „Mrs. Teitelbaum möchte dich sprechen!“

 

Ein unabwendbarer Auftrag

„Clarissa,“ zwitscherte die Vision Wall hinter der beschlagenen Wand ihrer Duschkabine, „Clarissa, Mrs. Teitelbaum möchte dich so schnell wie möglich sprechen! Persönlich.“

Warmes Wasser rieselte sanft auf sie herab und schmolz die Kälte von ihrer Haut. Sie hatte es gewagt, sich zu widersetzen.

Clarissa schob die Duschkabinentür einen winzigen Spalt zur Seite: „Ich muss mich erst angemessen kleiden!“, brüllte sie hinaus.

Sie drehte den Wasserstrahl auf, bis immer heißeres Wasser auf sie herab prasselte wie ein Tropensturm und die Kälte auch aus ihren Knochen kochte. Bis auf diesen kleinen kalten Klumpen in ihr, der einfach nicht schmelzen wollte. Das Prasseln übertönte selbst das Zwitschern der Vision Wall, trotzdem glaubte sie, es noch immer zu hören. Und noch. Und noch und noch und noch.

Es presste gegen ihre Stirn, aber dieser Druck kam von der Wand der Duschkabine gegen ihre Stirn. Sie hatte sich erlaubt, ihre Stirn dagegen zu lehnen. Nein, sie hatte es sich nicht erlaubt, es war ihr unterlaufen. Das Wasser lief über ihre Augen, sie würden brennen, wenn sie zu lange in der Kabine blieb. Sie musste zu Mrs. Teitelbaum.

 

Sie wählte einen flauschigen weißen Rollkragenpulli über einer tiefblauen Wollhose, Angorasocken in gefütterten weißen Stiefeln und seufzte erleichtert. Sie legte ihr Kettchen mit dem schmalen goldenen Kreuz um. Sie berührte es leicht mit den Fingerspitzen, dünnes helles Gold auf dem flauschigen Weiß, seltsam tröstlich, wie in dem Moment, als ihre Mutter es ihr umgehängt hatte. „Ich werde immer bei dir sein.“

Ihre Mutter war an Krebs gestorben, das Privileg derer im dritten Bezirk. Vom vierten ganz zu schweigen. Im zweiten Bezirk starb niemand an Krebs oder einer anderen diagnostizierten Krankheit und im ersten Bezirk starb niemand, der unter hundertzwanzig war, sofern ihn nicht ein unerwartetes Mißgeschick ereilte oder er doch eine zu hohe Dosis von Schicki-Micki-Irgendwas einpfiff.

Wenn sie damals schon eine Superheldin gewesen wäre …

Heute würde sie das Kreuz offen tragen. Na und?

Mrs. Teitelbaum wohnte in einem dieser – Paläste in diesen Privatparks, die so groß waren, daß man sich vorkam wie auf einem anderen Planeten. Nur daß der der Teitelbaums noch größer war, sowohl Park als auch Palast und dazu noch ein sogenannter Hausgarten, größer als drei Häuser, pardon, Paläste zusammen. Vorne englischer Landschaftspark, hinten Hausgarten. Mehr wollte Clarissa auch nicht über die Gartenarchitektur wissen, von der die Damen des ersten Bezirks so schwärmten und ohne Mrs. Teitelbaums Lieblingsgeschwafel wäre sie auch davon verschont geblieben.

Sie näherte sich besagtem Palast mit seinen hoch aufragenden Türmchen auf ihrem Schwebegleiter, das wurde von ihr erwartet und die Sicherheits-Cams hatten sie schon längst identifiziert. Wenigstens trug sie jetzt einen funktionierenden Mantel, den ihr der Butler abnahm. Ein menschlicher Butler wohlgemerkt, kein Serve-Rob.

Mrs. Teitelbaum empfing sie im kleinen Salon.

Clarissa dünkte dieser Raum keinesfalls klein. Aber wenn man einen Blick durch die halb geöffnete Tür in den anderen Salon warf, dann war dieser schon recht schnucklig.

Im großen Salon war alles Silber und grün und verspiegelt: dicke silbergerahmte Spiegel an seidenbezogenen Wänden mit gestickten Rankpflanzen. Emsige Bedienstete trugen die Reste ab von silbernen Tischchen, silberne Teekannen und silbergefasste gläserne Tässchen und krümelnde Törtchen und verbliebene Schnittchen von silberfiligranen Etageren zwischen riesigen Topfpflanzen. Mrs. Teitelbaums Nachmittagstees waren berühmt ob ihrer Üppigkeit an gereichten Häppchen und Prominenz. Clarissa lief das Wasser im Munde zusammen. Hoffentlich tat ihr Magen nicht laut seinen Unmut über die ausbleibende Abendmahlzeit kund.

Im kleinen Salon knisterte ein Feuer im Kamin. Kaminfeuer war Clarissa an sich vertraut, sie hatte selbst eines, aber daß unter den Flammen Holzscheite lagen und ein leichter Geruch davon ausging, das war – das Feuer war echt!

Außer dem Personal und der Hausherrin war nur eine weitere Person anwesend. Eine junge Frau saß auf einem Hocker vor dem Feuer. Platinblondes Haar lag in sorgfältig ondulierten Locken eng um ein Engelsgesicht mit kirschrotem Schmollmund und großen, veilchenblauen Augen. Das war Rose, die Großnichte und Erbin Mrs. Teitelbaums.

Mrs. Teitelbaum thronte in einem Sessel, der so groß war, daß sie darin noch winziger wirkte. Mrs. Teitelbaum war alt, wie alt, darüber sprach niemand. Wenn sie es gewollt hätte, hätte Clarissa es herausfinden können, indem sie die Ausgaben des New Eden Chronicle des letzten oder gar vorletzten Jahrhunderts durchforstet hätte, bis sie auf ihre Geburtsanzeige stieß … Aber wozu, Mrs. Teitelbaum war so alt, daß man es ihr ansah.

Natürlich hatte sie kaum Falten, natürlich saß die Haut nicht allzu locker auf den feinen Knochen, aber sie hatte diese unnatürliche durchscheinende Blässe eines letztmöglichen Genetic Formings. Und wenn man ganz genau hinsah, sah man die winzigen zarten Fältchen unter dem edlen Make Up. Sie war in Spitze gehüllt wie ein Sofapüppchen, weiße Spitze und Perlenketten. Ihr silbriges Haar schimmert heute in einem leichten Violettstich. Eine aktuelle Tönung vielleicht oder auch nur der Widerschein all der Violettöne des kleinen Salons mit seinen dicken Teppichen und den geblümten Polstersesseln. Mrs. Teitelbaum war eine der wenigen alten Damen, die es wagten, ihr Haar weiß zu tragen. Genauer gesagt: erst seit sie das tat, wagten es noch einige wenige andere. Hatte man ihr zugeflüstert.

„Meine Liebe Clarissa - sie kommen gerade von einem Einsatz?“, richtete die alte Dame nun das Wort an sie.

Ein Bediensteter stellte ein silbernes Kännchen mit passendem Tässchen und einen Porzellanteller neben sie. Clarissa identifizierte Beerentarteletts und Gurken- und Lachs-Sandwiches. Der Butler goss Tee in das silberverschnörkelte Glastässchen.

„Oh, wie aufmerksam!“, entzückte sich Clarissa. Ein angesichts der Köstlichkeiten zugegebenermaßen geringerer Teil ihres Entzückens rührte daher, daß die willkommene Offerte sie einer allzu genauen Ausführung über den Ausgang ihrer heutigen Einsätze enthob.

„Eine Stärkung haben sie jetzt sicher nötig!“, nickte ihr Gegenüber ihr huldvoll zu.

„Mein Anzug war defekt – das Heizungssystem.“, hörte Clarissa sich zu ihrem Entsetzen sagen. Die Behaglichkeit des Salons hüllte sie ein, ihr wurde bereits recht warm in ihrem Kashmir und Angora.

„Ach Kindchen, wie schrecklich!“, entsetzte sich Mrs. Teitelbaum. „George, bringen sie der jungen Dame einen Grog.“

„Ich habe mich kurz unter die Dusche gestellt“, nuschelte Clarissa zwischen zwei Bissen und fühlte, wie ihre Wangen erglühten. Seit wann plapperte sie eigentlich einfach so ihre Gefühle heraus?

Seit gerade eben.

Mrs. Teitelbaum lächelte sie liebevoll an. Sie war die reizendste alte Dame, die man sich nur denken konnte.

„Man sagte mir, sie seien die begabteste Spürerin der Bat-Teams“, fuhr Mrs. Teitelbaum fort.

Clarissa trank einen großen Schluck Tee. Fast hätte sie sich an ihrem Lachs-Häppchen verschluckt. Upps, das Tässchen war ja schon leer.

„Es ist keine Superkraft“, sagte sie schnell. „Und es gelingt auch nicht immer.“, betonte sie und dachte peinlich berührt an die Verfolgung des Samendiebs.

Mrs. Teitelbaum ließ sich eine Tasse Tee reichen. Ihre Hände waren ein weiteres Detail, an dem man ihr Alter ablesen konnte. Gewiss, sie hatte zierliche Hände, anmutige Fingerknöchelchen, die mit dünner Haut überzogen waren. Kleine Skeletthändchen die elegant das Tässchen balancierten.

„Man sagt allerdings, es grenze an Magie, wie sie Spuren auffinden können, Clarissa.“ Mrs. Teitelbaums funkelnde blaue Augen waren das einzige an ihr, das wirklich und wahrhaftig jung wirkte, zeitlos wie Saphire. Und das einzige, das nicht zart und weich war.

„Ich hatte eine gute Schulung meiner Aufmerksamkeit während meiner Ausbildung“, parierte Clarissa. Nur nicht zu den Psychos, nein, nein, nein, sie war keine von den Psychos. Sie würde bei den Einsatz-Teams bleiben, den Erst-Einsatz-Teams und um sich schlagen.

Der Butler schenkte Tee nach und Clarissa griff nach den Tartelettes.

Mrs. Teitelbaum beugte sich vor. „Meine Liebe, helfen sie mir. Clarissa, bitte finden sie den Batman!“

„Oh bitte,“ ertönte jetzt eine helle Stimme vom Kaminfeuer her. Zwei veilchenblaue Augen richteten sich auf sie, so blank wie Teiche, die den Himmel spiegeln. „Bringen sie uns unseren Sonnenstrahl zurück!“

Die Süße des Tartelettes füllte ihren Mund. Zwei blaue Augenpaare waren auf sie gerichtet.

„Tun sie es nicht für uns beide, für Rose oder mich.“ Mrs. Teitelbaum hielt ihren Blick fest. „Tun sie es für uns alle.“

Clarissa schluckte die süßen Krümel und trank den letzten Schluck Tee aus ihrer Tasse.

Sie wandte sich den funkelnden Saphiren zu. „Ich brauche etwas aus seinem Besitz, etwas Persönliches wie ein Schmuckstück oder ...“

„Einen Kamm?“, bot die schimmernd schöne Rose an.

Eine Kapitulation

Ich fasse es nicht, dachte Clarissa, während sie auf den eleganten, silbern ziselierten Kamm starrte. Damit meinte sie weniger dieses affektierte Accessoire männlicher Eitelkeit. Weshalb hatte der Anblick sie eigentlich im ersten Moment so verwundert? Passte doch zu diesem Schönling mit seiner maßgeschneiderten Fresse.

Sie konnte es nicht fassen, daß sie sich hatte breit schlagen lassen.

Und was sie alles gelabert hatte, da in dem lila geblümten Postersesselchen, eingelullt von echter Kaminfeuerwärme und edelsten Koolong Sapchong oder was auch immer an First Class Tee serviert wurde in diesem – Palast.

Der kleine Klumpen Kälte in ihrem Inneren hatte sich in einen kleinen, stickig heißen Klumpen Wut verwandelt. Als wäre sie ein Hampelmännchen bei dem man einfach an der Strippe zog.

Hampel, hampel.

Und diese Häppchen hatten ihren Hunger auch noch erst recht angestachelt. Jetzt würde es ihr nicht mehr reichen, etwas kommen zu lassen, nicht mal per Express. Jetzt würde sie etwas in die Mikrowelle hauen, basta.

Sie war so hungrig, daß sie die gebratenen Nudeln mit Bambusente an ihrem Klapptischchen in sich hinein schaufelte, an dem sie ihre schnellen Mahlzeiten verzehrte – und das waren eigentlich die meisten ihrer Mahlzeiten. Der Kamm lag vor ihr. Eigentlich nicht gerade der appetitlichste Begleiter zu einem Essen, aber was solls. Da hingen sogar noch ein paar schwarze Haare dran. Batman-Haare.

Tja, wie die schöne Rose wohl zu einem Kamm von Bruce Wayne kam? Aus der Hosentasche würde sie ihn ihm ja nicht gerade geklaut haben. Lag wohl auf dem Zahnputzbord in ihrem eleganten Badezimmer. Tja. Daß man es mit einem Kamm einer anderen Frau auch unter die Nase schmieren konnte …

Apropos Schmiere – Clarissa schnupperte vorsichtig an den schwarzglänzenden Zinken.

Pomadig. Irgendwie – aufdringlich.

Roch so der Batman? Sie konnte sich nicht recht erinnern. War ihm wohl nie nah genug gekommen. Obwohl, vor ihr gestanden hatte er ja schon bei dem einen oder anderen Presseempfang. Und ähnlichem.

Tjaja, die schöne Rose.

Wieso ärgerte sie das eigentlich so?

Die goldene Rose mit ihrem Werbegesicht für das perfekteste Genetic Design, ihrem Schmollmündchen und ihren Smoky Eyes, so groß, so blau so schmacht. Genau, diese Stummfilmlocken, die sie um ihr Engelsgesichtchen geklebt hatte. War wieder schwer in bei den Schwerreichen, das 19. Jahrhundert. Oder war es doch schon das 20. gewesen? Egal. Jedenfalls hatte ihr Kleid dem selben Stil entsprochen. Golden schimmernd, gewiss doch, fließendes Gold, das ihr nicht ganz so engelhaft sündenverlockende Figur umhüllte.

Daß ihr das erst jetzt auffiel. Dort – hatte sie immer nur auf Mrs. Teitelbaum gestarrt. Die kleine verhutzelte Mrs. Teitelbaum, die hinter all ihren Spitzen und Perlen und den Schminkkünsten der besten Visagistin New Edens doch nichts anderes als einen kleinen geschrumpften Greisinnenkörper und ein geschrumpftes Greisinnengesichtchen aufzuweisen hatte. Mit der Pergamenthaut nach dem allerletztmöglichen Genetic Forming. Als habe sie einen 1000-Watt-Strahler installiert. Wenn sie im Raum war, nahm man vor allem sie war. Sie erschien einem noch immer – bemerkenswert.

Daß Rose so schön war wie Mrs Teitelbaum zu ihrer Zeit, hieß es immer – aber eigentlich, da waren sich alle einig, musste Mrs. Teitelbaum noch viel, viel schöner gewesen sein.

So, jetzt noch einen doppelten Espresso und dann …

Was hatte sie sich eigentlich vorgestellt? Einen Siegelring mit Batzeichen?

Peinlicherweise irgendwie schon. Sie mit dem Siegelring des Batman in ihrer Hand, ihre Finger in seinem Innenleben.

Schande, Clarissa, du hast für immer die Finger davon lassen wollen. Hat es dich nicht immer letztendlich angeekelt?

Auch. Das war wie nach einem Cocktail zu viel. Eigentlich mochte sie auch keinen Alkohol.

Aber in diesem Fall ...

Vielleicht würde es auch klappen, wenn sie sich nur auf das konzentrierte, was von diesem Designerhaarrechen ausstrahlte? Was solls. Clarissa griff mit spitzen Fingern nach dem schwarzglänzenden Protzding.

Ihr wurde ein wenig übel. Aber das war doch genau das, was sie erwartete hatte. Die Selbstgefälligkeit, diese selbstgerechte Selbstgefälligkeit. Diese Gier. Und dahinter – Erbärmlichkeit, verhohlene Angst und – alte Wut, die längst erkaltet war zu schleichendem Gift.

Eigentlich sollte sie Genugtuung empfinden.

Konzentrier dich, Clarissa. Konzentrier dich auf das, was der Besitzer dieses Kamms sieht.

Wo ist er gerade?

Enttäuschung

Die langen, geschmeidigen Finger griffen nach dem Kamm.

Die schwarzledernen Hosen saßen stramm, die Absätze unter den spitzen Stiefeln verliehen einige Zentimeter mehr Größe.

Ja, sie fürchteten ihn. Zu Recht.

Dieses prickelnde Gefühl der Macht und Stärke.

Den versteckten eisigen Kern, der dieses Gefühl befeuerte, den spürte er nicht, nicht wirklich, nicht bewusst. Aber Clarissa erkannte ihn, den winzigen eisigen Kern der Angst, Angst zu klein zu sein, nicht schnell genug zu sein, nicht stark genug zu sein, Angst zu schwach zu sein.

 

Die Macht war Speed für ihn. Da brauchte er keinen Koks. Der war für die anderen.

Yeah, Baby, ich bin cool. Ein Miami Ice Cube Drink – und genauso unwiderstehlich.

Ja, zeigs mir, Baby, du weiche, feuchte -

Nein, das wollte sie nun wirklich nicht mitverfolgen. Außerdem war dies nicht die Gegenwart.

Sie brauchte die Gegenwart – es war eine Erinnerung, in der er schwelgte.

Tatsächlich glitten Bilder vorbei. Backsteinfassaden. Flammen in alten Mülltonnen. Das waren die Straßen des vierten Bezirks. Er saß in einem dahingleitenden Wagen, auf dem Beifahrersitz und schaute durch getönte Scheiben. Gepanzerte Scheiben. Sie passierten vergitterte Tore, der Wagen hielt, es ging durch Türen und Gänge, vorbei an Typen mit breiten Schultern in langen Ledermänteln, die sich genauso cool gaben wie er. Langsam drangen auch Stimme zu ihr durch.

„Nein, keine Ahnung, was der Alte will.“

„Was, ich dachte, es ist alles im grünen Bereich? Unsere Leukozyten haben die Viren vertrieben?“

Jja, die braven Fledermäuschen!“ Der andere lachte. Er lachte mit ihm, obwohl er ihn hasste. Diesen großen Prahlhans, der es bis in den innersten Kern geschafft hatte. Dieser Schönling mit seinen Tätowierungen.

Der war tatsächlich attraktiv. Groß, breitschultrig, die dichte braune Mähne mit einer Spange im Nacken gebändigt, der Haaransatz spitz, strichgerade dunkle Brauen über den kalten Augen, ein glattes Gesicht, ein starkes Gesicht und dazu ein muskulöser Körper, genau der Typ, bei dem ein Mädchen weiche Knie bekam.

Clarissa, konzentrier dich, das hier ist der Feind.

Eben deswegen.

Eine weitere Tür, flankiert von Bodybuildern mit ausgebeulten Jacken, wurde geöffnet. Stimmen wurden laut.

Clarissa spürte, wie der Mann sich anspannte. Er war hier.

 

Er war nicht allzugroß, schmal. Und geschmeidig - er, den der Blick des Mannes erfasste. Für einen Moment nur, der Mann gab sich unbeteiligt.

Sonderbar grausilbernes Haar um ein Gesicht unbestimmten Alters mit schrägen eisblauen Augen, Husky-Augen in einem Wolfsgesicht. Er war unverkennbar.

Fast hätte Clarissa ihre Konzentration verloren.

„Und was für einen Grund sollte ich haben, den Herrschaften ihr Aushängeschild zu entwenden?“, sagte die sonore Stimme des älteren Mannes im Clubsessel. Wuchtige Statur, Hakennase, Halbglatze. Auch ihn kannte sie.

„ Immerhin haben wir dir die Chinesen vom Hals geschafft.“

„Die Chinesen?!“, ein sonderbares Lachen, „Tatsächlich?“ Ein langer Blick, der Mann im Sessel grinste süffisant.

Die Husky-Augen blinkten, eine winzige Regung. „Ich habe dich nur gebeten, die Augen offen zu halten.“

„Wir halten uns an unsere Abmachungen. Genau wie ihr.“

Der andere seufzte und ließ zum ersten mal so etwas wie eine Regung erkennen – Überdruß? „Vater, ich bitte dich, du weißt genau, daß du nur Vorteile davon hast.“

Jetzt wandte sich der Mann im Sessel an die Eintretenden. „Na Jungs – nun ratet mal? Wir sollen den Herrschaften von der anderen Seite der Stadt helfen, ihren Batman wieder zu finden!“

 

Clarissa kauerte an ihrem Küchentisch und umklammerte den schmierigen Kamm, als könne sie es damit festhalten, das, was in ihr gerade Risse bekam und in Stücke brach, ihre fest gefügte Welt, in der sie gelebt hatte, geborgen wie in einem Ei.

Der Sicherheitschef von New Eden nannte Rob McCartney, den Boß von New Edens Unterwelt „Vater“. Was war es nur, das sie ahnen ließ, daß diese Tatsache niemanden, der in New Eden das Sagen hatte, interessieren würde? Vielleicht das „ihr“ und „wir“ in dem Satz mit den Abmachungen?

Clarissa ließ den Kamm los und stütze ihren dröhnenden Kopf in ihre Hände. Sie versuchte den Druck in ihrem Hals hinunter zu schlucken. Er blieb als kratzige Distelwolle hängen.

Verflixt, jetzt hatte sie den Namen des Kammbesitzers noch gar nicht herausbekommen. Aber eines war klar: dieser Kamm gehörte nicht Bruce Wayne.

Durchhaltevermögen

Sie redeten unablässig auf sie ein. Nein, sagte sie. Nein, ich will nicht!

Der Druck in ihrem Hals war noch immer da. Und in ihrem Kopf.

Sie hatte Halsschmerzen, ihr war schrecklich heiß und in ihrem Kopf summte es. Außerdem bekam sie kaum Luft. Sie lag in ihren Kleidern im Bett, wie eine Wurst in ihre Laken gewickelt und fühlte sich elend. Die New Eden Company hatte eine Abmachung mit dem Unterweltboss, den sie angeblich bekämpfte, ihr oberster Chef war dessen Sohnemann, dieses miese Miststück Rose spielte irgendein doppeltes Spiel und sie hatte sich eine fette Erkältung geholt.

Clarissa richtete sich auf und starrte auf die Leuchtschrift ihrer Zeitanzeige. Es war sieben Uhr morgens, draußen kämpfte noch die Nacht siegreich gegen die Dämmerung. Warum wollte sie eigentlich zu Mrs. Teitelbaum rennen wie ein heulendes kleines Mädchen? Was wollte sie denn der alten Potentatin sagen?

„Oma Teitelbaum, hast du auch eine Abmachung mit dem Oberverbrecher der Stadt? Und weißt du eigentlich, daß dein Rosi-Goldstück ein falscher Fuffziger ist? Und daß das mistige Stück mit so einem schmierigen Gangster-Gigolo bumst?“

Sie würde auf keinen Fall das Com-System benutzen. Mrs. Teitelbaum war eine alte Frau, sie war bestimmt schon wach. Clarissa taumelte ins Bad, aber nur um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen. Sie hatte noch ihren Ersatzmantel. Mit intaktem Heizsystem. Und ihren Spezialhelm.

 

Selbst der Butler schien noch zu schlafen. Clarissa wurde von der Köchin ins Frühstückszimmer geführt, einer echten leibhaftigen Köchin – das leistete sich auch nur eine Mrs. Teitelbaum. Die saß hinter einem Frühstücksei im goldenen Eierbecher und starrte Clarissa entgeistert an.

„Kindchen, sie sehen schrecklich aus!“

„Der Kamm,“ stammelte Clarissa und klammerte sich an ihren Helm, trotz ihrer Vermummung war ihr schon wieder schrecklich kalt, „der muss wohl von verschiedenen Personen benutzt worden sein ...“

Mrs. Teitelbaum schaute sie lange an. Sie sah alt aus. „Ich habe noch einen Schal, den er in der Garderobe vergessen hat,“ sagte sie mit schwacher Stimme.

 

Clarissa wusste später kaum mehr, wie sie zurückgekommen war. Diesmal zog sie ihren Schlafanzug an, bevor sie sich ins Bett flüchtete. Gerade, als sie nach dem Schal greifen wollte, schaltete sich ihre Vision Wall ein und ihr Team Chef schaute auf sie herab.

„Clarissa,“ ertönte es, „wo steckst du denn?“

„Ich bin krank!“, krächzte sie geistesgegenwärtig.

Überraschung

Ein Whamm-Girl hatte keine rote Schnupfennase. Ein Whamm-Girl lag nicht mit Fieber im Bett. Ein Whamm-Girl stand allzeit bereit.

 

Was New Edens Whamm-Girl selber davon hielt - interessierte nicht. Doch zum Glück hatte der Medi, zu dem ihr Team-Chef sie beordert hatte, beschieden, daß sie nach der Behandlung zu ruhen habe. Immerhin.

Trotzdem war Clarissa in mehr als nur einer Hinsicht verschnupft. Daß dieser Schal so gut roch – dabei sollte sie kaum etwas riechen, ihre Schleimhäute waren schließlich immer noch angeschwollen.

Blödmann – Batman. Sie konnte in diesem schon etwas abgetragenen Kaschmir einfach nicht den Widerhall des Widerlings entdecken, als den sie den amtierenden Bruce Wayne gerne gesehen hätte. Es fühlte sich eher freundlich an. Und traurig.

Und den Besitzer des Schals konnte sie ebenfalls ertasten, vage zumindest. Irgendwo im Untergrund musste er sein, haha, wie zweideutig. Sie könnte sogar das Geviert des Stadtplans ausmachen, wenn sie sich noch etwas anstrengen würde. So viel zum Thema „Bettruhe“.

 

Impressum

Texte: Elvira Stecher
Bildmaterialien: Annika S. (Cover)
Tag der Veröffentlichung: 29.12.2014

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /